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Strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturvergangenheit - Essay | Bundesverfassungsgericht | bpb.de

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Strafrechtliche Aufarbeitung von Diktaturvergangenheit - Essay

Winfried Hassemer

/ 17 Minuten zu lesen

Die Herausforderungen liegen in der Rechtsordnung einer Gesellschaft: das Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtsstaat, die Möglichkeiten des (Straf-)Rechts und Anforderungen, die eine Rechtskultur an das Konzept einer "Lösung" richtet.

Einleitung

Das öffentliche Interesse an der Rolle des Rechts, insbesondere des Strafrechts, bei der Aufarbeitung einer Diktaturvergangenheit ist nicht stabil. Das hat seine Gründe. Wir haben diese Frage nach dem Wechsel unseres politischen Systems Mitte der 1940er Jahre sowie Anfang der 1990er Jahre diskutiert. Aber zu einem begründeten Ergebnis sind wir nicht gekommen. Es scheint eher, als hätten wir unsere im Laufe der Zeit jeweils aktuellen Probleme mit Rechtsstaat und Gerechtigkeit immer wieder vor dem Hintergrund der Nazizeit und des Rechtssystems der DDR in den Blick genommen und es dabei belassen. Erinnerlich ist vor allem der Streit über die Hoffnung, ob es - angesichts des flagranten Unrechts in Gesetzesform vor 1945 - ein übergesetzliches, ein Naturrecht gibt, auf das sich, nach dem Zusammenbruch des Regimes, eine Verurteilung derer stützen könnte, die das gesetzliche Unrecht geschaffen und exekutiert hatten. In etwas anderer Einkleidung ist die Frage im vergangenen Jahr wieder aufgeflammt anlässlich des Beginns des Münchner Strafverfahrens gegen John Demjanjuk, der beschuldigt wurde, an der Tötung tausender Menschen im Konzentrationslager Sobibor beteiligt gewesen zu sein. Dabei standen sich zwei Positionen gegenüber, die uns seit Jahrzehnten argumentativ vertraut sind: "Was soll ein Strafverfahren nach so vielen Jahren gegen einen alten Mann?", fragten die einen, und die anderen gaben zur Antwort: "Recht muss Recht bleiben."

Angesichts der Aufstände im Norden Afrikas und im Nahen Osten fällt uns derzeit vielerlei Kluges ein; die Frage nach der Rolle des Rechts in der Phase späterer Konsolidierung der Region gehört freilich eher nicht dazu - obwohl doch die Einforderung von "Freiheit" durch die "Rebellen" unüberhörbar auch der Ruf nach "Gerechtigkeit" ist. Hinsichtlich anderer Regionen in der Welt verhielt und verhält es sich nicht anders. Das alles verwundert auf den ersten Blick. Denn die Erfahrungen mit dem Ende einer Diktatur und einem politischen Systemwechsel sind uns noch gut zugänglich. Auch in der Sache gibt es gute Gründe, Strafrecht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit nicht nur von ihrem Alltag, sondern auch von ihren Grenzen her zu denken, also die Fragen nicht aus dem Blick zu verlieren, was aus unserer Rechtsordnung wird, wenn sie nicht mehr den Prinzipien von Gleichheit oder Gewaltenteilung verschrieben ist, oder welches die Anzeichen sind, die frühzeitig und verlässlich auf eine Erosion des Rechtsstaats hinweisen. Wenn wir bloß über das Funktionieren des Rechts bei einem Wechsel der Regierung, beim Entstehen einer neuen Partei oder in einer Finanzkrise orientiert sind - also in Situationen, in denen das politische System überlebt -, wissen wir über unser Recht nicht viel.

Aber vielleicht wollen wir das nicht wirklich wissen und begnügen uns aus guten Gründen mit schnellen Urteilen und emotionalen Einschätzungen, wenn wir die Zeiten des Unrechts endlich hinter uns haben. Dabei gibt es doch zwei hinreichend konkrete Fragen, die einen politisch und historisch interessierten Menschen aufregen können und die unmittelbar in unser Problem führen.

