Einleitung
Der Aufstieg des Bundesverfassungsgerichts zu einer international einzigartigen, das politische System der Bundesrepublik prägenden Institution ist das Ergebnis seiner eigenen Rechtsprechung. Dass am Anfang jeder grundsätzlichen gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland die Frage danach steht, was die Verfassung gebietet oder verbietet und am Ende eines gesellschaftlichen Konflikts der "Gang nach Karlsruhe" erfolgt, wodurch das Verfassungsgericht im gesellschaftlichen Streit fast immer das letzte Wort hat, gehört heute wie selbstverständlich zur politischen Kultur Deutschlands. Wie immer man diesen Befund bewerten will, zunächst ist es notwendig, diese Kultur als historisch gewachsene zu begreifen und ihre Ursachen in der Rechtsprechung des Gerichts zu suchen.
Der Essay geht der Frage nach, wie Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) - "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" - durch das Bundesverfassungsgericht verstanden und angewendet wird. Die Geschichte der Rechtsprechung zur Menschenwürde ist insoweit speziell, als der Text dieser Verfassungsnorm im Vergleich zu anderen Verfassungsnormen etwas Besonderes vorgibt: Die Menschenwürde soll unantastbar sein. Als Fundamentalnorm des Grundgesetzes ist Artikel 1 Absatz 1 GG rechtlich nicht nur unaufhebbar, sondern vor allem unbeschränkbar. Im Unterschied zu anderen Verfassungsnormen, die aufgrund staatlicher und individueller Interessen beschränkt werden können und müssen, darf die Menschenwürde nicht angetastet werden.
Aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ergibt sich aber noch nicht zwingend, was der zu schützende Inhalt der Menschenwürde ist, oder wann im konkreten Fall die Menschenwürde verletzt wird. Unsere konsentierten Gewissheiten darüber, was das Unantastbare sein soll, sind vielmehr das Ergebnis tiefgehender historischer Erfahrungen und Auseinandersetzungen. So wurde der Satz über die Unantastbarkeit der Menschenwürde 1949 gegen die Entrechtung und Vernichtung des Menschen durch den Faschismus gesetzt. Aber bereits in den 1960er und 1970er Jahren wurde begonnen, sich auch aus anderen Anlässen auf die Unverletzlichkeit der Menschenwürde zu berufen.
So war jahrzehntelang die Diskussion über Abtreibung ein Streit über die Menschenwürde - entweder über die der Mutter oder die des Embryos.
Um sich den Antworten auf diese Fragen zu nähern, soll skizziert werden, welche grundsätzlichen Weichenstellungen das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürde vorgenommen hat, und welche Folgen dies im Einzelnen mit sich brachte.
Menschenwürde als unabwägbares Menschenrecht
Die wichtigste und folgenreichste Weichenstellung des Gerichts im Umgang mit der Menschenwürde liegt darin, Artikel 1 Absatz 1 GG als individuelles subjektives Grundrecht zu verstehen und anzuwenden. Das Gericht hätte angesichts des Verfassungstextes auch anders verfahren können: Es hätte Artikel 1 Absatz 1 GG nicht als subjektives Grundrecht, sondern ausschließlich als objektive Verfassungsnorm interpretieren können. Heißt es doch in Artikel 1 Absatz 3 GG, dass die darauffolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Insoweit war es möglich den Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes erst bei Artikel 2 GG beginnen zu lassen und aus Artikel 1 Absatz 1 GG kein subjektives Grundrecht zu folgern, sondern nur einen objektiven Rechtssatz. Während Ersteres ein vom Individuum einklagbares Recht ist, bezeichnet Letzteres einen "Grundsatz", welcher den Staat zu einem bestimmten Tun verpflichtet.
Dies umso mehr, als die Menschenwürde als Verfassungsnorm im Deutschland vor 1949 keine Tradition hatte.
