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Der 11. September im nationalen Bewusstsein der USA | 11. September 2001 | bpb.de

11. September 2001 Editorial Internationale Sicherheitspolitik nach dem 11. September Folgen des 11. September 2001 für die deutschen Sicherheitsgesetze Strategien zur Bekämpfung von Terrorakteuren und Aufständischen Das Ende der amerikanischen Supermacht nach "9/11"? Der 11. September im nationalen Bewusstsein der USA Der 11. September als globale Zäsur? Wahrnehmungen aus Lateinamerika, Nahost, Russland und Indonesien Der arabische Frühling und das Ende der "Antithese des 11. September" - Essay

Der 11. September im nationalen Bewusstsein der USA

Marcel Hartwig

/ 15 Minuten zu lesen

"9/11" führte die westliche Welt in den "Globalen Krieg gegen den Terror". Dieser Beitrag untersucht den Stellenwert des 11. September im nationalen Bewusstsein der USA und fragt nach der Funktion der Erinnerung an diesen Tag.

Einleitung

Auch zehn Jahre nach dem 11. September 2001 sind die Folgen der Terroranschläge noch immer spürbar. Dies wird nicht nur am gegenwärtigen Umgang der USA mit der Terrorgefahr deutlich wie etwa im Hinblick auf die Weiterführung von Militärtribunalen statt Zivilgerichten für Terrorverdächtige, das Festhalten an der unbeschränkten Beugehaft in Guantanamo Bay, die fortwährenden Debatten um globale Sicherheitspolitik und die Fortsetzung des Krieges in Afghanistan. Auch die Teilnahme einzelner Länder am "Krieg gegen den Terror" und die Notwendigkeit innenpolitischer Maßnahmen zur Terrorprävention bezeugen die Folgen des 11. Septembers in Europa. Die Möglichkeit, "bemannte Geschosse" als Waffen zu nutzen, wie der amerikanische Autor Don DeLillo die Flugzeuge vom 11. September 2001 trefflich bezeichnete, erregt die Gemüter spätestens wieder seit der Fukushima-Katastrophe. Als etwa Bundesumweltminister Norbert Röttgen im März 2011 seinen Prüfkatalog für die Widerstandfähigkeit der 17 deutschen Atomkraftwerke vorlegte, standen Flugzeugabstürze ganz oben auf der Liste.

Die dominanten Bilder jenes Tages - die brennenden Twin Towers, sich von den Dächern des World Trade Centers (WTC) stürzende Menschen, ein in Schutt und Asche liegendes Manhattan - haben sich nachhaltig ins kollektive Bewusstsein gebrannt. Heute sind sie fester Bestandteil jedes Antiterrorszenarios. Die Anschläge haben somit nicht nur das internationale Sicherheitsempfinden verändert, sondern auch das nationale Bewusstsein einiger westlicher Gesellschaften.

Nationale Ängste und die Rolle der Zwillingstürme

Im April 2009 lebten für viele New Yorker die Bilder der Anschläge wieder auf: Eine Boeing 747 begleitet von zwei F-16-Kampfjets kreiste im Tiefflug über Lower Manhattan. Die in Aufruhr versetzten Bürger verließen ihre Büros, wählten den Notruf und sprachen vielerorts von einem zweiten "9/11". Die Reaktionen verdeutlichen, dass in New York noch nicht alle zur Tagesordnung übergegangen sind. Im Gegenteil: Schock, Trauer und Aufruhr sitzen nach wie vor tief. Nicht zuletzt waren es diese unterbewussten Ängste, die Hunderte New Yorker nach der Verkündung von Osama bin Ladens Tod im Mai 2011 zu ungezwungenen und unüberlegten Freudentänzen vor den laufenden Kameras internationaler Medien animierten.

Es ist anzunehmen, dass sich die Angst vor einem "zweiten" 11. September auch deswegen unbewusst und emotional festgesetzt hat, weil die Terrorangriffe weltweit über Fernsehbilder mitverfolgt werden konnten. Es sind die Größe und die symbolische Macht der Angriffe, die dem zerstörten WTC das Sinnbild einer emotionalen Wunde geben: Schließlich wird dadurch der Glaube an die Unverwundbarkeit der USA erschüttert. Auch außerhalb der USA ist der symbolische Charakter von "9/11" nachvollziehbar, gilt das WTC neben dem Pentagon als ein "globales Symbol für Amerika". Während das Pentagon als militärisches Ziel gelten kann, markiert das zerstörte WTC die zivile Katastrophe.

