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Gleichstellung in Deutschland im europäischen Vergleich

Silke Bothfeld Gesine Fuchs Silke Bothfeld Gesine Fuchs /

/ 22 Minuten zu lesen

Die Gleichstellung ist ein vielschichtiges Ziel, das neben gleichen Rechten und Pflichten auch gleiche Chancen auf Geld, Macht, Zeit und Anerkennung einschließt. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland eine Position im Mittelfeld ein.

Einleitung

Die politische Debatte um Gleichstellungspolitik dreht sich derzeit allein um die Frage, ob eine verbindliche Festschreibung eines Frauenanteils in den Vorständen großer Unternehmen erfolgen sollte. Dabei wird betont, wie investiv oder innovationsfördernd eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern im Erwerbsleben sei. Das Gutachten zum Ersten Gleichstellungsbericht, das die Sachverständigenkommission im Januar diesen Jahres an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend übergab und das ein umfassendes Bild der sozioökonomischen Situation der Frauen in Deutschland zeichnet, wird hingegen kaum öffentlich debattiert, selbst im zuständigen Bundesministerium ist wenig Interesse zu erkennen. Feministische Beobachterinnen und Beobachter kritisieren daher zurecht seit geraumer Zeit, dass Gleichstellungspolitik zunehmend auf gleiche Karrierechancen oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie reduziert würde, strukturelle Diskriminierungen und deren Ursachen aber aus dem Blick gerieten. So äußert sich die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zum Gleichstellungsbericht weder zur geforderten Abschaffung des Ehegattensplittings, noch zu geringfügiger Beschäftigung.

Tatsächlich ist die Gleichstellung der Geschlechter eine komplexe Idee, die mehrere normative Prinzipien umfasst, welche in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen können. Nancy Fraser folgend verstehen wir unter Gleichstellung hier die Gleichverteilung von Einkommen, Freizeit, Anerkennung und Macht. Für die Umsetzung dieser Prinzipien ist eine aktive und konsistente Gleichstellungspolitik notwendig. Diese Politik muss Frauen und Männern die Möglichkeit eröffnen, sowohl Erwerbs- wie Sorgearbeit für andere Menschen zu leisten, und sie muss Armut und Marginalisierung verhindern, das heißt beiden Geschlechtern politischen Einfluss und soziale Teilhabe ermöglichen. Gleichheit als eine Leitnorm der Moderne ist auch ohne ökonomische Vorteile ein gesellschaftspolitisches Ziel.

Für diesen Beitrag beleuchten wir einige wenige wesentliche Dimensionen der Gleichstellung in Deutschland im europäischen Vergleich, reflektieren die bisherige Politik dazu und fragen nach Handlungsmöglichkeiten. Dazu gehören die Werte und Einstellungen in der Bevölkerung, die Beteiligung an der Politik als Grundvoraussetzung für politischen Einfluss, die Bereiche Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit sowie Recht und Schutz vor Diskriminierung. Es zeigt sich, dass Deutschland im europäischen Vergleich nach wie vor eine Position im Mittelfeld einnimmt. Als Ergebnis skizzieren wir Geschlechtergerechtigkeit als Teil eines modernen Demokratiebegriffs und zeigen auf, dass ein notwendiger Schritt für mehr Konsistenz in der Politik eine offene Debatte konfligierender Interessen und Wertvorstellungen wäre.

