Einleitung
Muslimische Frauen haben sich inzwischen einen festen Platz in der deutschen und europäischen Gesellschaft erobert: Sie sind heute nicht nur Ärztinnen, Anwältinnen und Bankerinnen, sondern sie spielen auch in der Öffentlichkeit unübersehbare bis glanzvolle Rollen. In Niedersachsen hat mit Aygül Özkan eine bekennende Muslimin türkischer Herkunft ein Ministeramt inne, die türkeistämmige Schauspielerin Renan Demirkan ist in deutschen Filmen eine feste Größe, und Yasmeen Ghauri, Fotomodell deutsch-pakistanischer Abkunft, ziert die Titelseiten internationaler Frauenmagazine.
Es sind Erfolgsgeschichten wie diese, die in den Medien verbreitet und als Beispiele sowohl gelungener Integration als auch Emanzipation vermarktet werden - wohlgemerkt auf der Folie eines Bildes von der weitgehend ins Haus verbannten, der deutschen Sprache kaum mächtigen und unterdrückten muslimischen Frau, wie sie als westliches Stereotyp durch die Medien und Diskussionsrunden geistert.
Muslimische Frauen hatten und haben es also schwer, sich ihren Platz in der westlichen Gesellschaft zu erkämpfen. Einerseits diskriminiert durch einen stereotypen westlichen Blick auf den Islam, andererseits möglicherweise eingeengt durch ein von patriarchalischen Wertvorstellungen geprägtes familiäres und persönliches Umfeld, suchen sie als bekennende Musliminnen meist vergeblich Unterstützung bei Feministinnen; eine Situation, welche die (muslimische) Sozialwissenschaftlerin Corrina Gomani wie folgt charakterisiert: "Während sich an der Kopftuchfrage und Stellung der muslimischen Frau im Islam das säkulare Weltbild westlicher Einwanderungsgesellschaften und Demokratien entzündet, wird leicht übersehen, dass sich auch im inner-islamischen bzw. muslimischen Diskurs die Geschlechterfrage weitaus komplexer aufzeigt als dies vielleicht den Anschein hat. Auch hier werden vielleicht mehrere Kontroversen berührt: die Kontroverse zwischen Traditionalismus und Verwestlichung, zwischen Islamismus und Säkularismus und zwischen Feminismus und Islamismus."
Muslimische Frauen in Europa reagieren aktiv auf diese vielfältigen Herausforderungen. Es gibt unter ihnen eine starke Bewegung weg von einem patriarchalischen und hin zu einem egalitären, gendergerechten Islamverständnis. Diese Bewegung findet sich sowohl in den alten, gewachsenen muslimischen Gesellschaften wie auch in den jungen islamischen Gemeinschaften des Westens.
Islambild des Westens und Migrationsproblematik
Es sind jedoch nicht nur die veralteten innerislamischen Vorstellungen von Frauenrollen, die für Musliminnen eine Herausforderung darstellen, sondern es ist gleichzeitig das westliche Islambild, das es muslimischen Frauen schwer macht, sich in einer säkularen Öffentlichkeit zu behaupten: Viele Bürgerinnen und Bürger westlicher Staaten halten Muslime generell für fanatisch, gewaltbereit und intolerant, hegen starke Zweifel an ihrer Demokratiefähigkeit und sind mehrheitlich der Ansicht, dass das Leben in einer modernen, westlich geprägten Gesellschaft und ein Leben als frommer Muslim sich ausschließen.
Die Antwort der deutschen Musliminnen auf dergleiche Angebote ist eindeutig: "Ich dachte, wir könnten nach der Sarrazin-Debatte endlich wieder sachlich miteinander umgehen, aber dann fängt der neue Innenminister wieder mit dem Islam an."
Die Vorbehalte der Mehrheitsgesellschaft gegenüber muslimischen Zuwanderern machen sich also sowohl an ihrer Herkunft als auch an ihrer Religion fest,
Unterschlagen wird in dieser Debatte um eine generelle Integrationsfähigkeit des Islam und die Bringschuld der Migranten das persönliche Schicksal der Eingewanderten einschließlich der zweiten und dritten Generation, das häufig durch Erfahrungen von Gewalt und Unterdrückung gekennzeichnet ist. Es waren bedrückende politische wie wirtschaftliche Bedingungen in den Entsenderländern, die vor allem jungen Menschen und Angehörigen religiöser Minderheiten die Migration in solche Länder erstrebenswert erscheinen ließen, von denen sie sich politische Freiheit und wirtschaftliche Prosperität erhofften.
Für einen nicht unbedeutenden Prozentsatz der Migranten bedeutete und bedeutet ihre Religion jedoch gerade in der Fremde Lebensorientierung und Halt. Der Islam in seiner doppelten Funktion als Glaubenssystem und Lebensordnung kann Orientierung hinsichtlich der konkurrierenden eigenen kulturellen Werte und derjenigen der Aufnahmegesellschaft bieten und die Maßstäbe für zwischenmenschliches Handeln setzen.