Daher ist der 11. September heute ein Datum, das mit den dominanten Bildern der Anschläge in New York und Washington eng verwoben ist. Die Kognitionspsychologen Roger Brown und James Kulik bezeichnen solch ein Phänomen als Blitzlichterinnerung (flashbulb memory). Hierunter zählen jene Erinnerungen, "die den Moment bezeichnen, an dem eine Person zum ersten Mal von einem sehr überraschenden und emotional aufrüttelnden Ereignis erfährt. Als prototypisch kann die Nachricht von der Ermordung Präsident John F. Kennedys gelten. Jeder kann sich lebhaft daran erinnern, wo er war, als er diese Nachricht erhalten hat, was er gerade gemacht hat, wer ihm davon erzählt hat, und was unmittelbar danach passiert ist." Demnach ist es gerade die emotionale Relevanz der Bilder eines solchen Ereignisses, die sie zu einem medialen Speicher für eine kollektiv geteilte Erfahrung erheben. Selbiges trifft für die zahlreichen Aufnahmen der brennenden Zwillingstürme zu: Aufgrund der häufig wiederholten Bilder von der Kollision der Flugzeuge mit dem WTC entstand mit den Medienberichten über die Angriffe zeitgleich das ikonische Bild der Anschläge; die Vernichtung der beiden Türme bleibt bis heute bildlicher Auslöser der Blitzlichterinnerung an jenen Tag.

Doch weshalb können Bilder von brennenden Türmen einen national relevanten Sinn erhalten? Die Antwort ist zunächst in der nationalen Bedeutung des WTC zu suchen. Es stand vor allem für die wirtschaftliche und finanzielle Machtposition des Landes. Das war jedoch nicht immer der Fall: Vor den Anschlägen war das WTC für viele ein kühler Bürokomplex und ein wenig beliebtes Bauwerk. Noch bevor der Architekt Minora Yamasaki die zwei Türme des WTC im Jahr 1973 fertigstellte, wurde kritisiert, dass der moderne Monolith "New York seines Charakters berauben, die Skyline ruinieren und nachhaltig den Fernsehempfang stören" würde. Bis zum ersten Terroranschlag auf das Gebäude am 26. Februar 1993 galt das WTC sogar als "'unamerikanisch', weil ein großer Teil des benötigten Stahls aus Japan importiert wurde".

Doch nach seiner Fertigstellung veränderte das WTC sukzessive die wahrgenommene Raumidentität von New York City, und das Bauwerk erhielt eine nach außen wirkende repräsentative und identitätsstiftende Funktion. Insbesondere über die Populärkultur erreichte die neue Skyline von Manhattan ein Massenpublikum: Aufnahmen der Zwillingstürme aus der Vogelperspektive wurden zur unausgesprochenen Regel für zeitgenössische Bildaufnahmen der Stadt. Sie prägten die Wahrnehmung und die Symbolhaftigkeit der Twin Towers als finanzielles Machtzentrum und für den von ihnen ausgehenden technologischen Fortschritt. Mit dem ersten Terroranschlag auf das WTC im Jahr 1993 verstummten letztlich auch die Kritiker des Baus, und das WTC wurde zu einem national relevanten Symbol.

Der Dichter David Lehman fasst diesen Wandel zusammen: "I never liked the World Trade Center (...)/The twin towers were ugly monoliths/That lacked the details the ornament the character/Of the Empire State Building and especially/The Chrysler Building, (...)/The World Trade Center was an example of what was wrong/With American architecture,/And it stayed that way for twenty-five years/Until that Friday afternoon in February/When the bomb went off and the buildings became/A great symbol of America, like the Statue/Of Liberty at the end of Hitchcock's Saboteur. (...) I began to like the way/It comes into view as you reach Sixth Avenue/From any side street, the way the tops/Of the towers dissolve into white skies/In the east when you cross the Hudson/Into the city across the George Washington Bridge."

