Einleitung
Eine der beliebtesten Metaphern zur Kultur des "Kalten Krieges" ist das Wetter. So werden die Jahre nach Stalins Tod beispielsweise gerne als Periode des "Tauwetters" bezeichnet, da den Kunstschaffenden in der Sowjetunion und in anderen Staaten des Ostblocks vergleichsweise große Freiräume eingeräumt wurden. Andere Jahre, die von stärkeren Restriktionen geprägt waren, gelten hingegen als kulturpolitische "Eiszeiten".
Überträgt man die Metapher auf die DDR, dann war die Kulturpolitik der SED in etwa so beständig wie das englische Wetter. Gelegentlich schien für die Künstler in der DDR zwar die Sonne, doch zumeist zogen schnell wieder dunkle Wolken auf. Stürmische Winde wechselten die Richtung, regelmäßig gab es krachende Gewitter, welche die aufgeladene Spannung entluden und einen tristen Nieselregen nach sich zogen. Dieser Wechsel von kurzzeitigen "Hochs" und langanhaltenden "Tiefs" hat sich als tragfähiges Paradigma für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der SED-Kulturpolitik etabliert.
Künstlerische Aufbruchstimmung
So entstanden bei der DEFA vermehrt Spielfilme, die sich mit dem individuellen Leben der Menschen in der DDR beschäftigten, darunter "Beschreibung eines Sommers" von Ralf Kirsten.
Doch unabhängig vom machtpolitischen Kalkül der SED entwickelte sich in der ersten Hälfte der 1960er Jahre bei vielen Intellektuellen und Künstlern in der DDR eine Aufbruchstimmung: Getragen von der Aussicht, aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken zu können, thematisierten sie in Büchern, Filmen und anderen Kunstwerken auch die unübersehbaren Probleme innerhalb der DDR.
Die Grenzen, innerhalb derer sich die Künstler bewegen konnten, blieben auch nach dem Mauerbau vergleichsweise eng. Stefan Heym konnte seine kritische Kolloquiums-Rede beispielsweise nicht in der DDR veröffentlichen - er publizierte sie stattdessen in der Bundesrepublik. Charakteristisch für die kulturpolitische Phase nach dem Mauerbau ist nicht zuletzt, dass gesellschaftskritischere Kunstwerke zwar entstehen konnten, ihre Veröffentlichung jedoch erheblich eingeschränkt oder gar verhindert wurde. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist der außergewöhnliche Dokumentarfilm "Deutschland - Endstation Ost", den der Belgier Frans Buyens für die DEFA drehte.
"Deutschland: Endstation Ost"
Frans Buyens wurde im Herbst 1963 das Projekt angetragen, einen Dokumentarfilm über das Leben der Menschen in der DDR zu drehen.
Buyens' Film ist aus heutiger Perspektive bemerkenswert, weil er sich deutlich von anderen zur gleichen Zeit in der DDR entstandenen Dokumentarfilmen unterscheidet. Die wenigen Dokumentationen und Wochenschauen der DEFA, die sich mit dem Mauerbau und seinen Auswirkungen beschäftigen, sind zumeist von ihrer ideologischen Propagandafunktion geprägt. Filme wie "Das Ganze halt!" von Dieter Mendelsohn (1961), "Schaut auf diese Stadt" von Karl Gass (1962) oder "Brüder und Schwestern" von Walter Heynowski (1963) verklären die Mauer zum "antifaschistischen Schutzwall" und machen allein die "revanchistischen Militaristen aus Bonn" für die Spaltung Deutschlands verantwortlich.
Grundsätzlich ist "Deutschland - Endstation Ost" ein wohlwollendes Plädoyer für die DDR: Die Politik der SED wird nicht in Frage gestellt; positive und negative Meinungsäußerungen sind stets so gewichtet, dass die Zustimmung überwiegt. Bisweilen äußern sich Buyens' Gesprächspartner sogar derart konformistisch und ideologisch korrekt, dass ihre Antworten wie aufgesetzt und auswendig gelernt wirken. Buyens war ein überzeugter flämischer Sozialist und solidarisierte sich mit der politischen Entwicklung der DDR.