Zwei Fragen

Warum eigentlich sollen wir frühere Machthaber, die ihre Macht auch mithilfe rechtlicher Instrumente dazu eingesetzt haben, andere Leute zu quälen, zu bedrängen, ungerecht zu behandeln, auszuweisen, einzusperren oder gar zu foltern und umzubringen, nach dem Verlust dieser Macht anständig behandeln, ihnen ein rechtsstaatliches Verfahren gewähren, das ihnen Schutz und Schonung garantiert? Womit haben sie das verdient? Fordert das die Gerechtigkeit? Das wäre dann doch eine seltsame, eine jedenfalls ungleiche Gerechtigkeit, sollte man meinen.

Hinter dieser Frage steht eine andere, die ihr eine rechtsphilosophische Grundlage verschafft, sie plausibel macht, verallgemeinert und zuspitzt. Sie tritt nicht in Frageform auf, sondern als resignative Feststellung. Sie stammt von Bärbel Bohley, die schon in der DDR gegen Rechtlosigkeit und Unterdrückung gekämpft hatte, und lautet: "Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat." Bärbel Bohley legte durch ihre überzeugende Haltung während der DDR und danach ein Zeugnis für den Wert der Rechtlichkeit ab. Adressat der zitierten Feststellung war die Bundesrepublik, und gemeint war die selektive und zögerliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts. Also hieß die resignative Feststellung, wenn man sie in Frageform überführt: Warum machen wir, wenn es doch schlicht und einfach um Gerechtigkeit geht, Umwege ins Gestrüpp einer undurchsichtigen Rechtsordnung, in der wir uns nicht zurechtfinden und am Ende gar nicht mehr wissen, warum wir uns überhaupt aufgemacht haben, Gerechtigkeit zu suchen? Warum weichen wir in Bürokratie aus, statt endlich das Unrecht wegzuräumen und an seiner Stelle Gerechtigkeit zu schaffen? Das hört sich gut an - aber vielleicht eher etwas zu gut. Zwei Erfahrungen haben wir, die vorläufig den Eindruck nahelegen, dass es mit der Gerechtigkeit nicht so einfach sei.

Zwei Erfahrungen

Zweimal hatten die Deutschen im vergangenen Jahrhundert das Glück und die Aufgabe, nach einer Phase des Unrechts, der Ungleichbehandlung und der Unterdrückung auch ihre rechtlichen Verhältnisse neu zu ordnen, und einmal hatten sie dabei die Chance, frühere Fehler nicht zu wiederholen. Wie weit sie diese Chance genutzt haben, wird vermutlich immer im Streit bleiben - zu vielfältig und zu mächtig sind die ideologischen und politischen Interessen an einer bestimmten Antwort oder deren Vermeidung. Man denke nur an die Auseinandersetzung darüber, ob die DDR ein "Unrechtsstaat" war. Dieser Streit wird wohl nur durch allseitige Ermüdung sein Ende finden. Und dennoch muss man sich zu dieser Frage verhalten, wenn man beurteilen und begründen will, ob unsere Rechtsordnung mit den Aufgaben, die mit der Wiedervereinigung auch auf sie gewartet haben, zurechtgekommen ist oder nicht.

Und noch bevor man sich der Frage nach der Chance und ihrer Nutzung auch nur nähern kann, tut sich eine weitere Hürde auf. Sie besteht vor allem in dem begründeten Zweifel, ob man die Herrschaft der Nationalsozialisten überhaupt mit den Verhältnissen in der DDR vergleichen kann; kann man das nämlich nicht, oder kann man das kaum und weiß man nicht so richtig, wie weit man das kann, so ist es auch mit dem Vorwurf der Wiederholung früherer Fehler nicht weit her; man hat ja keinen tauglichen Vergleichsmaßstab.

Bringt man diese beiden Erfahrungen auf den Punkt, so festigt sich der Eindruck, man habe es mit überkomplexen Fragestellungen zu tun und dies sei der Grund dafür, warum es ein stabiles öffentliches Interesse an der Rolle des Rechts nach einem politischen Systemwechsel nicht gibt: Zu zahlreich, zu verwoben und zu vage sind die Ausgangspunkte, die Kausalbeziehungen und die Bewertungen, auf die es ankommt, wenn man belastbare Urteile über die Fähigkeit einer Rechtsordnung, das Unrecht eines früheren politischen Systems aufzuarbeiten, fällen will. Alles hängt irgendwie miteinander zusammen, nichts lässt sich sauber isolieren und in Ruhe betrachten; also fängt man besser gar nicht erst damit an. (Ich jedenfalls werde in diesem kurzen Aufsatz nicht damit anfangen, solche Grundfragen auch nur zu stellen.)