Aufgrund dieser herausragenden nationalen Bedeutung bedurfte die Zerstörung des mächtigen Symbols einer sinnstiftenden Erzählung, um ihren Ereignischarakter auch verbal greifbar zu machen. Denn am 11. September 2001 schien für viele Menschen in New York und den USA die Zeit stehengeblieben zu sein. Es fehlten die Worte, um die Emotionen, die angesichts der Bilder von den brennenden Türmen aufkamen, zu beschreiben. Die Medien zitierten an jenem Tag wiederholt Sätze wie "A horrific event", "There are no words" oder "I can't imagine anything worse than this". Verbale "Unzugänglichkeit" gilt als typisches Symptom für psychoanalytische Traumata, weshalb die Professorin für Internationale Beziehungen Jenny Edkins die Ereignisse vom 11. September als traumatisch für die US-Gesellschaft deutet. Dieses Phänomen bestätigt die Beobachtungen des Philosophen Slavoj iek über die Veränderung der symbolischen Ebenen wahrgenommener Realität nach dem 11. September: "Nicht die Realität ist in unsere bildliche Vorstellung eingebrochen, sondern das Bild ist in unsere Realität eingedrungen und hat sie zerschmettert." Doch wie ist zu erklären, dass "9/11" noch immer als Katalysator für den anhaltenden "Krieg gegen den Terror" gelten kann?

Der 11. September als national relevante Erzählung

Der Bedarf nach einer unmittelbaren Erklärung für die Terrorangriffe war erwartungsgemäß groß. Erste Medienberichterstatter lenkten die Aufmerksamkeit zunächst auf die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), die bereits im September 1970 in Jordanien vier Flugzeuge auf dem Weg nach New York entführt hatten. Als schließlich am 11. September 2001 auch der United-Airlines-Flug 93 in Pennsylvania abstürzte, mutmaßten andere in Anspielung auf die Friedensverhandlungen zwischen Ägypten und Israel vom 11. September 1978, dass das Ziel der Maschine Camp David gewesen wäre. Andere, durch das Datum vorgefertigte Erklärungen bleiben unerwähnt wie etwa der durch den US-Auslandsgeheimdienst CIA unterstützte Staatsstreich in Chile vom 11. September 1973, der in seiner Folge viele "Extremtraumatisierte" und eine ähnliche Opferzahl wie 2001 in New York forderte. Oder die am 11. September 1990 vom damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush verkündete "New World Order", die von manchen auch als "Kampfansage an Kapitalismusgegner" wahrgenommen wurde. Bevor sich also die öffentlichen Diskurse auf Auslöser und Erzählung einigten, erfolgten zugleich Wiederholung und Repression vorgefertigter Erinnerungen, die an symbolische Koordinaten der Realitätswahrnehmung (wie eben ein bestimmtes Datum) gekoppelt waren. Der Rückgriff auf historische Kontexte zur Erklärung des Ereignisses bedingte sich aus der dem Ereignis inhärenten verbalen "Unzugänglichkeit".

Die amerikanische Vergangenheit als Erklärungsmuster für die empfundene Gegenwart unterstützt die Herausbildung eines narrativen Kontextes. Aufgrund der unmittelbaren Medienpräsenz und der indirekten globalen Teilnahme eines jeden Zuschauers an den Ereignissen über die Fernsehbildschirme benötigte es keiner größeren "Latenzzeit", um dem Auslöser für "9/11" einen historischen Kern zuzuschreiben und die Ereignisse als "Angriff" beziehungsweise "Kriegserklärung" darzustellen. Dadurch wurde auch die "terminologische Leerstelle" sinnstiftend gefüllt und die verbale "Unzugänglichkeit" aufgehoben. Auch ein Aggressor war schnell in aller Munde: Osama bin Laden, der vermeintliche Kopf des seit den frühen 1990er Jahren ausgemachten "Neuen Terrorismus". Nahezu zeitgleich stimmen die Medienberichte in dieser historisch-sequenziellen Auslegung überein.

Aber nicht nur der "Neue Terrorismus" zirkulierte als sinnstiftender, narrativer Abschluss. So kommentiert der damalige Senator Nebraskas Charles Hagel die "Angriffe" mit: "This is the second Pearl Harbor. I don't think that I overstate it." Diese Rhetorik findet sogar ihren Weg in US-Präsident Bushs Tagebuch, der den Tag als "Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts" notiert. Die Bezugnahme auf Parallelen zum Zweiten Weltkrieg im bereits fünf Tage nach den "Angriffen" so benannten "Krieg gegen den Terror" schien nahezu kritikfrei vonstatten gegangen zu sein. Evident wird dies mit der Übernahme des Begriffs "Ground Zero" (ein in militärischen Fachdiskussionen hauptsächlich im Zusammenhang mit nuklearen Explosionen, vor allem im Zusammenhang mit Hiroshima und Nagasaki verwendeter Begriff): Der Atombombenabwurf auf Japan und die damit verbundene Zerstörung werden übergangen, stattdessen findet eine Übertragung dieser Erinnerung auf den Überraschungsangriff vom 7. Dezember 1941 und den anschließenden Eintritt in den Zweiten Weltkrieg statt, der für die USA gemeinhin als ein "guter Krieg" galt.