Charakteristisch für den Grundtenor des Films sind beispielsweise die Gespräche mit Ost-Berliner Passanten, die Buyens nach ihrer Meinung zum Bau der Mauer befragte. Insgesamt kommen in dieser Sequenz 13 Menschen zu Wort: Neun befürworten die Schließung der Grenze oder äußern sich zumindest eher wohlwollend über die Mauer, die letztlich doch der Sicherung des Friedens diene. Mehrfach nennen die Befragten die Abwerbung von Arbeitskräften durch die Bundesrepublik als Argument für die Schließung der Grenze. Aber auch die Gefahr, die DDR könne von westlichen Agenten unterwandert werden, kommt zur Sprache. Diese Argumentation entsprach weitestgehend der SED-Propaganda und der öffentlichen Berichterstattung über die Mauer in der DDR. Vier Passanten drücken hingegen ihre eindeutig ablehnende Haltung aus. Ein junger Mann antwortet auf die Frage, was er über die Mauer denkt: "Nüscht Jutes!" Nach kurzem Zögern fügt er hinzu: "Die Mauer, die hätte hier gar nicht hinkommen sollen." Als Buyens ihn nach den Gründen fragt, zögert der Mann, schüttelt mehrfach den Kopf und schweigt mehrere Sekunden. Schließlich ergänzt er etwas resignierend: "Ach, wissen Sie, das ist so eine Sache mit der Mauer. Die hätte von Vornherein gar nicht gemacht werden dürfen." Ein anderer Mann bleibt anfangs zurückhaltend, ganz offensichtlich aus Angst vor möglichen Konsequenzen. "Man weiß ja gar nicht, mit wem man hier noch sprechen kann", entgegnet er Buyens auf dessen Frage, was er von der Mauer hält. Auf eine Nachfrage hin äußert er sich dann doch: "Die Mauer passt hier überhaupt nicht her. Wir sind ja hier eingesperrt, sozusagen!"
Noch deutlicher wird eine Frau, die gerade an einem Gemüsestand einkauft. Sie bemerkt die Dreharbeiten und mischt sich ein: "Nein, die Mauer muss weg! Man kann ja nicht zu seinen Verwandten! Also, ich bin im staatlichen Handel, aber ich würde jedes Wochenende zurückkommen, denn man hatte ja vorher die Gelegenheit zu gehen. Und dann habe ich eine Mutter von 78 Jahren, die würde auch wieder zu ihrer Tochter gehen. Aber mal, so wenigstens alle vier Wochen, müssten wir schon rüber können, ohne Kommentar, denn wir tun ja hier unsere Pflicht, also es müsste sein. Die Mauer muss weg, unbedingt!" Auf Nachfrage von Buyens, wer schuld an der Mauer sei, entgegnet die Frau: "Na, wissen Sie, einer allein ist nie schuld. Ich sage, wie es ist. Aber was soll ich noch mehr sagen? Kommentar überflüssig! Hoffentlich beschneiden sie das nicht, was ich hier gesagt habe." Szenen wie diese wirken authentisch, weil sie offensichtlich spontan und ohne Vorbereitung gedreht wurden. Es entsteht der Eindruck, dass die Menschen ihre kritische Meinung sprichwörtlich "aus dem Bauch" heraus wiedergeben.
Derartige Ansichten zum Mauerbau sind einzigartig für einen ostdeutschen Dokumentarfilm. Eine vergleichbare Offenheit findet sich zumindest in keiner anderen bekannten Produktion des DEFA-Dokumentarfilmstudios. Buyens' Film ist darüber hinaus auch in ästhetischer Hinsicht ein Unikat: Während in den Produktionen der DEFA und des DDR-Fernsehens kaum Detailaufnahmen von der Grenze zu sehen sind, werden in "Deutschland - Endstation Ost" gleich mehrfach lange Einstellungen von der Mauer gezeigt. Die (nach innen gerichteten) Sperranlagen und Stacheldrähte sind dabei ebenso im Bild wie die bewaffneten DDR-Grenzsoldaten. Buyens griff die Situation an der Mauer unmittelbar auf, indem er Soldaten zu ihrer Arbeit befragte. Die Interviews, die unweit des Checkpoint Charlie stattfanden, konnten zwar nur nach zähen Verhandlungen mit dem ZK der SED, dem Ministerium für Nationale Verteidigung und der Nationalen Volksarmee (NVA) geführt werden. Aber trotz der eingeschränkten Drehmöglichkeiten sind die Äußerungen, die für den Film verwendet wurden, sehr aufschlussreich. Die Interviewauszüge berühren sensible Themenfelder, wie zum Beispiel die moralische Verantwortung der Wachposten. Die politische Indoktrination der Soldaten wird ebenso spürbar wie ihre allgemeine Verunsicherung im Umgang mit Flüchtlingen. Bemerkenswert ist, dass die Soldaten bestätigen, notfalls auf DDR-Bürger schießen zu müssen, um sie an einer Flucht zu hindern - auch dies ein Tabu in der DDR-Berichterstattung über die Mauer.
