Einleitung
Von Anfang an stand das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in der Kritik der Politik. Es war noch gar nicht richtig etabliert, da wurde es in den 1950er Jahren in die Kontroverse um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland hineingezogen und drohte, zwischen Regierung und Opposition zerrieben zu werden. Und so ging es weiter: Anfang der 1960er Jahre scheiterte Konrad Adenauers Projekt eines regierungsnahen Fernsehsenders an der Rechtsprechung in Karlsruhe. Das BVerfG stellte fest, dass die Rundfunkgesetzgebung Sache der Länder sei und dass damit dem Bund die Kompetenz für die Gründung eines "Regierungsfernsehens" fehlte. Konrad Adenauer erklärte daraufhin, das Kabinett habe einstimmig beschlossen, dass das Urteil des BVerfG "falsch" sei. Das BVerfG versuchte sich des Angriffs der Bundesexekutive zu erwehren, indem der Präsident des BVerfG Gebhard Müller seinerseits festhielt, dass kein Verfassungsorgan befugt sei, zu beschließen, ein Spruch des BVerfG entspreche nicht dem Verfassungsrecht.
Das setzte sich in der "Verfassungskrise" der 1970er Jahre fort, als das BVerfG mehrere Reformprojekte der sozialliberalen Mehrheit des Deutschen Bundestages stoppte.
Mitte der 1990er Jahre stieß eine Reihe von Entscheidungen des BVerfG auf heftige Kritik in der Öffentlichkeit. Der Erste Senat löste durch die "Sitzblockaden"-Entscheidung, die "Soldaten-sind-Mörder"-Beschlüsse und durch den "Kruzifix"-Beschluss in weiten Bevölkerungskreisen erheblichen Unmut aus.
Das Verfassungsgericht war in diesen immer wiederkehrenden Auseinandersetzungen nicht allein passives Objekt politischer und öffentlicher Kritik. Es suchte seinen institutionellen Rang zu behaupten und bestand in solchen Fällen auf seiner Rolle eines "Hüters der Verfassung".
Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur
Es kann heute keinen Zweifel geben, dass das BVerfG ein wichtiger politischer Faktor im Regierungssystem der Bundesrepublik geworden ist. Seine Entscheidungen haben politische Auswirkungen. Seine Existenz lässt die Politik anders agieren, weil immer die Möglichkeit des "Gangs nach Karlsruhe" droht, also Gesetze und exekutives Handeln vor den Richterinnen und Richtern in Karlsruhe verhandelt und auch für verfassungswidrig erklärt werden können. Die Antizipation von Verfahren und Verdikt verändert die Politik.
In der Tat ist es keineswegs so, dass die 16 Karlsruher Richterinnen und Richter völlig unbeeinflusst von der Politik ihre Entscheidungen treffen können. Sie orientieren sich auch am politischen Umfeld, und auch die Auswirkungen von Entscheidungen auf das Handeln politischer Akteure werden bedacht.
In seiner institutionellen Aufgabenbeschreibung war von Anfang an angelegt, dass das BVerfG mehr als nur ein Schiedsrichter ist, welcher die Einhaltung des politischen Spielregelwerkes überwacht. Die umfassenden Kompetenzen - nicht zuletzt die abstrakte Normenkontrolle - machten es auch zum Streitentscheider, zuweilen zum Streitschlichter,
Der Effekt war und ist, dass das BVerfG immer wieder in den politischen Machtkampf, die politics, verstrickt ist. Es hat auch die grundgesetzliche Ordnung, die polity, entscheidend geprägt und fortentwickelt - von den frühen Entscheidungen zur Bedeutung der Meinungsfreiheit in der Demokratie über die Rolle von Parteien und Medien bis zum Schutz der Privatsphäre in Zeiten großer Datensammlungen.