Das freilich ist erst der äußere Anschein der Hürden, die uns im Wege stehen. Blickt man etwas tiefer, so bemerkt man alsbald, dass die eigentlichen Probleme unseres Gegenstands nicht in dessen Komplexität, sondern in der Sache selbst - der Rechtsordnung - liegen: das Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtsstaat, die Möglichkeiten des Rechts, insbesondere des Strafrechts, unser Problem zu lösen, und die unterschiedlichen Anforderungen, die eine jeweilige Rechtskultur an das Konzept einer "Lösung" richtet. Fangen wir mit dem Letzteren an.

Rechtskulturen

Ob sich nach dem Wechsel eines politischen Systems die Forderung erhebt, nunmehr sei auch das frühere Unrecht aufzuarbeiten, entscheidet letztlich nicht die geltende Rechtsordnung. Sie entscheidet auch nur vordergründig, wie diese Aufarbeitung aussehen und wie sie von statten gehen soll. Falls die Rechtsordnung auf beide Fragen Antworten bereithält - was heute in rechtlichen Systemen, die, wie bei uns, durch Gesetzbücher organisiert sind statt durch Richterrecht, die Regel ist -, darf man daraus nicht einfach schließen, diese Aufarbeitung habe der Gesetzgeber halt angeordnet. Das wäre zwar nicht falsch - er hat es ja getan -, aber es wäre arg oberflächlich gesehen.

Betrachtet man sich die Rechtsordnungen auf unserem Planeten, die es in der vergangenen Zeit unternommen haben, früheres Systemunrecht anzufassen, so gewinnt man den Eindruck, dass kein Bereich des Rechts von der jeweiligen Rechtskultur einer Gesellschaft und eines Staates so intensiv bestimmt ist wie dieser. Die Varianten der rechtlichen Reaktion auf früheres Unrecht sind äußerst zahlreich und können sich überdies instrumentell sehr voneinander unterscheiden. Sie reichen vom schlichten Nichtstun über eine erst viel später einsetzende normative Regulierung, einen sozialen Ausgleich für frühere Opfer des Systems oder deren rechtliche Rehabilitierung, die geheime oder öffentliche Aufdeckung früherer Verstrickungen bei jetzt wichtigen Personen ("Lustration"), sie reichen über "Wahrheitskommissionen" mit freiwilliger und erzwungener Teilnahme bis hin zu milden oder massiven strafrechtlichen Interventionen. Und diese Formen einer Aufarbeitung können, wie etwa bei uns, auch noch in bestimmten Mischungen auftreten.

Die Gründe, die in einem Staat und in einer Gesellschaft, welche ein Unrechtssystem hinter sich haben, dazu führen, dass eine bestimmte Form der Aufarbeitung - oder besser: eine bestimmte Mischung von Formen - Gestalt gewinnt und dass bestimmte Alternativen keine Chance der Verwirklichung haben, sind, wie man sich leicht denken kann, kaum verlässlich aufzuklären. Denn eines ist sicher: Diese Gründe wurzeln in tiefen Schichten einer Rechtskultur. Dort entscheidet sich das Ob einer Reaktion auf früheres Unrecht und auch das Wie. Was danach in den Gesetzbüchern steht, ist ein spätes Notat von Prozessen und Entwicklungen, die - komplex, lebendig, variantenreich und störbar - darüber entscheiden, wie dieses Volk sich zu "seinem" früheren Unrecht verhalten will.