Aus vielen anderen Teilen des Films ließen sich weitere Beispiele anfügen, die den besonderen Charakter von "Deutschland - Endstation Ost" belegen. Hier soll noch eine Szene detailliert erwähnt werden, die im Hinblick auf den Mauerbau von besonderer Bedeutung ist, weil sie sich auf die eingeschränkten Reisemöglichkeiten der DDR-Bürger bezieht. In einer Gesprächsrunde mit Arbeitern wirft Buyens die Frage auf, ob sie sich in der DDR frei fühlen würden. Wiederum sind die Antworten im Film so montiert, dass die wohlwollenden Stimmen überwiegen und das Leben in der DDR insgesamt in einem positiven Licht erscheint. Ein Arbeiter, der im bisherigen Gesprächsverlauf stumm im Hintergrund gesessen hat, durchbricht jedoch das harmonische Bild. "Die Freiheit ist für mich ein Problem", merkt er mit ruhiger Stimme an. "Ich möchte gerne reisen, mal was von der Welt sehen. Und das kann ich hier nicht. Ich bin zwar im letzten Jahr eine ganze Zeit in Ungarn gewesen, und es hat mir auch sehr gut gefallen, aber ehrlich gesagt, ich möchte zum Beispiel auch mal Belgien kennen lernen oder England. Und die Möglichkeit hab ich hier nicht. Ich möchte mal nach Schweden. Ich würde alles dafür hingeben, was ich habe, aber es geht nicht, ist nicht drin. Darin fühle ich mich in meiner Freiheit beschnitten, ganz schön sogar." Wenngleich dieses Statement im Film als Einzelmeinung stehen bleibt, ist seine Aussagekraft doch ungemein groß, da ähnliche Stimmen in anderen Dokumentarfilmen der DEFA oder des DDR-Fernsehens grundsätzlich ausgespart blieben.
Vorweggenommener "Kahlschlag"
Nach der Fertigstellung des Rohschnitts fand im September 1964 die erste Abnahme von "Deutschland - Endstation Ost" statt. Dabei handelte es sich um einen offiziellen Begutachtungsprozess, den jeder Film durchlaufen musste, ehe er für eine öffentliche Vorführung in der DDR freigegeben wurde. Neben Buyens nahmen Vertreter aus dem DEFA-Dokumentarfilmstudio daran teil, darunter Inge Kleinert, die Direktorin des Studios. Außerdem waren einzelne Funktionäre aus dem ZK der SED und der Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur zugegen. Trotz vereinzelter Kritik verlief die Abnahme insgesamt positiv: Buyens erhielt den Auftrag, den Film rechtzeitig zur VII. Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche im November 1964 fertigzustellen. Kleinert schlug sogar vor, den Film am Eröffnungsabend des Festivals vorzuführen.
Zu der feierlichen Premiere am Eröffnungsabend kam es jedoch nicht. Im unmittelbaren Vorfeld war innerhalb des ZK der SED eine kontroverse Debatte über "Deutschland - Endstation Ost" entbrannt, bei der sich eine Mehrheit gegen eine Aufführung des Films aussprach. Daraufhin wurde er kurzfristig aus dem Programm gestrichen. Er sollte nach Möglichkeit gar nicht oder allenfalls im Rahmenprogramm des Festivals gezeigt werden. Die genauen Umstände, die zu dieser Entscheidung führten, lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Die Informationen basieren weitestgehend auf den Erinnerungen von Buyens selbst.
Buyens erfuhr erst nach Beginn des Festivals von der Absetzung seines Films. Trotz einer Erkrankung reiste er daraufhin persönlich nach Leipzig und drohte damit, die Auseinandersetzung öffentlich zu machen. Daraufhin wurde am vorletzten Tag des Festivals doch noch eine Vorführung organisiert. Der Film erntete großen Applaus und wurde überwiegend wohlwollend aufgenommen. Buyens erinnerte sich später, dass Inge Kleinert ihn in der Nacht nach der Aufführung telefonisch über die jüngsten Entwicklungen aus dem ZK der SED informiert habe. Demnach habe sich Walter Ulbricht den Film inzwischen persönlich angesehen. Er sei begeistert gewesen und habe vorgeschlagen, den Film überall in der DDR zu zeigen. Ob Ulbricht sich jedoch tatsächlich für den Film ausgesprochen hat, ist fraglich. Zumindest blieb die Stimmung auf dem Leipziger Festival gespalten: Die für den kommenden Vormittag anberaumte Pressekonferenz zu "Deutschland - Endstation Ost" wurde noch in derselben Nacht wieder abgesagt.