Damit nimmt das Verfassungsgericht realiter Funktionen war, die nach einem Modell reiner Gewaltentrennung nicht der Judikative, sondern der Legislative, Exekutive und der verfassunggebenden beziehungsweise der verfassungsändernden Gewalt zustehen. Wenn das Verfassungsgericht eine Bedeutung im politischen Alltag der Bundesrepublik Deutschland gewonnen hat, die den anderen Verfassungsorganen von Exekutive und Legislative kaum nachsteht und deshalb auch von einer "Teilhabe" des Gerichts an der "Staatsleitung" oder einem "politischen Machtfaktor" gesprochen wird,
Dabei sollte die Situierung des Verfassungsgerichts in Karlsruhe, in der "Residenz des Rechts", die funktionalen Unterschiede zu den politischen Institutionen in Bonn (später Berlin) verdeutlichen. In der Symbolik institutioneller Distanz brachte sich eine Trennung von Recht und Politik zum Ausdruck, welche in der Kontrolle der Politik durch eine eigene Verfassungsgerichtsbarkeit die Stabilitätsgarantie für eine junge, keineswegs gefestigte Demokratie sah. Insofern war die Etablierung des BVerfG im Jahr 1951 die logische Konsequenz einer Verfassung, die sich als Gegenverfassung zum nationalsozialistischen Deutschland, aber auch zum vermeintlichen Werterelativismus der Weimarer Reichsverfassung verstand.
Im Vorrang der Verfassung, institutionell durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit mit weitreichenden Kompetenzen untersetzt, gab sich zugleich ein Generalverdacht gegenüber "der" Politik und dem System der auf unbeschränktem Mehrheitsprinzip basierenden Demokratie zu erkennen.
Eine solche rechtliche Überformung des demokratischen Systems zeitigte aber Folgeprobleme: Als "Hüter der Verfassung" - vor allem als Garant von Menschenwürde, Grundrechten und Demokratie - musste das BVerfG, wollte es seine Rolle ernst nehmen, unweigerlich in Konflikt mit der Politik geraten. Es schien regelrecht seine Aufgabe zu sein, der Politik ihre Grenzen aufzuzeigen und dabei selber Politik zu machen. Das war von politischer Seite, auch von den Müttern und Vätern der Verfassung, in dem Maße, wie es dann eintreten sollte, sicherlich nicht antizipiert worden.
Kampf um die Deutungsmacht
Dennoch musste das BVerfG zunächst einmal seine Stellung, vor allem in den Beziehungen zu den gewählten Institutionen der Legislative und Exekutive, aber auch zu den Institutionen der rechtsprechenden Gewalt und schließlich zur Öffentlichkeit etablieren und sich anschließend in den Konflikten behaupten.
Das BVerfG deutet die Verfassung. Es verleiht den grundlegenden Ordnungsvorstellungen des politischen Gemeinwesens Ausdruck. Diese sind in den Rechtsnormen der Verfassung kodiert. Sie bedürfen aber einer Deutung und Anwendung im Konfliktfall. So kann jede Entscheidung des Verfassungsgerichts als Deutungsangebot verstanden werden, das nicht zuletzt mittels der tragenden Entscheidungsgründe um Anerkennung der Streitparteien und Befolgung durch Gesellschaft und Politik wirbt. Prinzipiell besteht eine institutionelle Konkurrenz von Verfassungsgerichtsbarkeit und den politischen Institutionen von Gesetzgebung und Exekutive um die Deutung der Verfassung.
Im Wege der Gesetzgebung können Aufträge, die der Verfassungsgeber der einfachen Gesetzgebung auferlegt hat, eingelöst werden. Auch lassen sich Gesetzgebung und deren administrative Umsetzung als Ausgestaltung der in der Verfassung nur als Rahmen rechtlich normierten Ordnung verstehen, weshalb legislatives und exekutives Handeln immer konkretisierende Verfassungsinterpretation in praxi ist. Damit besitzen die politischen Institutionen einen Interpretationsvorsprung, der indes im Konfliktfall in den Interpretationsvorrang der Verfassungsgerichtsbarkeit mündet. Das BVerfG ist von seiner Aufgabe und Funktion der autoritative Interpret der Verfassung und stellt deshalb mit seinen Entscheidungen immer auch den Anspruch auf die Hoheit über die verbindliche Deutung.
Wenn folglich das Deutungsangebot der Verfassungsrichter in einem konkreten Fall Zustimmung von den politischen Institutionen und der Öffentlichkeit erhält, dann kann von der Akzeptanz einer Entscheidung gesprochen werden. Über eine Folge von zustimmungsfähigen Entscheidungen baut sich so ein generalisiertes Vertrauen in die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit auf, das nicht mehr allein von der konkreten Spruchpraxis abhängig ist. Auf diese Weise etabliert sich verfassungsrichterliche Deutungsmacht, die, will sie wirksam bleiben, sowohl das Vermögen des Gerichts (im Einzelfall überzeugen zu können) als auch den Glauben des Publikums (dass die verfassungsdeutende Institution legitim sei) voraussetzt.