Dabei kann es beispielsweise um die folgenden Faktoren gehen: die Bereitschaft und die Kraft einer Gesellschaft, das frühere Unrecht zu vergessen, es gar zu verzeihen oder mit ihm außerhalb rechtlicher Institutionen irgendwie zurechtzukommen; die aktuelle Unfähigkeit zu einer übereinstimmenden rechtspolitischen Lösung; die kulturelle Wertigkeit von Transparenz, Wissen und Wahrheit, von normativer Genugtuung für erlittenes Unrecht, von Vertrauen in die reinigende Wirkung des Strafrechts oder in die soziale und finanzielle Rehabilitierung von Menschen, die in ihrer Würde, ihrer Freiheit oder in ihrem Eigentum verletzt worden sind. Dass überdies historische Erfahrungen und auch externe Faktoren wie etwa außenpolitische Rücksichten in diese Prozesse intervenieren, bedarf kaum der Erwähnung. So fügt sich das Bild von einem tief begründeten und weithin verborgenen System von Faktoren der Entscheidung, Systemunrecht rechtlich aufzuarbeiten.

Verhältnis von Gerechtigkeit und Rechtsstaat

Vorsicht: Das Gelände, auf das uns das Ausspielen von Rechtsstaat und Gerechtigkeit lockt, ist vermint. Beides gegeneinander auszuspielen, ist eine Rhetorik, die nicht selten erfolgreich ist - freilich regelmäßig bei den falschen Leuten, unter falschen Voraussetzungen und in falschen Situationen. Dahinter steht die - natürlich unausgesprochene - aggressive Annahme, dass der Rechtsstaat gegenüber der Gerechtigkeit ein Umweg ist, dass er gar ein Mittel sei, diejenigen Leute zu täuschen, die wirklich Gerechtigkeit wollen.

Gerade in den Situationen, die wir hier besprechen, gibt es freilich auch eine Gegen-Rhetorik. Sie heißt "kurzer Prozess" und meint, man könne Gerechtigkeit auch zu schnell erreichen und sie gerade deshalb verfehlen. Der kurze Prozess war und ist nicht selten ein probates Mittel derjenigen, welche die Probleme nach dem Sturz des Diktators nicht mit rechtlichen, sondern mit körperlichen Mitteln gelöst haben: Sie haben ihn ohne Verfahren liquidiert. Das ist weniger eine verwegene Romantik als ein Kalkül. Man kennt die Argumente, die für den kurzen Prozess ins Feld geführt werden und die von ferne an das Ausspielen von Gerechtigkeit und Rechtsstaat erinnern: Dieser Mensch hat angesichts seiner Untaten nichts anderes verdient; unser Vorgehen passt auf das seine und leuchtet den Leuten deshalb eher als gerechte Antwort ein als ein langes, papierenes Verfahren. Gegen diese Argumente ist von Rechts wegen nichts zu erinnern; sie haben mit Recht nämlich nichts zu tun. Sie stammen aus den Arsenalen des Krieges und wollen bloß an ihrer Eignung gemessen werden, den Feind ohne eigene Opfer so schnell wie möglich zu erledigen. Dass sie in vielen Situationen ihre faktischen Ziele eher erreichen als die Instrumente des Rechtsstaats, weil sie der in dieser Gesellschaft zu dieser Zeit herrschenden Rechtskultur näher kommen als er, wird sich oft kaum bestreiten lassen.

Nur muss klar bleiben, dass diese Rhetorik nicht auf den Rechtsstaat zielt, sondern auf den Unrechtsstaat. Sie arbeitet mit "Durchgreifen", mit "andere Saiten aufziehen", sie argumentiert mit dem starken Staat und kommt exakt aus der gegenteiligen Ecke rechtspolitischer Orientierung. So haben die Nazis geredet, als sie die wachsweiche Weimarer Republik aufs Korn nahmen. Der Versuch, eine Diktatur aufzuarbeiten und einen Unrechtsstaat zu überwinden, kann so nicht auftreten. Damit beantwortet sich ganz beiläufig die Frage nach der rechtlichen Beurteilung und Behandlung des Diktators. Von situativen Rücksichten abgesehen, die in diesen angespannten Situationen der politischen Klugheit geschuldet und deshalb gerechtfertigt sein mögen, gibt es über die Antwort in der Sache keinen Zweifel: Wer einen Rechtsstaat an die Stelle eines Unrechtsstaats setzen will, muss, sobald er das kann, den Rechtsstaat verwirklichen, er muss für ihn werben, ihn öffentlich ins Werk setzen und für ihn einstehen. Rache wegen früherer Rechtsverletzung mag verständlich sein, für den wachsenden Rechtsstaat ist sie Gift. Politisch belegt eine Behandlung nach den Regeln des Rechtsstaats überdies die Souveränität und moralische Überlegenheit der neuen Rechtsordnung gegenüber Scheußlichkeiten der Vergangenheit. Außerdem ist der Rechtsstaat imstande, diesen Scheußlichkeiten in den Grenzen, die er für gerechtfertigt hält, auch gerecht zu werden.