Die Wirkungen dieser Interpretation der Menschenwürde lassen sich wie folgt beschreiben: Mit der Qualifizierung der Würdegarantie als subjektives Recht entsteht der Zwang, die spezifisch juristische Struktur eines Grundrechts mit Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranken in der Rechtsprechung zur Geltung zu bringen. Mit anderen Worten: Wer eine Grundrechtsprüfung vornimmt, geht in drei Schritten vor. Er muss erstens feststellen, ob das umstrittene Handeln in den Schutzbereich des Grundrechts fällt; nur wenn dies der Fall ist, wird es auch vom Grundrecht geschützt. Im zweiten Schritt muss festgestellt werden, ob in diesen Schutzbereich eingegriffen wurde. Im dritten Schritt wird je nach Schrankenregelung der festgestellte Eingriff gerechtfertigt oder die Verfassungswidrigkeit des Eingriffs festgestellt. Für die Menschenwürde muss nach diesem Schema ein Schutzbereich bestimmt und die Qualität der Schrankenregelung festgestellt werden.
Das Bundesverfassungsgericht ist nicht so verfahren. Es hat nicht zunächst positiv den Schutzbereich der Menschenwürde bestimmt, sondern aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ihre Unabwägbarkeit gefolgert.
Eine Grundrechtsprüfung am Maßstab der Menschenwürde endet demnach bei Schritt zwei, der Feststellung des Eingriffs, weil bereits aus dem Vorliegen des Eingriffs die Menschenwürdeverletzung gefolgert wird. Damit wird die Menschenwürde absolut gesetzt, ohne zu sagen, was inhaltlich von der Menschenwürde geschützt wird. Hinzu kommt der Schutz der Menschenwürde durch die Ewigkeitsgarantie in Artikel 79 Absatz 3 GG, nach der es auch dem Verfassungsgeber verwehrt ist, die Menschenwürde anzutasten.
Man kann nun annehmen, dass es dieses Konstrukt ist, was uns davor schützt, Folter oder andere Verbrechen wider die Menschlichkeit zu legitimieren. Bei einigem Nachdenken kommt man aber schnell darauf, dass ein solches Verbot auch aus den anderen Grundrechten zu folgern wäre. Auch in anderen freiheitlichen, demokratischen Rechtsordnungen, in denen die Menschenwürde nicht als subjektives Grundrecht behandelt wird, gelten derlei Verbote. Es hat dort allerdings nicht die Qualität eines absoluten Verbots.
Die Frage bleibt daher, ob durch den oben beschriebenen Umgang mit der Menschenwürde tatsächlich mehr Sicherheit dafür herstellbar ist, dass wir nicht in barbarische Zustände zurückfallen. Verneint man dies, stellt sich sofort die nächste Frage, ob denn Artikel 1 Absatz 1 GG als selbstständiges subjektives Grundrecht tatsächlich unverzichtbar ist, denn der Preis für die Absolutheit des Schutzes ist das absolute Verbot. Leuchtet das bei der Folter ein, wird es beim Schwangerschaftsabbruch fragwürdig. Man kann dies soziologisch als Tabuisierung
Wie wird Menschenwürde bestimmt?
Das mit der Bestimmung der Menschenwürde als subjektives Grundrecht heraufbeschworene Strukturproblem einer positiven Schutzbereichsbestimmung ist bis heute nicht gelöst und kann im Zweifel auch nicht zufriedenstellend gelöst werden. Zunächst ist bei Artikel 1 Absatz 1 GG jede Schutzbereichsbestimmung nicht nur notwendig von einer bestimmten philosophischen Tradition geprägt, sondern diese Prägungen sind auch das Einfallstor für die Verabsolutierungen einzelner, partikulärer ethischer Auffassungen oder politischer Haltungen.
Dieser Gefahr ist das Gericht scheinbar entgangen. Die positiven Inhaltsbestimmungen der Menschenwürde haben sich in der Rechtsprechung des Gerichts nicht zu einem konkreten, gegenüber anderen Grundrechten abgrenzbaren Normeninhalt verdichtet. Vielmehr entscheidet das Gericht von Fall zu Fall, ob die Menschenwürde verletzt ist. In der Gesellschaft gibt es deshalb auch einen von Fall zu Fall wechselnden Konsens über die einzelnen Verbote, die das Gericht unter Berufung auf die Menschenwürde ausspricht.