Wahrnehmung des Problems

Die Gleichstellung der Geschlechter als deklariertes politisches Ziel ist in den vergangenen Jahren präsenter geworden. In Deutschland wird die Ungleichbehandlung der Geschlechter von etwa zwei Dritteln der Bevölkerung als "sehr" oder "ziemlich" verbreitet wahrgenommen, ähnlich wie in der EU 27 (vgl. Abbildung 1 in der PDF-Version). Dies scheint zumindest teilweise mit eigenen Erfahrungen von Diskriminierung zu erklären sein, denn Frauen empfinden dies in stärkerem Maße als Männer, und überall nimmt die jüngste Altersgruppe (15 bis 24 Jahre) am wenigsten Ungleichbehandlung wahr. Aus vorhergehenden Eurobarometern mit ähnlichen Fragen kann geschlossen werden, dass das Problembewusstsein für Diskriminierung in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Aus vorgegebenen Handlungsfeldern für eine Gleichstellungspolitik der Geschlechter bezeichnete 2009 eine Mehrheit die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (66% in Deutschland, 62% in der EU) und das Schließen der Lohnlücke als prioritär (62% in Deutschland, 50% in der EU). In einer Befragung zu Diskriminierung allgemein befürworteten gar 75% in Deutschland die "Umsetzung spezieller Maßnahmen für Chancengleichheit am Arbeitsplatz aufgrund von Geschlecht". Politikinhalte werden als wichtiger erachtet als weibliche Präsenz in der Politik: Nur 11% der Befragten in Deutschland (16% in der EU) sahen die politische Repräsentation als eines der drei drängendsten Probleme im Vergleich. Festzuhalten bleibt, dass es ein ausgeprägtes Bewusstsein für das Problem der Gleichstellung gibt und dass auf einer abstrakten beziehungsweise allgemeinen Ebene eine stabile Basis für aktive Chancengleichheitsmaßnahmen in Deutschland besteht, aufgrund dessen sich politische Mehrheiten organisieren ließen.

Gleichstellung in der Politik

Viele Gründe sprechen für das Ziel einer Parität der Geschlechter in der Politik. Vor allem zwei Argumente sind hier relevant: Frauen und Männer haben die gleichen Rechte, an politischen Entscheidungen teilzunehmen und sie zu beeinflussen. Die Monopolisierung politischer Macht durch ein Geschlecht ist ungerecht. Zudem können Frauen aufgrund ihrer sozialen Lage andere politische Interessen als Männer entwickeln. Da politische Interessen nicht objektiv vorhanden sind, sondern in einem komplexen Prozess hervorgebracht werden, garantiert eine Beteiligung beider Geschlechter am politischen Prozess nicht nur legitimere, sondern auch angemessenere Entscheidungen. Das Vorhandensein von Frauen als politische Akteurinnen garantiert natürlich kein automatisches Eintreten für geschlechtergerechte oder feministische Politikinhalte, doch konnte gezeigt werden, dass eine Vertretung gleichstellungsrelevanter Inhalte dann wahrscheinlicher ist, wenn auch Frauen repräsentiert sind. So kommt eine aktuelle Studie für den Deutschen Bundestag zum Schluss, dass weibliche Bundestagsabgeordnete eher frauenpolitische Interessen vertreten als Männer, dies aber auch abhängig vom parteipolitischen Kontext ist.

Frauen haben in Deutschland seit 1919 das aktive und passive Wahlrecht, aber ihre Anteile in den Parlamenten verharrten bis in die 1980er Jahre unter der 10%-Marke. Das änderte sich erst mit der Neuen Frauenbewegung und Forderungen nach mehr politischer Macht von Frauen sowie mit dem Aufstieg der Partei Die Grünen. Als erste Partei führten sie eine 50%-Quote für Parteiämter und Wahllisten ein. Heute verfügen SPD, Die Grünen und Die Linke über Quoten, die CDU hat ein sogenanntes Quorum, eine weichere Soll-Bestimmung. Quoten sind wirksam. Sie haben den Frauenanteil in Parlamenten und Parteiämtern wesentlich erhöht; Parteien ohne Quoten haben weniger Mandatsträgerinnen. Die Wirksamkeit von Quoten unterscheidet sich nach Mindestanforderungen, Rangfolgenregeln und Sanktionen. Seit Mitte der 2000er Jahre stagniert der Anteil von Frauen in politischen Entscheidungspositionen: In Deutschland erfüllen die Parteien ihre eigenen freiwilligen Quotenregeln nicht immer, vor allem nicht bei aussichtsreichen Direktmandaten. Aktuell werden in der Forschung für das Ziel der Parität verbindlichere und höhere Vorgaben, eine Erhöhung des Frauenanteils in wichtigen Partei-Führungspositionen, transparentere Nominationsverfahren sowie gesetzliche Quoten für Wahllisten diskutiert.