Die Klage über den Rechtsstaat als Ausweichmodell der Gerechtigkeit lebt von dem Missverständnis, dass wir auf Gerechtigkeit zugreifen können wie auf einen Apfel, es "gebe" sie - zum Greifen nahe. Wäre das so, so wäre der Rechtsstaat in der Tat (sofern es ihn überhaupt "gebe", denn angesichts der greifbaren Gerechtigkeit wäre er wohl überflüssig) ein Umweg, eine Täuschung und nichts als ein falscher Wegweiser; er würde uns Gerechtigkeit vorenthalten und uns stattdessen in die Wüste schicken. Aber so ist es nicht. Gerechtigkeit ist uns zugänglich, sie ist uns aber nicht zur Hand. Kein Mensch kann sicher sein, dass sein Urteil das gerechte Urteil ist. Jeder Mensch, der mit anderen zusammen existiert, weiß, dass andere bisweilen anders denken als er und dass sie bisweilen recht haben, er weiß, dass es Zeit, Nachdenken und auch Belehrung braucht, sich zu orientieren über das, was faktisch geschehen ist und was es normativ bedeutet, und er kann wissen, dass aus allen diesen Erfahrungen des vergesellschafteten Menschen jedenfalls eines folgt: Gerechtigkeit gibt es nicht zum Greifen, Aufheben und Anwenden; sie "ist" nicht, sie "entsteht" - und zwar in Auseinandersetzung mit anderen, im Zuhören, im Beraten, in der Beseitigung von Missverständnissen, im erneuten Versuch nach dem ersten Scheitern, kurzum: in Verfahren und in Formen. Das bedeutet nicht, dass der Mensch nicht das Recht habe, dies für gerecht und jenes für ungerecht zu halten und dabei auch zu bleiben. Es bedeutet aber, dass er nicht das Recht hat, sein Urteil umstandslos auch für andere verbindlich zu machen. Gerechtigkeit ohne Rechtsstaat gibt es nur per Zufall oder als Geschenk des lieben Gottes.

Kraft des Rechtsstaats

Auf die letzte Frage, die sich in unserem Zusammenhang stellt, habe ich keine so eindeutige Antwort. Es ist die bange Frage, ob der Rechtsstaat wirklich imstande ist, einen Neuanfang zu machen, ob er die Kraft, die Geduld, die Subtilität und die Genauigkeit aufbringen kann, die uns von einer "Aufarbeitung" früheren systemischen Unrechts sprechen lassen.

Gewiss wird man beispielsweise annehmen dürfen, dass die beiden Senatsentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ihre Aufgabe erfüllt haben, auf der Grundlage der rechtsstaatlich zustande gekommenen Gesetze eine gerechte Antwort zu finden auf die Konstellationen der Tötungen von "Grenzverletzern" durch "Mauerschützen" und der unhaltbaren strafrechtlichen Verurteilungen durch Gerichte der DDR. Diese Judikate haben einerseits nach Hierarchien und Befehlsstrukturen differenziert und die Strafrechtsfolgen nach dieser Unterscheidung bemessen, andererseits haben sie ihren Beitrag dazu geleistet, den Rechtsstaat in die Pflicht zu nehmen, wenn es um die Rehabilitierung von Menschen geht, die im früheren System zu Unrecht strafrechtlich belangt worden waren. Gewiss sind beide Senate des Gerichts, die mit den unterschiedlichsten Problemkonstellationen zwischen der Rechtspraxis der DDR und dem Grundgesetz befasst gewesen sind, den Anforderungen gerecht geworden, denen eine verfassungsrechtliche Beurteilung genügen muss.