Trotz des Konfliktes in Leipzig arbeitete Buyens zunächst weiter in der DDR. Im Frühjahr 1965 entwickelte er mehrere neue Projekte für die DEFA. Sogar die Einrichtung einer eigenständigen Arbeitsgruppe unter seiner Leitung war im Gespräch. Doch im Verlauf des Jahres 1965 verschärfte sich die kulturpolitische Situation in der DDR, so dass die Handlungsspielräume für kritische Stimmen immer enger wurden. Innerhalb der SED setzten sich die dogmatischen Funktionäre durch, die Reformansätze ablehnten und sich gegen die "liberalistischen" Tendenzen in der Kultur- und Jugendpolitik stellten, allen voran Erich Honecker und Kurt Hager. Zuvor war es in der Sowjetunion nach dem Machtantritt von Leonid Breschnew bereits zu einer Kehrtwende in der Kulturpolitik gekommen - diese Entwicklung verlieh der Gruppe um Honecker und Hager zusätzlichen Auftrieb.
Im Dezember 1965 markierte schließlich das 11. Plenum des ZK der SED das Ende aller freiheitlichen Entwicklungen in der DDR-Kultur. Auf dem Plenum, das aufgrund seiner rigiden Eingriffe auch als "Kahlschlag-Plenum" bezeichnet wird,
Die Auseinandersetzung um "Deutschland - Endstation Ost" veranschaulicht, dass sich die kulturpolitische Situation in der DDR bereits im Vorfeld des 11. Plenums deutlich verschlechtert hatte. Im Frühjahr 1965 kamen alle Ambitionen zum Erliegen, Buyens' Film doch noch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der ursprünglich vorgesehene Start in den DDR-Kinos kam nicht zu Stande. Abgesehen von einigen Berichten im Anschluss an die Vorführung im Rahmen des Leipziger Festivals
Fazit
Anhand von "Deutschland - Endstation Ost" lässt sich die kulturpolitische Situation in der DDR nach dem Mauerbau sehr gut nachvollziehen. Einerseits zeigt sich, dass es kurzzeitig ein Umfeld gab, in dem Kunstwerke entstehen konnten, die sich um einen alternativen, weniger dogmatischen Blick auf das Leben in der DDR bemühten, ohne dabei den Machtanspruch der SED grundsätzlich in Frage zu stellen. Frans Buyens plädierte mit seinem Film nachdrücklich für den Aufbau des Sozialismus in der DDR. Er ließ jedoch auch kritische Stimmen zu Wort kommen, die ein widersprüchliches Bild auf die tatsächliche Entwicklung der DDR-Gesellschaft warfen. Andererseits zeigt die Art und Weise, wie mit dem fertigen Film umgegangen wurde, dass die Handlungsspielräume der Künstler nach wie vor sehr begrenzt waren. Denn obwohl "Deutschland - Endstation Ost" zunächst politische Unterstützung fand, konnte er schlussendlich nie öffentlich in den Kinos der DDR gezeigt werden. Bezeichnend ist, dass Buyens keinen regimekritischen Film gedreht hatte, im Gegenteil: Er zeichnete ein positives Bild vom Leben in der DDR. Sein Plädoyer für den weiteren Aufbau des Sozialismus thematisierte lediglich unterschiedliche Meinungen - das reichte aus, um ihn ins Archiv zu verbannen.
Buyens' Film fiel einer kulturpolitischen Entwicklung zum Opfer, die Ansätze einer kritisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR im Keim erstickte. Greift man den Vergleich zum Wetter auf, dann schien in der SED-Kulturpolitik nach dem 13. August 1961 zwar gelegentlich die Sonne, die dunklen Regenwolken verzogen sich jedoch nie. Künstler, die auf einen länger anhaltenden "Frühling" hofften, wurden bitter enttäuscht: Mit dem 11. Plenum ereignete sich in der DDR ein kulturpolitisches Gewitter, das einen frostigen Dauerregen nach sich zog, wie man ihn selbst in England nicht alle Tage erlebt.