Der Verwendung bemannter Flugzeuge scheint ein metaphorischer Bezug auf die einstigen japanischen Kriegsgegner innezuwohnen, und auch der unerwartete Charakter der Angriffe vom 11. September kommen dem Verständnis einer Heimtücke nahe. Der 11. September rückt damit in der amerikanischen Historiografie in sprachbildliche Nähe zum "Tag der Schande" (7. Dezember 1941), dem Tag, an dem japanische Luftstreitkräfte die Marinestation Pearl Harbor in der Nähe von Honolulu angriffen.

So wundert es nicht, dass bereits am 12. September 2001 die Terrorangriffe als ein New Day of Infamy ("Neuer Tag der Schande") in den amerikanischen Tageszeitungen betitelt wurden. Über diese Zuschreibung hat der 11. September nicht nur den Sinn eines heimtückischen Angriffes feindlicher Kräfte auf die amerikanische Nation zugeschrieben bekommen. Vielmehr ist er über diesen Bezug zu einem Moment von besonderer nationaler Relevanz geworden, da er sich hierüber in eine logische und historiografisch belegbare Folge der amerikanischen Machtposition einreiht.

Zweites "Pearl Harbor"?

Viele Nachrichtensprecher, Zeitungen und öffentliche Einrichtungen adaptierten Referenzen auf "Pearl Harbor" und den Zweiten Weltkrieg in ihrer Sprache und ihren Sendeprogrammen: In den Nachrichten wird vom "Pearl Harbor of Terrorism" gesprochen; der New Yorker platziert online die "Talk of the Town"-Kolumne vom 20. Dezember 1941, um die Stimmung nach "Pearl Harbor" mit der vom 11. September zu vergleichen; die Library of Congress reinitiiert das "Witness and Response"-Zeitzeugen-Projekt, 60 Jahre nach seinem ersten und einzigen Durchlauf anlässlich des Angriffs auf Pearl Harbor.

Beobachter schlussfolgerten aus den in den Nachrichten, Dokumentarfilmen und im Kino vielfach mediatisierten Pearl-Harbor-Erinnerungen, dass es in der Zeit nach den Terroranschlägen einen starken Bedarf gegeben habe, für das Ereignis einen bestimmten historischen Kontext herzustellen. Dieses Bedürfnis schienen viele Staatsbürger zu teilen, besuchten sie doch unmittelbar nach den Angriffen verstärkt das USS Arizona Memorial auf Hawaii, jenen zum Gedenken an die Opfer des japanischen Überraschungsangriffs auf Pearl Harbor eingerichteten Erinnerungsort. Zwar mögen die Unterschiede der Angriffe auf Pearl Harbor und der vom 11. September 2001 offensichtlich sein: Der eine gilt als militärische Operation knapp 2500 Meilen vor der Westküste auf dem Territorium der Vereinigten Staaten, die anderen als terroristische Anschläge mit zivilen Opfern mitten in den militärischen und finanziellen Zentren der USA. Dennoch lassen "die als infam und heimtückisch verstandenen Angriffe diese Kluft verschwinden. (...) Der 7. Dezember 1941 erscheint der amerikanischen Führung als ein Präzedenzfall dafür, wie ein Trauma nicht nur zu überwinden ist, sondern (...) auf Jahre hinaus patriotischen Profit abwirft."

"Pearl Harbor" und "9/11" als nationale Traumata verstanden, bestärken ein Nationalgefühl mit der Folge, dass diese Traumaerfahrung auch für eine Kriegsrechtfertigung funktionalisiert werden kann. Diese Art der Trauerarbeit kann unter Umständen zur Verdrängung des Traumas selbst beitragen: Die Trauer wird abgelöst durch das öffentliche Bekenntnis zu nationalen Mythen, sowohl auf politischer als auch auf kultureller Ebene. Beide Ereignisse können daher als zwei identitätskonstituierende Eckpfeiler der USA als Weltmacht gelten: In der Stilisierung beider Ereignisse als Zeitkoordinaten des American Century scheint ihre wesentliche historische Funktion darin zu bestehen, epochale Momente zu markieren, in denen die verschiedenen Kluften in der Gesellschaft verschwinden und eine geschlossene amerikanische Nation einem gemeinsamen Feindlich-Fremden gegenübersteht.