Doch damit ist noch nicht viel gesagt. Für eine "Aufarbeitung" ist das Verfassungsgericht nicht die zentrale Instanz - oder jedenfalls nicht die einzige. Seine Aufgabe, die Übereinstimmung hoheitlicher Akte mit dem Grundgesetz zu überprüfen, setzt spät an und ist eher blass. Viel wichtiger sind die Fachgerichte (und in Strafsachen auch die Ermittlungsbehörden), welche die Sachverhalte zusammenstellen und die dogmatischen Wege finden und ausbauen müssen, auf denen sich die rechtsstaatlichen Botschaften dann transportieren lassen. Am wichtigsten ist die Fähigkeit der gesamten Justiz, nicht nur dogmatisch, sondern auch politisch zu begreifen, was sie tut, und dies der Bevölkerung und ihrer Rechtskultur zu vermitteln.

Betrachtet man gerade die Strafjustiz unter dem zuletzt genannten Maßstab, so bemerkt man alsbald massive Defizite. Sie zeigen in ihrer Gesamtheit, dass unsere Rechtsordnung auf das Problem, das wir hier besprechen, nicht gut vorbereitet ist. Ich nenne nur zwei Stichworte: Verfolgungsgerechtigkeit und Sinn der Strafe.

Verfolgungsgerechtigkeit

Was wir mit einem allgemeinen Begriff "Strafgerechtigkeit" nennen, bezieht sich nicht nur auf Unrecht, Schuld und Strafe, sondern auch auf das Strafverfahren. Der strafende Staat kann Menschen nicht nur durch zu hohe Strafen verletzen, sondern auch durch unübersichtliche, übermäßig belastende oder ungleiche Verfahren wie etwa durch eine Strafverfolgung ohne hinreichenden Tatverdacht oder durch eine überlange Untersuchungshaft.

Unter anderem deshalb schreibt die Strafprozessordnung (StPO) in Paragraf 152 II das "Legalitätsprinzip" vor: die Pflicht der Ermittlungsbehörden, bei jedem "Anfangsverdacht" einzuschreiten. Man kann dies "Verfolgungszwang" nennen und dahinter einen personalen und einen auf die Rechtsordnung bezogenen Sinn erkennen: Dieses Prinzip schützt nicht nur die Betroffenen vor ungleicher Behandlung; es ist zugleich der Grundpfeiler einer Verfolgungsgerechtigkeit und damit eines gerechten Strafverfahrens. Ohne Verfolgungszwang, ohne die Pflicht zur Gleichbehandlung der Betroffenen zu Beginn des Strafverfahrens hätten wir willkürliche Eingriffe in Grundrechte zu befürchten. Das wäre - auch wenn es am Ende nicht zu einer ungerechten Verurteilung führt - in einem Rechtsstaat nicht erträglich.

Wer die rechtspolitische Diskussion bei uns verfolgt, weiß, dass es mit dem Legalitätsprinzip nicht zum Besten steht; es gibt zu viele und zu schwammig gefasste Ausnahmen. Wie aber alle Erfahrung zeigt, ist die Bedrohung der Verfolgungsgerechtigkeit nach dem Ende eines Unrechtsstaats ungleich massiver als in unserem Alltag, sie ist strukturell. Nur die allerwenigsten derer, die sich in der Zeit des systemischen Unrechts nach rechtsstaatlichen Grundsätzen strafbar gemacht haben, geraten überhaupt ins Visier der Ermittlungsbehörden. Die Kriterien sind überdies selektiv: Sie begünstigen beispielsweise, über eine einschränkende Auslegung des Tatbestands der Rechtsbeugung, gerade die Juristen. Alsbald beginnt der in der Öffentlichkeit anschwellende Ruf, doch nun endlich Schluss zu machen mit der Verfolgung. Politische Interessen an einem schnellen Neubeginn in Staat und Wirtschaft stehen einer gleichmäßigen Anwendung des Strafrechts auf alle Verdächtigen zusätzlich im Wege.