Im Unterschied zu anderen Entscheidungen des Gerichts, die auch Entscheidungen zu gesellschaftlichen Konfliktlagen sind, ist aber das Verbot, welches das Gericht wegen der Verletzung der Menschenwürde ausspricht, wegen Artikel 79 Absatz 3 GG weder durch den Gesetzgeber noch durch den Verfassungsgeber beseitigbar. Das Gericht hat mit seinen Entscheidungen unter Berufung auf die Menschenwürde die Macht, Endgültigkeit zu verkünden; das heißt jede gegen die Aufhebung des Verbots gerichtete Bewegung zu blockieren.
Das scheint, wenn es um gesellschaftliche Rückschritte geht oder gar den Rückfall in die Barbarei, eine wünschenswerte Sicherung für den Erhalt des demokratischen Rechtsstaats zu sein. Aber kann es das wirklich, handelt es sich nicht vielmehr um schlichte Überforderung des Gerichts, hinter der seine Überhöhung zum säkularen Verkünder der letzten Wahrheiten steckt?
Wie aber umgeht das Gericht, wenn es die Menschenwürde als Maßstab für die Entscheidung eines Falles anwendet, eine positive inhaltliche Bestimmung des Schutzbereichs der Menschenwürde? Wenn es wegen Verletzungen der Menschenwürde angerufen wird, wendet es zunächst die Objektformel an. Diese gibt ihm scheinbar die Möglichkeit, ohne Inhaltsbestimmung der Menschenwürde einen Eingriff in sie festzustellen.
Relativierung des Würde-Prinzips
Diese Formel, die der Staatsrechtsprofessor Günter Dürig in der Rechtswissenschaft durchgesetzt hat, wurde bereits sehr früh vom Bundesverfassungsgericht aufgegriffen und im Folgenden zu einem festen Bestandteil des gerichtlichen Kanons.
In dieser Art des Objektseins des Menschen sieht das Bundesverfassungsgericht keine Verletzung der Menschenwürde. Vielmehr muss die Behandlung seine Subjektqualität prinzipiell infrage stellen oder in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Missachtung der Menschenwürde liegen.
Diese Formulierungen haben immer wieder zu Recht Rückfragen provoziert. So fragt etwa der Rechtsphilosoph und Verfassungsjurist Hasso Hofmann: "Was heißt Ausdruck der Verachtung des Person-Wertes? Wann ist eine staatliche Maßnahme 'Ausdruck' einer solchen Verachtung? Und: gibt es außer der 'willkürlichen Mißachtung der Würde des Menschen', von der das Gericht spricht, auch noch eine willkürfreie?"
Günter Dürig selbst hat die Relativierung des absoluten Achtungsanspruchs des Würde-Prinzips durch den "subjektiven Faktor" kritisiert.
Daraus wird ersichtlich, dass auch Dürig, zumindest was Verletzungstatbestände angeht, auf den gesellschaftlichen Konsens abgestellt hat. Was aber, wenn ein Konsens in der Gesellschaft über das, was eine Verletzung der Menschenwürde ist, gerade nicht herstellbar ist und das Verfassungsgericht zur Entscheidung angerufen wird? Kann das Gericht diesen Konflikt entscheiden, ohne abzuwägen? Kann es die Objektformel für den Einzelfall so konkretisieren, dass sie verlässlich ein normatives Prüfprogramm ergibt?
Diese Frage zu stellen, heißt, sie zu verneinen: Verlässlichkeit bei der Konkretisierung der Objektformel ist nur erwartbar, wo geistesgeschichtlich und rechtsvergleichend kein anderes Urteil möglich ist als die Annahme einer Würdeverletzung. Überall dort aber, wo die Dinge nachhaltig in Streit geraten, kann das Gericht nur seine eigene Dezision an die Stelle des nicht vorhandenen gesellschaftlichen Konsenses setzen. Dazu aber muss es das tun, was es immer tut: werten und abwägen - ausgehend vom Vorverständnis der beteiligten Richterinnen und Richter. Sich dieser Einsicht zu stellen, bedeutet nichts weiter als das Gericht als das wahrzunehmen, was es ist: eine diesseitige fehlbare Instanz, die in sich noch mal den gesellschaftlichen Konflikt austrägt, wegen dessen es angerufen wurde, bevor es eine Entscheidung findet.