Mit anderen Worten: Im Kontext amerikanischer Geschichte versinnbildlichen "Pearl Harbor" und "9/11" zuallererst eine durch äußere Kräfte zerstörte Machtposition. Jedoch ist es der amerikanischen Nation durch gemeinsamen Zusammenhalt und gesellschaftsweiten Entbehrungen gelungen, mit dem Triumph im Zweiten Weltkrieg auch "Pearl Harbor" zu einer Erfolgsgeschichte zu wandeln. Im Freudschen Sinne findet somit in der Zuschreibung des 11. September als ein "Neuer Tag der Schande" eine Wiederholung von Verdrängungsprozessen statt, indem allein das Erinnernswerte wiederholt wird: "Remember Pearl Harbor" im global verstärkten "The World Will always Remember September 11", wie der ehemalige Präsident George W. Bush am 11. Dezember 2001 verkündete - ein zweites "Pearl Harbor" als Reenactment (zwanghafte Wiederholung) des gemeinhin letzten "guten Krieges".

Weiterhin bestätigt die wiederkehrende Erinnerung an "Pearl-Harbor" die nationale Identität der USA als Großmacht in dem zwanghaften Verweis auf ihren Ursprung aus dem Zweiten Weltkrieg. Die zivile Katastrophe "9/11" bekommt mit dem "Ground Zero" einen militärischen Charakter und gipfelt im "Krieg gegen den Terror". Nahezu einstimmig wird das Kriegsmotiv in den öffentlichen Diskursen weitergereicht. Die brennenden Zwillingstürme sind das fixierte Moment der "9/11"-Erinnerung, das kollektiv abrufbar und neu erfahrbar ist. Das spezifische Leid der individuell traumatisierten Subjekte verschwindet in einem kollektiven Traumadiskurs. Die Überreste des zerstörten World Trade Centers sollen für die nächsten Jahre ein mit blickdichten Bauzäunen umgebenes "Loch" im Finanzzentrum der USA sein. Ebenso wie Fernsehkanäle das Zeigen verwundeter und toter Körper ablehnen, ist der Krieg aus dem eigenen Land in das ferne Afghanistan und später den Irak verlagert worden - Dieses Vorgehen markiert das nationale Trauma "9/11" als eine Verdrängungserinnerung.

"9/11" und der "gute Krieg"

Während "Pearl Harbor" und "9/11" Risse im narrativen Geflecht historischer Kontinuitäten eines amerikanischen Nationalstaates verursachten, liegt die Sicherung des übrigen "Gewebes" über den Rückgriff auf Ursprungslegenden und national etablierte Symbole nahe. Nach den Angriffen vom 11. September soll der mit der Einrichtung der Heimatschutzbehörde und der Verabschiedung der USA Patriot Act (Gesetze zur Stärkung und Einigung Amerikas durch die Bereitstellung angemessener Instrumente zur Terrorismusbekämpfung) gestaltete "Sicherheitsstaat" nicht nur das Land vor Feinden schützen, sondern auch die nationale Identität bewahren. Nun ist die Konstruktion einer nationalen Identität kein statischer Vorgang, sondern unterliegt einem ständigen Wandlungsprozess. Wenn nun die USA als "imaginierte Gemeinschaft" nach dem Zweiten Weltkrieg in der Rolle einer Supermacht die internationale Bühne betraten und diese Macht einsetzten, um im Kalten Krieg den Blockstaaten die Stirn zu bieten, sind sie auch bestrebt, diese nationale Identität in neue Kontexte einzubinden.