Aus diesem Dilemma sehe ich, nachdem auch große Anstrengungen zur besseren Ausstattung der Justiz in der Sache nicht viel geändert haben, keinen Ausweg. Alle Bemühungen, ungleiche Eingriffe zurückzudrängen, haben - auch wenn die Ergebnisse nach der Wiedervereinigung besser waren als die nach dem Zweiten Weltkrieg - am Grundproblem selektiver Strafverfolgung nichts geändert. Dieses Problem ist eine Last aus dem Fortdauern personaler, gesellschaftlicher und auch staatlicher Strukturen über das Ende eines Unrechtssystems hinaus. Es zeigt, dass "Aufarbeitung" und "Neuanfang" in unserem Kontext relative Begriffe sind. Damit müssen wir wohl leben.

Sinn der Strafe

Die Straftheorien, also die Vorstellungen vom Sinn der Strafe, geraten nach der Überwindung eines Unrechtssystems alsbald an ihre Grenzen. Die überkommenen Meinungen, Strafe sei dazu da, Unrecht und Schuld angemessen zu beantworten (Vergeltung, Sühne), den Straftäter zu bessern (Resozialisierung, Spezialprävention) und uns alle von der Kriminalität fernzuhalten (Abschreckung, Generalprävention), stimmen mit den Gegebenheiten hier, wie etwa am Fall Demjanjuk augenfällig wird, kaum überein: Eine angemessene Vergeltung von Unrecht und Schuld, die in unserem Rechtsstaat, der die Todesstrafe abgeschafft hat, ihr oberes Maß in einer lebenslangen Freiheitsstrafe findet, ist angesichts eines Vorwurfs der Tötung von mehreren tausend Menschen unerreichbar. Diese Massivität von Verbrechen sprengt den Strafrahmen und macht jegliche Strafe zu einer bloß symbolischen Reaktion, die im Strafrecht nichts zu suchen hat; sie zerstört unser fein austariertes System der Strafquanten und ist eigentlich, wenn man so will, eine Beleidigung der Opfer. Es ist - aus guten Gründen - kein Ausweg ersichtlich, auf dem man diesen Konsequenzen entgehen könnte. Dass dieser Angeklagte "gebessert" werden könnte - was immer das heißen mag -, dass seine Bestrafung uns alle abhalten könnte, in diese Art Verbrechen abzugleiten, sind lebensfremde und unvernünftige Annahmen; so etwas sollten die Strafjustiz und auch die Strafrechtswissenschaft nicht vortragen. Und wenn das so ist, fehlt der Strafe jedenfalls hier ihr Sinn; und eine sinnlose Strafe ist ein ungerechtfertigter Eingriff in Grundrechte des Bestraften.

Anders als beim Problem der Verfolgungsgerechtigkeit liegt das Dilemma beim Sinn der Strafe freilich nicht im Zusammenstoß von Wirklichkeit und Wert, also nicht dort begründet, wo es die Rechtsordnung aus strukturellen Gründen nicht schafft, die faktische Selektivität der Verfolgung aufzuheben. Es liegt vielmehr auf der Seite des Wertes, nämlich bei den traditionellen Vorstellungen vom Sinn der Strafe. Nicht, dass in solchen Fällen gestraft werden soll, ist das Problem, sondern vielmehr die Theorie, das Warum. Unsere Einsicht, dass die überkommenen Vorstellungen vom Sinn der Strafe in unseren Konstellationen mit einer Strafe nichts anfangen können, fordert nicht dazu auf, nationalsozialistische Gewalttäter nach Hause zu entlassen, sondern dazu, an ihrem Fall über den Sinn der Strafe neu nachzudenken.

Und das geht. In der neueren Strafrechtswissenschaft hat sich ein Verständnis von Strafe verbreitet, das nicht auf unsere Fälle gemünzt ist, ihnen aber ungleich besser gerecht werden kann als Vergeltung, Besserung und Abschreckung. Dieses Verständnis bezeichnet sich als "positive Generalprävention" und fasst uns alle nicht als potenziell Kriminelle an, sondern als Bürgerinnen und Bürger, die in einer Demokratie die Strafgesetze und die Strafen selber mit verantworten und in deren Namen die Justiz Recht spricht.