Bei dieser Deutungsmacht handelt es sich folglich um eine "weiche" Form der Ausübung von Macht, die gleichwohl in der Lage ist, nachhaltig zu wirken. Sie ist eine Macht mit Veto-, Verhinderungs- und auch Konformitätseffekten. So kann bereits die Drohung, "nach Karlsruhe zu gehen", ausreichen, um verfassungswidriges Tun zu unterlassen oder verfassungsgemäßes Handeln zu initiieren. Die Deutungsmacht des BVerfG beruht damit vor allem auf der Autorität der Verfassungsgerichtsbarkeit als autoritativem Verfassungsinterpreten.
Strategie der Selbstautorisierung
Diese musste sich das BVerfG aber erst erarbeiten. Dabei half ihr anfangs eine Strategie der Selbstautorisierung. Das Gericht erklärte sich in der sogenannten Status-Denkschrift, die 1952 von Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz verfasst wurde und sich an die politischen Verfassungsorgane richtete, selber zum "Verfassungsorgan".
Auch konnte sich das BVerfG auf die Fachöffentlichkeit verlassen, die den Statusbericht positiv aufnahm und ebenfalls eine Stärkung der Verfassungsgerichtsbarkeit befürwortete. Auch die Opposition im Bund hatte ein großes Interesse an einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, sah sie doch in ihr ein Unterpfand für die verfassungsrechtliche Auseinandersetzung um die Wiederbewaffnung, genauso wie die Ministerpräsidenten der Länder, die im BVerfG eine Gewähr gegen eine zu starke Zentralregierung sahen.
Am Ende der 1950er Jahre schien der Status des BVerfG kaum noch ernsthaft bestritten zu werden.
War damit die Machtstellung einer "Institution ohne Tradition"
Zudem hatte sich das BVerfG in jener Phase auch mit mehreren Bundesgerichten in einem inhaltlichen Dissens befunden. Auch hier wurde das BVerfG "eigenmächtig" tätig, indem der Erste Senat 1955 ein Ende der für die Gerichte "wesensfremden" Gutachten beschloss. Der Protest der Präsidenten der Oberen Bundesgerichte lief leer, weil es dem BVerfG gelang, den Bundesgesetzgeber für sein Anliegen zu gewinnen, woraufhin die Novelle des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Gutachten abschaffte. Die Autorität des BVerfG gegenüber den rechtsprechenden Instanzen war somit eindeutig institutionell und prozedural gestärkt worden.
Nach dieser Etablierungsphase verfassungsgerichtlicher Deutungsmacht musste das BVerfG seine Autorität in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den anderen Gewalten zu behaupten suchen. Vor allem die 1970er Jahre sahen eine Reihe von politischen und institutionellen Konflikten im Zusammenhang mit der kritischen Verfassungsrechtsprechung gegenüber Legislative und Exekutive. Dabei wurde sehr wohl die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit, vor allem ihre Interpretationsprärogative, bestritten.
"Politisierung der Verfassungsjustiz" und "Verrechtlichung der Politik"
Nicht selten fanden in dieser Konfliktphase Versuche der politischen Institutionen statt, das BVerfG zu instrumentalisieren, indem in Zeiten starker politischer Polarisierung zwischen Parteien sowie zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition das BVerfG angerufen wurde, um dem politischen Gegner auf dem Feld des Verfassungsrechts eine Niederlage zuzufügen, die sich auf dem Feld der politischen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht erreichen ließ.
Paradoxerweise, so zeigt die historische Bilanz, stärkte der Konflikt um die Judikatur die Deutungsmacht des BVerfG. Dies liegt vor allem darin begründet, dass zum einen gerade die politische Anrufung die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit verdeutlicht und zum anderen die Verfassungsgerichtsbarkeit sich selbst zum Schiedsrichter und Schlichter im politischen Konflikt zu inszenieren verstand. Aus dieser Konfliktphase der 1970er Jahre ging also das BVerfG gestärkt hervor, weshalb in der Folge die Deutungsmacht nicht mehr prinzipiell infrage gestellt wurde. Karlsruhe hatte mehrfach über Bonn obsiegt.