Im EU-Vergleich zeigt sich, dass Deutschland bei den Frauenanteilen im Bundestag im oberen Mittelfeld liegt (vgl. Abbildung 2 in der PDF-Version). Auch beim Anteil der Bundesministerinnen von 38% (Platz 6 von 27, EU-Durchschnitt: 26%) und in den Landesparlamenten von 32% (Platz 8 von 19, EU-Durchschnitt: 31%) ist Deutschland in der Mitte positioniert. In allen Ländern mit überdurchschnittlicher Frauenrepräsentation im nationalen Parlament gibt es Parteien mit internen Quoten. Das französische Parité-Gesetz verdeutlicht, dass es bei gesetzlichen Quoten für Wahllisten wesentlich auf die Härte der Sanktionen ankommt. Das Gesetz schreibt vor, dass 50% der Kandidaturen einer Partei mit Frauen besetzt sein müssen. Der Frauenanteil in der Nationalversammlung liegt dennoch nur bei 18%. Frauen wurden vorzugsweise in unsicheren oder aussichtslosen Wahlkreisen nominiert oder es wurden finanzielle Kürzungen bei der staatlichen Parteienfinanzierung in Kauf genommen. In den Regionalversammlungen sind Frauen hingegen mit 48% präsent; hier sind Wahllisten ohne Parität ganz einfach ungültig. Dieses Beispiel und die Tatsache, dass die skandinavischen Länder mit nur wenigen Quotenregelungen hohe Frauenanteile erreichen, zeigt, dass gleichberechtigte Repräsentation der Geschlechter eine Frage der politischen Kultur und gesellschaftspolitischer Werte ist, die sich in parteiinternen Entscheidungs- und Nominationsprozessen niederschlagen.

Nominierte Gremien weisen nach wie vor viel geringere Frauenanteile auf. Im Bundestag sitzen zurzeit ein Drittel weibliche Abgeordnete. Im Bundesrat, dessen Mitglieder von der jeweiligen Landesregierung nominiert werden, liegt der Frauenanteil nur noch bei 26%. Beiräte, Kommissionen oder Ausschüsse im Einflussbereich des Bundes, die als beratende Gremien zunehmend Einfluss auf die Politikgestaltung bekommen, werden ebenfalls ernannt. Hier liegt der Frauenanteil nur bei rund 20%, obwohl das Bundesgremienbesetzungsgesetz von den Stellen des Bundes einen Doppelvorschlag Mann/Frau verlangt. 2005 gab es noch 14% reine Männergremien. Prominente Gremien sind nach wie vor weit von einer paritätischen Besetzung entfernt, wie zum Beispiel die Kommission "Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt", welche die Hartz-Reformen wesentlich vorbereitete: Sie hatte nur eine Frau bei 14 Männern als Mitglied. Bei den neueren Enquete-Kommissionen des Bundestages lag der Frauenanteil unter den Sachverständigen zwischen 0% und 29%. Für die Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" wurde erst im Mai 2011 nach vielen Protesten und dem Rücktritt eines Mannes eine Professorin für Volkswirtschaftslehre nachnominiert.

Es bleibt daher festzuhalten: Eine Bundeskanzlerin und ein Drittel Frauenanteil in gewählten Gremien bedeuten keine Parität und keine Gleichverteilung politischer Macht. Dies sieht auch eine Mehrheit der Bevölkerung so: 2006 meinten 75% der Frauen und 61% der Männer in Deutschland, wir bräuchten "sicher" oder "eher" mehr weibliche Abgeordnete. Auch hier zeigt sich, dass sich der politische Handlungsbedarf mit einem großen Problembewusstsein in der Bevölkerung deckt und darum entsprechende Maßnahmen auf Unterstützung zählen können.