Diskurse nationaler Identitätsbildung scheinen gekoppelt an eine Risiko- oder Gefahrenrhetorik. Die amerikanische Außenpolitik rechtfertigt kriegerisches Vorgehen im Ausland und den Einsatz individuellen Lebens für das Wohl der Nation. David Campbell, Kultur- und Politikwissenschaftler in Durham, erkennt in den außenpolitischen Diskursen der USA die gleichzeitig ablaufende Wissensproduktion von Feind und nationale Identität, indem er festhält, dass die "Grenzen einer Staatsidentität durch die Repräsentation von Gefahren als integraler Bestandteil der Außenpolitik gesichert sind". Um sicherzustellen, dass der Staat seine Grenzen und seine Bevölkerung in der evozierten Risikosituation zu schützen vermag, ist die Konstruktion eines Feindlich-Fremden zur Wahrung nationaler Identität nötig. Diese Darstellung findet eben nicht nur in der amerikanischen Außenpolitik statt, sondern durchzieht die gesamte Nation.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die "Pearl Harbor"-Erinnerung, indem sie ein sinnstiftendes Bezugssystem zur "9/11"-Erinnerung aufbaute, auch Einfluss auf die Darstellung von Selbst- und Feindbildern ausübte. Diese spiegelte sich auch in den öffentlichen Diskursen wider: So ließ sich beispielsweise das Time-Magazin in seiner Trennung zwischen Selbst- und Feindbild von der Kriegserinnerung leiten. Für das Titelbild zum Sturz von Saddam Hussein wählte die Ausgabe vom 21. April 2003 eine mit einem großen roten Kreuz durchgestrichene Portraitskizze des Diktators. Diese Darstellung erinnerte an die beiden Titelbilder zum Ende des Zweiten Weltkriegs: Am 7. Mai 1945 zeigte der Titel ein ebenso durchgestrichenes Portrait von Adolf Hitler, am 20. August desselben Jahres wählte das Magazin eine schwarz durchkreuzte japanische Flagge. Dieselbe Darstellung wählte das Nachrichtenmagazin nach der Meldung vom Tod Osama bin Ladens. Der amerikanischen Bevölkerung ist im April 2003 der Vergleich zwischen Hitler und Hussein durchaus bekannt: Wie eine Evaluation der amerikanischen Medien im Jahr 1990 ergab, fiel er zum Beispiel bis zum Ausbruch des Zweiten Golfkrieges im August desselben Jahres allein 1170 Mal. Auch auf Osama bin Laden trifft dieser Vergleich zu: Gilt er im öffentlichen Verständnis doch als Verkörperung des "Islamfaschismus".

Am 2. Mai 2011 gibt US-Präsident Barack Obama den Tod Osama bin Ladens bekannt. Wie diese Nachricht die Perspektive auf den "Krieg gegen den Terror" zukünftig verändert, kann und soll an dieser Stelle nicht prognostiziert werden. Anzunehmen ist jedoch eine Veränderung im Umgang mit den hier diskutierten medialen Repräsentationen von "9/11". So fragt zum Beispiel bereits am gleichen Tag der amerikanische Journalist Kevin Fallon: "Will bin Laden's Death Make 9/11 Movies Easier to Watch?" Eine Antwort darauf ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich. Jedoch haben bereits im Zweiten Weltkrieg die amerikanischen Erfolge in der Schlacht um die Midway-Atolle 1942 eine Wende im Kriegskino ermöglicht. Plötzlich war ein Sieg in Aussicht und das Kriegskino populärer denn je. Dem "Spiegel" zufolge gibt es derzeit ein starkes Bedürfnis, alsbald einen Hollywoodfilm über die Operation zur Tötung Osama Bin Ladens zu drehen, eine der favorisierten Anwärterinnen sei Kathryn Bigelow: Das Projekt "Kill bin Laden" soll von der Oscar-Gewinnerin 2010, die mit ihrem Kriegsfilm "Tödliches Kommando - The Hurt Locker" im Jahr 2008 ein Drama um ein Bombenräumungskommando im Irak verfilmte, bereits Anfang 2012 in die Kinos kommen.

Wie auch immer sich die Reaktionen auf das mediale und hier als national relevant diskutierte Bild eines brennenden WTC in den kommenden Monaten verändern mögen, gewiss ist jedoch, dass sich im Jahr 2011 der 11. September zum zehnten und "Pearl Harbor" zum 70. Mal jähren. Für beide Jahrestage sind Fertigstellungen beziehungsweise Veränderungen an den Erinnerungsorten angekündigt. Wie diese Pläne andeuten, werden beide Ereignisse in der nationalen Erinnerungsarbeit in einem engen Zusammenhang bleiben. Damit kann die bisher tradierte Traumaerinnerung an "Pearl Harbor" in "9/11" fortbestehen und findet so einen Weg in das kulturelle Gedächtnis der USA. In dieser Weise prägt sie voraussichtlich noch über viele Generationen als national relevante, epochale Geschichtswende nachhaltig das Selbstbild der Nation.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Don DeLillo, In the Ruins of the Future, in: Harper's Magazine, (2001) 12, S. 35.