Traditionelles Frauenbild
Im Rahmen einer solchen Rückbesinnung auf konservative islamische Werte kommt es gerade hinsichtlich der Frage nach der Rolle von Frauen und Mädchen zu einer intensiven Reflexion über angemessenes Verhalten (adab), bei der man sich einerseits an gewohnten Rollenbildern orientiert, andererseits aber auch die vorhandene Traditionsliteratur (adab-Literatur) sowie deren Grundlagen zunächst einmal wahrnimmt, um sie anschließend kritisch zu reflektieren.
In traditionellen Islaminterpretionen dominiert eine deutliche Vormachtstellung des männlichen Familienoberhaupts - ähnlich verhält es sich im Hinblick auf traditionelle Auslegungen im Judentum und Christentum. Der Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit, der in einigen Ländern den Ausschluss der Frauen aus der Moschee und damit vom gemeinschaftlichen Gebet einschließt, ein Erbrecht, das ihnen nur die Hälfte des männlichen Anteils zugesteht, und eine mindere Stellung als Zeugin in Gerichtsverfahren verstärken die Unbalanciertheit.
Auch wenn eine sorgfältige Koranexegese deutlich macht, dass die Diskriminierung von Frauen im Koran keinerlei Grundlage hat,
Als hinderlich auf dem Weg der Frauen zu einem selbstbestimmten Leben erweist sich nach Ansicht des islamischen Rechtsgelehrten Khaled Abou El Fadl auch der Autoritarismus als die durch eine veraltete islamische Rechtswissenschaft abgesegnete Form sozialer Organisation, die das Miteinander sowohl in politischer wie auch in privater Hinsicht prägt.
Vom Harem zum "Gender Jihad"
Trotz konservativ-orthodoxer Tendenzen, wie sie sich zurzeit im europäischen Islam als Reaktion auf die eigene Migrationsgeschichte zeigen, kann nicht bestritten werden, dass sich die Stellung muslimischer Frauen in den vergangenen Jahrzehnten zum Positiven hin verändert hat. Es waren vor allem Frauen aus traditionell muslimischen Staaten, die im Zuge der Öffnung dieser Länder in Richtung Europa zunächst Zugang zu europäischen und amerikanischen Bildungseinrichtungen erlangten, um dann zu Vordenkerinnen in eigener Sache zu werden und die Frauenfrage auf genuin islamischem Hintergrund aufzurollen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die marokkanische Sozialwissenschaftlerin Fatima Mernissi, bekannt als "Mutter des islamischen Feminismus",
Frühe Kritiker der Ungleichbehandlung von Frauen und Männern, wie etwa der Universalgelehrte Ibn Rushd (1126-1198), der diese als Ursache für Armut und Unterentwicklung ansah, blieben in islamisch geprägten Ländern lange ungehört.
Obwohl Modernisten von Sir Syed bis Qasim Amin betont hatten, dass es gerade der Islam sei, der den Frauen gleiche Rechte wie den Männern gewähre, und dass jedwede Art von Reform von einer Rückkehr zu islamischen Prinzipien auszugehen habe, blieb es den säkularen Nationalstaaten überlassen, die tatsächliche Rolle der Frauen entscheidend zu verändern und ihren Status zu verbessern, und das, indem sie die Macht religiöser Autoritäten massiv beschnitten.
Trotz des Anpassungsdrucks, den islamistisch legitimierte Systeme auf Frauen und Feministinnen ausüben, sind inzwischen überall in der islamischen Welt Bewegungen entstanden, in denen Frauen hörbar ihre Stimme erheben, um ihre Rechte einzuklagen - entweder durch Berufung auf den Islam selbst oder durch bewusste Abkehr von einem als restriktiv und frauenfeindlich empfundenen Islam. Intellektuelle Vorbilder sind für erstere Gruppe Frauen wie die bereits oben erwähnte marokkanische Sozialwissenschaftlerin Fatima Mernissi, die pakistanische Theologin Riffat Hassan, die in Malaysia aktive Amina Wadud und die aus Ostafrika stammende Irshad Manji, die über eine feministische Koranexegese und kritische Sichtung der Hadithe (Überlieferungen der Aussagen Muhammads) den Islam in einem neuen, geradezu feministischen Licht erscheinen lassen. Dabei beschreibt der Titel eines von Amina Wadud verfassten Buches Inside the Gender Jihad das Paradigma der neuen muslimischen Frauenbewegung: den Kampf um gleiche, von der eigenen Religion verbriefte Rechte für Frauen innerhalb der weltweiten islamischen Gemeinschaft. Dies bedeutet nicht nur eine Revision der überholten Familiengesetzgebung, sondern auch der religiösen Praxis: 2005 leitete Wadud in New York als Imam das traditionelle Freitagsgebet für Frauen und Männer.
Problem mit dem westlichen Feminismus
Obwohl der fulminante und gelegentlich mit großen persönlichen Risiken verbundene Einsatz muslimischer Frauen für Gendergerechtigkeit eine Erfolgsgeschichte ist,
Über diese ideologischen Vorbehalte der europäischen Feminismusbewegung hinaus sind es letztlich konkrete Machtinteressen, die zum kritischen Verhältnis zwischen christlich-säkularen und muslimischen Feministinnen führen.