Dies ist beim Streit um die Menschenwürde umso mehr der Fall, als hier ein verlässliches normatives Programm weithin fehlt. Worum die Richter dabei methodisch und inhaltlich streiten, ist vom Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde sehr deutlich formuliert worden, als er nach den geistigen Grundlagen unserer Menschenwürdevorstellungen gefragt hat: "Ist die Würde des Menschen in ihrem Kern das Unverlierbare und Unverfügbare, das den Menschen auszeichnet, die metaphysische Verankerung seines personalen Seins, aus der die Menschenrechte fließen und die selbst jeder Disposition entzogen ist? Oder bedeutet Menschenwürde primär die Fähigkeit zur autonomen Selbstbestimmung, ist sie im Kern das Recht auf diese Selbstbestimmung und Selbstdarstellung, gewissermaßen der höchste Gipfel der Menschenrechte, worin die Freiheit der Disposition auch über sich selbst und die moralischen Bindungen und Pflichten, denen man sich unterstellt, eingeschlossen ist? Lsst sich die Würde des Menschen - so oder anders verstanden - immanent-rational, mit den Mitteln autonomer Vernunft und aus der Vernunftbegabtheit des Menschen begründen, oder bedarf es zu ihrer Begründung des Rückgriffs auf etwas vorausliegendes, transzendentes, das letztlich nur metaphysisch oder religiös-theologisch auszumachen ist?"
Menschenwürde und Recht auf Leben
Die dritte Weichenstellung, die das Gericht in seiner Rechtsprechung zur Menschenwürde vorgenommen hat, ist die Kopplung der Menschenwürde mit anderen Grundrechten, insbesondere mit dem Recht auf Leben.
Am Verhältnis von Artikel 1 Absatz 1 GG zum Recht auf Leben kann dies exemplarisch skizziert werden. Das Gericht koppelt die Menschenwürde mit dem Recht auf Leben hinsichtlich des personellen Geltungsbereichs. Der personelle Schutzbereich des Grundrechts auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 GG sei mit Artikel 1 Absatz 1 GG untrennbar verbunden. "Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; (...) die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen."
Das Grundgesetz aber regelt die Würde des Menschen in Artikel 1 Absatz 1 und das Recht auf Leben in Artikel 2 Absatz 2 voneinander getrennt. Nach dem Grundgesetz soll die Menschenwürde unantastbar sein, während das Recht auf Leben demgegenüber unter Gesetzesvorbehalt gestellt wird. Geht man aber wie das Gericht davon aus, dass die Menschenwürde und das Lebensrecht bei einem Eingriff immer gemeinsam betroffen sind,
Mit diesen Dezisionen in den Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch hat das Gericht nicht nur eine selbstbestimmte Schwangerschaft stark beschränkt, sondern tief in existenzielle und weit in die Zukunft reichende Grundfragen eingegriffen. So wird in allen aktuellen Diskussionen in der Gentechnik unter Berufung auf die Menschenwürde damit abgeblockt, dass uns dieses oder jenes Vorgehen durch Artikel 1 Absatz 1 GG verboten sei.
Dies geschieht vor allem auch deshalb, weil sich das Gericht in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ausdrücklich gegen einen abgestuften Lebensschutz ausgesprochen hat: "Das Grundgesetz enthält für das ungeborene Leben keine vom Ablauf bestimmter Fristen abhängige, dem Entwicklungsprozess der Schwangerschaft folgende Abstufung des Lebensrechts und seines Schutzes. Auch in der Frühphase einer Schwangerschaft hat die Rechtsprechung deshalb dieses Maß an Schutz zu gewährleisten."