Strafe ist auch nach diesem Verständnis durchaus ein Übel, das dem Bestraften mit Bedacht zugefügt wird; in dieser verletzenden Reaktion auf das Verbrechen erschöpft sich aber nicht der Sinn des Strafens. Die verletzende Reaktion, die staatliche Strafe, verweist vielmehr auf das Verbrechen als Verletzung einer strafrechtlichen Norm zurück, an deren Bestand und Überleben uns allen gelegen ist, weil sie dem Schutz eines der strafrechtlichen Rechtsgüter dient, die für uns von zentraler Bedeutung, ja unverzichtbar sind. Die Strafe ist Antwort auf die Normverletzung und bringt zum Ausdruck, dass wir es bei dieser Verletzung nicht bewenden lassen, sie nicht hinnehmen und schon gar nicht billigen, dass wir an der verletzten Norm vielmehr jetzt und in Zukunft festhalten.

Erst in diesem weiten Rahmen gewinnen Vergeltung, Besserung und Abschreckung ihren neuen Sinn: als angemessene, verhältnismäßige Reaktion auf Unrecht und Schuld (Gerechtigkeit), als reales Angebot an den Bestraften, die Strafzeit nicht als leere Zeit, sondern als Möglichkeit zu individuellen Fortschritten zu verbringen (Sozialisation), als Chance, die vom Strafrecht geschützten Interessen öffentlich zu behaupten und zu sichern (Rechtsgüterschutz). Mit einem so verstandenen Sinn der Strafe kommen wir im Fall der Gewalttäter zurecht, die ihre Verbrechen im Schutz eines verbrecherischen Systems begangen haben.

Dieser Sinn verpflichtet den strafenden Staat nicht darauf, die Angemessenheit der Strafe als Äquivalent zu Unrecht und Schuld misszuverstehen, sondern darauf, im Sinne des Prinzips der Verhältnismäßigkeit und zum Schutz des Bestraften ein Maß nicht zu überschreiten. Er ist - wie das Prinzip "Auge um Auge, Zahn um Zahn" - nicht die Aufforderung, die Grausamkeit des Verbrechens in der Strafe zu wiederholen, sondern sie jedenfalls nicht zu überbieten. Leistungen der Sozialisation sind ein Angebot des strafenden Staates an den Gefangenen, die sich dem Grundsatz der Menschenwürde verdanken und nicht voraussetzen oder gar voraussagen, der Gefangene werde sie nutzen und an ihnen wachsen. Der Rechtsgüterschutz beschränkt sich nicht auf den Versuch, die Wiederholung dieses bestraften Verbrechens eher unwahrscheinlich zu machen, sondern ist vielmehr ein breites und tiefes Konzept einer langfristigen und kritischen Annäherung der Bürgerinnen und Bürger an ihr Strafrecht. Auch wenn ein Verständnis von positiver Generalprävention Fehlgriffe anderer Konzeptionen vom Sinn der Strafe korrigieren kann: Die Aufarbeitung einer Unrechtsvergangenheit gehört nicht zu den Erfolgsgeschichten der Strafrechtsordnung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zur Abgrenzung zwischen tiefgreifendem Systemwechsel und bloßer Krise meinen Beitrag in: Hans-Jürgen Papier et al. (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, Festschrift für Roman Herzog, München 2009, S. 83ff.

  2. Vgl. die Publikationen im Rahmen des Forschungsprojekts "Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht" des Freiburger Max Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, online: www.mpicc.de/ww/de/pub/forschung/
    forschungsarbeit/strafrecht/
    systemunrecht.htm (11.7.2011).

  3. Vgl. BVerfGE 96, 96.

  4. Vgl. BVerfGE 101, 275.

  5. Vgl. Federal Constitutional Court (ed.), Decisions of the Federal Constitutional Court - Federal Republic of Germany, Bd. 3: Questions of Law Arising from German Unification 1973-2004, Baden-Baden 2005.

  6. Vgl. Winfried Hassemer, Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, Berlin 20092, S. 50ff.; ders., Vom Sinn des Strafens, in: APuZ, (2009) 7, S. 3-6.

  7. Vgl. BVerfGE 98, 169, 200ff.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult.; ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts; Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Grüneburgplatz 1, 60629 Frankfurt/M. E-Mail Link: winfried.hassemer@t-online.de