Frauen, Islam und Europa
Muslimische Frauen in Europa sehen sich also heute vielfachen Herausforderungen ausgesetzt: Konfrontiert mit den Vorurteilen der Mehrheitsgesellschaft, möglicherweise belastet durch die familiäre Migrationsgeschichte, eingeschränkt durch eine traditionelle Lesart der Scharia und abgelehnt von der westlichen feministischen Bewegung, suchen sie ihren Platz in der europäischen Gesellschaft zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Darauf reagieren muslimische Frauen mit einer allgemein zu beobachtenden Intellektualisierung, indem die eigene Lebenssituation als Muslimin, aber auch der Islam selbst hinterfragt werden. Dies kann, bei entsprechend negativen eigenen Erfahrungen und Einsichten, zu einer bewussten Distanzierung von der angestammten Religion führen, wie zum Beispiel bei der türkeistämmigen Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek, der aus Somalia gebürtigen niederländischen Politikerin Ayaan Hirsi Ali, der ägyptischen Frauenrechtlerin Sérénade Chafik, der türkeistämmige Frauenrechtlerin und Anwältin Seyran Ate und den ebenfalls türkeistämmigen Autorinnen Sonja Fatma Bläser und Serap Çileli. Die Genannten, vielfach ausgezeichnet für ihren Einsatz für Frauen- und Menschenrechte, rufen die Öffentlichkeit immer wieder auf, Menschenrechtsverletzungen an jungen Frauen und Mädchen in ultrakonservativen muslimischen Familien nicht zu übersehen oder gar zu tolerieren. Von islamischer Seite wird ihnen daher häufig Verrat an der eigenen Religion vorgeworfen, der sich bis zu Morddrohungen steigern kann.
Eine weitere Frauengruppe verortet sich bewusst, auch als betonte Abkehr vom "westlichen Kulturimperialismus", innerhalb des Islam und versucht, über eine progressive Lesart von Koran und Hadithen die Situation der Frauen zu verbessern. Dabei orientieren sie sich oftmals an Bewegungen, die in den islamischen Ländern selbst entstanden sind und dort Frauenrechtlerinnen hervorgebracht haben. Deren Einfluss ist es nicht nur zu verdanken, dass sich die rechtliche und tatsächliche Situation der Frauen in den genannten Ländern bereits spürbar verbessert hat. Sie zwingen durch ihre öffentliche Präsenz auch islamistische Kreise, die Frauenfrage zu überdenken und neu zu diskutieren. Dabei können durchaus strategische Überlegungen eine Rolle spielen, denn: "It is extremely important for Muslim women activists to realize that in the contemporary Muslim world, laws instituted in the name of Islam cannot be overturned by means of political action alone, but through the use of better religious arguments. (...) The importance of developing (...) 'feminist theology' in the context of the Islamic tradition is paramount today in order to liberate not only Muslim women, but also Muslim men, from unjust social structures and systems of thought which make a peer relationship between men and women impossible."
Die geforderten Argumente finden neben den bereits genannten Feministinnen Amina Wadud, Riffat Hassan, Irshad Manji, Fatima Mernissi auch progressive Theologinnen wie Nahide Bozkurt oder Asma Barlas auf dem Weg einer zeitgemäßen Koranexegese, bei der es darum geht, den "Hintergrund des Textes zu beleuchten und den historischen Kontext sichtbar zu machen, in dem der Koran offenbart und interpretiert wurde".
Neben den Theologinnen gibt es inzwischen eine ganze Gruppe von muslimischen Frauen in gesellschaftlichen Schlüsselstellungen, die über Veröffentlichungen und Diskussionsforen ihre Stimmen erheben und ihren Platz als europäische Muslimin in der Mitte der Gesellschaft selbstbewusst einfordern. Hier sind zum Beispiel diejenigen Wissenschaftlerinnen zu nennen, die im Umfeld der neu errichteten Lehrstühle für islamische Religion ihre progressiven Ansätze in die islamische Religionsforschung und -pädagogik einbringen,
Kurzum: Muslimische Frauen wenden sich verstärkt Frauennetzwerken sowie säkularen wie dezidiert muslimischen Frauenbewegungen zu, um ihre Interessen sowohl in den islamischen als auch in den westlichen Gesellschaften zu thematisieren und öffentlich zu machen, entweder durch erklärte Distanz zum Islam, über die bewusste Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen, oder aber gerade in Zusammenhang mit einer betonten Hinwendung zu ihrer Religion als Reaktion auf Diskriminierungs- oder Migrationserfahrungen. Sie forcieren besonders die Möglichkeit einer progressiven bis feministischen Koranexegese, um daraus sowohl Argumente für ihre Gleichstellung innerhalb der islamischen Gemeinschaft abzuleiten, als auch Vorurteilen gegenüber einem angeblich nicht reformfähigen Islam zu begegnen. Dabei erweist sich der Islam als eine Religion, die sich gerade durch ihren Rückgriff auf liberale Traditionen als beweglich in ihrer Reaktion auf die Moderne erweist - eine Bewegung, die sich vor allem dem aktiven Engagement von muslimischen Frauen verdankt.