Das BVerfG hat selber im Laufe der Zeit eine institutionelle Praxis ausgebildet, die seine Stellung als Interpret der Verfassung zu befestigen und Deutungsmacht zu beweisen vermochte. Das Gericht "verkörpert" die Verfassung, ihren Wandel und ihre fortdauernde Interpretationsnotwendigkeit. Insofern ist es wie eine jede Verfassungsgerichtsbarkeit das Scharnier zwischen der Ursprungsverfassung und der jeweils geltenden Verfassung. Als autoritativer Interpret ist das BVerfG die entscheidende Institution, die Verfassung auf Dauer zu stellen.
Allerdings läuft eine jede Verfassungsgerichtsbarkeit auch Gefahr, ihre Sonderstellung bei der Interpretation der Verfassung zu überziehen und in der Öffentlichkeit den Eindruck hervorzurufen, dass sie sich selbst an die Stelle der Verfassung setzt. Wenn Entscheidungen "im Namen des Volkes" ergehen, so versucht das BVerfG deshalb immer deutlich zu machen, dass hier allein die Verfassung ausgelegt, also allein dem Willen des Verfassungsgebers oder des die Verfassung ändernden Gesetzgebers Rechnung getragen wird. Allzu deutlich darf die eigenständige, das Grundgesetz auslegende und fortbildende Rechtsprechungstätigkeit nicht hervortreten; sie "versteckt" sich hinter der Verfassung.
Wird die Tätigkeit des interpretierenden Verfassungsrichters nur ausschnittweise sichtbar - für die Bürgerinnen und Bürger spielt sie im Arkanum des Rechts -, so findet auf der anderen Seite eine demonstrativ sichtbare Inszenierung des kollektiven richterlichen Spruchkörpers statt. Die Rituale des Einzugs des Hohen Gerichts in den großen Saal des BVerfG, die Respektbezeugung von Parteien und Publikum, die Verkündungspose sind Mechanismen verfassungsgerichtlicher Selbstinszenierung, welche die Autorität des Verfassungsgerichts und der von ihr autoritativ gedeuteten Verfassung sicht- und spürbar werden lassen. Von dieser Auratisierung der Rechtssphäre und ihrer fallweisen Verkörperung durch die in würdevoller Distanz zur Politik agierende, in roter Robe die Entscheidungen verkündende Richterschaft profitiert ganz ohne Frage eine Institution wie das BVerfG.
Institutionenvertrauen und Entscheidungsakzeptanz
Dem BVerfG ist es gelungen, in den 60 Jahren seiner Tätigkeit ein hohes Vertrauen der Öffentlichkeit zu erwerben, das zugleich seine entscheidende Machtressource darstellt. Es genießt ein hohes, vor allem politische Institutionen überragendes, generalisiertes Institutionenvertrauen, das kurzfristige Erschütterungen und Akzeptanzverweigerungen bei Einzelentscheidungen zu absorbieren vermag. Konkrete Entscheidungen, ihre Akzeptanz oder ihre Ablehnung schlagen kaum auf das hohe generelle Vertrauen durch.
Nicht alle Entscheidungen führten zu politischen Konflikten; genau genommen handelte es sich nur um eine kleine Minderheit. Darüber hinaus werden keineswegs alle Entscheidungen (gerade einmal die Hälfte) in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Wie umstritten eine Entscheidung ist, liegt weniger an der Entscheidungsmaterie selbst, sondern hängt von der öffentlichen Debatte ab, vor allem von der Berichterstattung der Massenmedien. Dabei lassen sich verschiedene Gattungen umstrittener Entscheidungen identifizieren.
Eine Tendenz zur Konflikthaftigkeit scheinen jene Entscheidungen zu besitzen, die eine soziomoralische Konfliktlinie berühren. Bei solchen Entscheidungsmaterien kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie auf unumstrittene Akzeptanz stoßen. Beispiele sind hier die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch oder der "Kruzifix"-Beschluss. Sie zeigen zugleich die Grenzen der Interpretationsmacht des Bundesverfassungsgericht auf. Trifft - wie in der "Kruzifix"-Entscheidung - das Verfassungsgericht die soziokulturelle und religiöse Vorstellungswelt des (in diesem Falle bayerischen) Adressaten nicht, läuft das Interpretationsangebot leer.