  2. Vgl. Handelsblatt vom 28.4.2009.

  3. Vgl. Barbara Frederickson et al., What Good Are Positive Emotions in Crises?, in: Journal of Personality and Social Psychology, 84 (2003) 2, S. 365-376.

  4. Roger Brown/James Kulik, Flashbulb Memories, in: Cognition, 5 (1977), S. 75.

  5. Vgl. Jon Bird, The Mote in God's Eye, in: Journal of Visual Culture, 2 (2003) 1, S. 90.

  6. Borgna Brunner, Time Almanac 2003, Boston 2002, S. 445.

  7. Claus Daufenbach, Ground Zero & Vietnam, in: Sabine Sielke (Hrsg.), Der 11. September 2001, Frankfurt/M. 2002, S. 225.

  8. David Lehman, World Trade Center, in: Paris Review, 136 (1995) 4.

  9. Vgl. Jenny Edkins, Forget Trauma?, in: International Relations, 16 (2002) 2, S. 243.

  10. Slavoj iek, Passions of the Real, in: David Slocum (ed.), Hollywood and War, New York 2006, S. 93.

  11. Vgl. Daniel Singer, Braving Bush's New World Order, in: The Nation vom 25.3.1991, S. 370.

  12. Sigmund Freud entlehnt den Begriff der "Latenzzeit" aus der Neurosenforschung. Sie markiert die Zeit "zwischen den ersten Reaktionen auf das Trauma und dem späteren Ausbruch der Erkrankung". Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Alexander Mischerlich et al. (Hrsg.), Freud-Studienausgabe, Bd. IX, Frankfurt/M. 2000, S. 526, S. 553.

  13. Vgl. Steven Simon/Daniel Benjamin, America and the New Terrorism, in: Survival, 42 (2000) 1, S. 59. Die Autoren halten für die Begriffsdefinition fest: "Der 'Neue Terrorismus' tritt während Präsident Clintons Amtszeit hervor: Hierzu zählen die Bombenanschläge auf das World Trade Center von 1993 und damit in Verbindung stehende Komplotte, der 1996 verübte Bombenanschlag auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City, die Bombenangriffe in Ostafrika aus dem Jahr 1998 und der 1995 begangene Sarin-Giftgasanschlag auf die U-Bahn von Tokio (...) Obgleich die Wurzeln des Neuen Terrorismus weit gestreut sind (...), ist das Gesicht dieses Phänomens Osama bin Laden."

  14. Zit. nach: Emily S. Rosenberg, A Date Which Will Live, Durham-London 2003, S. 175.

  15. Vgl. Stud Terkel, The Good War, New York 1997.

  16. Vgl. E.S. Rosenberg (Anm. 14), S. 175ff.

  17. Vgl. Marcia Landy, America under Attack, in: Wheeler Winston Dixon (ed.), Film and Television after 9/11, Carbondale 2004, S. 84.

  18. Vgl. Yujin Yaguchi, War Memories across the Pacific, in: Comparative American Studies, 3 (2005) 5, S. 345-360.

  19. C. Daufenbach (Anm. 7), S. 229.

  20. Vgl. Elisabeth Goren, Society's Use of the Hero Following a National Trauma, in: The American Journal of Psychoanalysis, 67 (2007) 1, S. 45.

  21. Vgl. David Campbell, Writing Security: United States Foreign Policy and the Politics of Identity, Manchester 1992, S. 9.

  22. Ebd., S. 3.

  23. Vgl. Wolfram Wette, Wem der Vergleich Saddam Husseins mit Adolf Hitler dient, in: Frankfurter Rundschau vom 29.3.2003.

  24. Vgl. Daya Kishan Thussu, Televising the 'War on Terrorism', in: Anandam P. Kavoori/Todd Fraley (eds.), Media, Terrorism and Theory, Lanham 2006, S. 3-19.

  25. Kevin Fallon, Will bin Laden's Death Make 9/11 Movies Easier to Watch?, in: The Atlantic vom 2.5.2011.

Dr. phil., geb. 1981; Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Siegen, Philosophische Fakultät, Adolf-Reichwein-Straße 2, AR-H 209, 57068 Siegen. E-Mail Link: hartwig@anglistik.uni-siegen.de