Dabei ist vielfach zu Recht darauf hingewiesen worden, dass, obwohl das Bundesverfassungsgericht einen abgestuften Lebensschutz verneint, die befruchtete Eizelle nach den Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch keineswegs absolut geschützt ist. Sie darf beispielsweise durch Benutzung einer Spirale an der Einnistung gehindert und ausgeschieden werden. Nach der Nidation darf das ungeborene Leben bis zur 12. Woche abgetötet werden, wenn die Schwangere die Schwangerschaft als schwere, außergewöhnliche und unzumutbare Belastung empfindet. Bis zur 22. Woche darf abgetrieben werden, wenn nach ärztlicher Erkenntnis das Leben oder die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren gefährdet sind, unter anderem durch die Belastung der Schwangeren mit einem vermutlich behinderten Kind. Es gibt also trotz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch durchaus Abstufungen und Abwägungen beim Lebensschutz des Embryos in vivo.
Wenn dem so ist, warum dann die Berufung des Gerichts auf die Menschenwürde mit der Folge der Aufrechterhaltung des strafrechtlichen Abtreibungsverbots in Paragraf 218 des Strafgesetzbuches? Das Verfassungsgericht konnte beim zweiten Abtreibungsurteil nur noch den Schein eines absoluten Verbots wahren. Es hat mit dem Passieren lassen einer Fristenlösung mit Beratungspflicht zwar den Gesetzgeber zum Teil korrigiert, ist aber letztlich, indem es abgewogen hat, über weite Strecken dem gesetzgeberischen Kompromiss gefolgt. Das ist vom Ergebnis zu begrüßen, überzeugt aber in der Begründung nicht.
Dass die beim Schwangerschaftsabbruch gefundene Lösung einer normativen Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 GG entsprechen soll, leuchtet nicht ein. Naheliegend ist vielmehr die Verneinung einer Kongruenz von Menschenwürde und Lebensschutz, wie sie in Teilen der Rechtswissenschaft vertreten wird - mit der Folge, dass für das vorgeburtliche Leben kein absoluter Lebensschutz gilt, sondern ein abgestufter. Man kann, wenn man Lebens- und Würdeschutz entkoppelt, beim Lebensschutz des Embryos wegen des Gesetzesvorbehalts in Artikel 2 Absatz 2 Satz 3 GG differenzieren und gestufte Lösungen gemäß den verschiedenen Entwicklungsstadien menschlichen Lebens begründen.
Wider den inflationären Gebrauch des Menschenwürdearguments
Kann man das juristische Dilemma, dass durch die weichenstellenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei der Interpretation der Menschenwürde entstanden ist, beheben? In der Tat, aber dass kann nur das Gericht selbst. So wie der heute herrschende Umgang mit der Menschenwürde durch die Interpretationen des Gerichts entstanden ist, kann er nur von ihm selbst korrigiert werden. Dazu muss sich das Gericht nicht nur dem inflationären Gebrauch des Menschenwürdearguments widersetzen, sondern es muss vor allem den Versuchen einer partikulären gesellschaftlichen Einvernahme unter Berufung auf die Menschenwürde widerstehen.
Die Herausforderung liegt darin, bei der Anwendung von Artikel 1 Absatz 1 GG einen operationalisierbaren Schutzbereich zu konturieren und die Objektformel so zu konkretisieren, dass Eingriffe feststellbar werden, ohne dass das Abwägungsverbot umgangen wird. Dieses Problem könnte dadurch gelöst werden, dass man die Rechtsqualität oder den Regelungscharakter von Artikel 1 Absatz 1 GG minimiert und seine Bedeutung auf das einengt, was nach allgemeiner Überzeugung auch dann gelten würde, wenn es Artikel 1 Absatz 1 GG als subjektives Grundrecht nicht gäbe. Solche juristische Zurückhaltung hätte den Vorteil, Entscheidungen zu vermeiden, in denen das Menschenwürdeargument als säkulare Verkündung missbraucht wird.