Ähnliches scheint für Entscheidungen zu gelten, die in ein parteipolitisch polarisiertes Umfeld fallen. Konflikte sind immer dort vorgezeichnet, wo sich gesellschaftliche und politische Lager um brisante politische Themen gebildet haben und eine im parlamentarischen Gesetzgebungsprozess unterlegene Gruppe das BVerfG anruft, das dann Gefahr läuft, zum "Oppositionsgericht" zu werden. Die Auseinandersetzung um die Reformgesetze der sozialliberalen Regierungskoalition in den 1970er Jahren - von der Ostpolitik über die Gesellschafts- und Bildungspolitik bis hin zur Verteidigungspolitik - haben dies deutlich gezeigt. In beiden Kontexten, dem soziomoralischen und dem parteipolitisch polarisierten Umfeld, kann die Entscheidungspraxis des BVerfG keineswegs befriedend oder streitschlichtend, sondern sehr wohl auch konfliktverlängernd wirken. Hier gilt dann Karlsruhe locuta, causa non finita: Das BVerfG hat dann keineswegs das "letzte Wort".
Von einem eher niedrigen Grad der Konflikthaftigkeit sind solche Entscheidungen, die im "technischen" Bereich des Staatsorganisationsrechts anzusiedeln sind. Von hoher Aufmerksamkeit und öffentlicher Wahrnehmung begleitet, jedoch von ebenfalls niedriger Konflikthaftigkeit sind Entscheidungen, die das Verfassungsgericht als Anwalt der Bürgerinnen und Bürger, zum Teil auch gegen das politische System und seine Akteure auszeichnen.
Ein Beispiel ist hier die Entscheidung zur Volkszählung, die ein Gesetz, das mit fast einstimmiger Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiedet worden war, im Interesse der vom Datenschutz gebotenen "informationellen Selbstbestimmung" der Bürgerinnen und Bürger für verfassungswidrig erklärte. Ähnlich verhält es sich dort, wo das BVerfG zum Ausfallbürgen für die Politik wird und der Untätigkeit der Legislative durch eigene Entscheidungen abhilft, wie es im Familien- und Steuerrecht geschehen ist.
Das hohe generalisierte Institutionenvertrauen zeigt sich demnach als eine Machtressource, die bislang nicht nachhaltig durch Konflikte um einzelne Entscheidungen des Gerichts beschädigt oder verbraucht worden ist. Im Gegenteil: Von den maßgeblichen Verfassungsorganen der grundgesetzlichen Ordnung genießt das Verfassungsgericht bundesweit einen Vertrauensvorsprung vor den anderen, im engeren Sinne politischen Institutionen wie der Gesetzgebung, der Exekutive oder den politischen Parteien.
Bundesverfassungsgericht regiert mit
Das BVerfG hat eine überragende Stellung im politischen System der Bundesrepublik Deutschland gewonnen. Fast 190000 Verfahren beschäftigten das Verfassungsgericht bis Ende 2010, davon rund 182000 Verfassungsbeschwerden von Bürgerinnen und Bürgern.
Das Verfassungsgericht legt die Verfassung nicht nur aus, sie hat sie auch fortgebildet, zuletzt sehr deutlich im Bereich des Datenschutzes. Damit aber scheint die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu bestimmen, was die Verfassung ist. Was der amerikanische Verfassungsrichter Charles Evan Hughes schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagte, gilt auch für die deutsche Verfassungslage: "The constitution is what the judges say it is."
Ein solcher Befund ist demokratietheoretisch nicht unbedenklich, lebt die Demokratie doch davon, dass der verfassungsändernde oder der einfache Gesetzes- und Verordnungsgeber die eigentliche Instanz legitimer politischer Gestaltung ist. Die Befürchtung des Marsches in den "Jurisdiktionsstaat" ist vielfach geäußert worden,
Alle diese Gefahren sind nicht von der Hand zu weisen, Beispiele aus der 60-jährigen Praxis des BVerfG finden sich. Aber zugleich zeigt die Geschichte der Karlsruher Verfassungsgerichtsbarkeit, wie übrigens die anderer Länder auch, dass sich Verfassungsgerichte auch selber zu korrigieren vermögen. Sie haben keineswegs immer das "letzte Wort", auch wenn sie es, um der Vorrangstellung ihrer Institution willen, beanspruchen (müssen). In einer "offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten"
Verfassungsgerichte wie das BVerfG "regieren" mit