Arbeitsmarkt und soziale Sicherheit

In Deutschland wurde das Teilziel der europäischen Beschäftigungsstrategie, die Frauenerwerbstätigenquote auf 60% anzuheben, bereits im Jahr 2005 erreicht; 2010 betrug der Beschäftigungsgrad der Frauen schon 66% und lag damit um 8% über dem europäischen Durchschnitt. Niedrigere Erwerbstätigenquoten finden sich vor allem in Italien und Griechenland, aber auch in den mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten sowie in Spanien und Frankreich. Auf den ersten Blick mag überraschen, dass die Frauenbeschäftigung durch die Wirtschafts- und Finanzkrise insgesamt weniger gesunken ist als bei den Männern - zwischen 2008 und 2010 im EU-Durchschnitt um nur 0,7% im Vergleich zu 2,7% bei den Männern. Allerdings ergibt sich eine über die Altersgruppen sehr ungleiche Verteilung, nach der junge Frauen und Männer (unter 25 Jahre) überdurchschnittlich stark (minus 2,6 beziehungsweise minus 4,2%) von den Beschäftigungseinbrüchen betroffen waren. Bei den Frauen über 55 Jahren ist die Erwerbstätigenquote im gleichen Zeitraum sogar angestiegen (um 1,6%). In Westdeutschland lag die Arbeitslosenquote der Frauen schon immer niedriger als die der Männer, anders als die der Frauen in Ostdeutschland in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Allerdings sind Frauen noch immer länger arbeitslos als Männer.

Weithin unbestritten ist, dass eine nach wie vor starke Ungleichheit auf dem deutschen Arbeitsmarkt herrscht, die auch im Gleichstellungsbericht der Bundesregierung umfassend dargestellt wurde und sich entlang dreier Dimensionen abzeichnet: Erstens widmen Frauen einen geringeren Anteil ihrer Zeit der Erwerbstätigkeit, zweitens erzielen sie daher, aber nicht nur deswegen, sehr viel geringere Karriereerfolge und Erwerbseinkommen als Männer und sind folglich drittens in weitaus geringerem Maße sozial abgesichert.

Die nach wie vor erheblichen Unterschiede in der Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern werden erst recht dann offenbar, wenn sie in Vollzeitäquivalenten (VZÄ) ausgewiesen werden. Beträgt die Differenz zwischen der regulären Erwerbstätigenquote von Männern und Frauen in Deutschland nur 9%, so steigt diese, wenn sie in VZÄ ausgewiesen wird, auf über 20%. Damit liegt Deutschland im Vergleich zu den EU-Ländern eher im oberen Drittel, wobei die Niederlande die größten Geschlechterunterschiede aufweisen (vgl. Abbildung 3 in der PDF-Version). Erwartungsgemäß sind die Differenzen in den skandinavischen und mittel- und osteuropäischen Ländern geringer ausgeprägt; in Nordeuropa orientiert sich die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik weitgehend an einem egalitären Modell und setzt damit die Erwerbstätigkeit der Frauen als selbstverständlich voraus, in den ehemals sozialistischen Ländern wirkt das kulturelle und historische Erbe der Frauenerwerbstätigkeit fort.

Bei der Teilzeitarbeit liegt Deutschland im EU-Vergleich mit einer Teilzeitquote bei Frauen von 45% an dritter Stelle hinter den Niederlanden und Schweden. Die Teilzeitarbeit der Frauen ist meist durch die familiären Pflichten bedingt, die zur Ausprägung von typischen Mustern der intrafamiliären Arbeitsteilung führen: Wenn mittlerweile im Gesamtdurchschnitt aller Paarhaushalte in Deutschland in etwa jedem vierten (24%) beide Partner vollzeiterwerbstätig sind, so gilt dies nur noch für etwa jeden sechsten (15,4%), wenn Kinder mit im Haushalt leben. Der Anteil der Haushalte, die einem traditionellen Modell der Arbeitsteilung folgen, das heißt in dem der Mann in Vollzeit, die Frau aber nur in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig ist, steigt dann von 53% auf 67,6% an; dass beide gleichermaßen Teilzeit arbeiten oder gar ein Rollentausch stattfindet, kommt hingegen in jedem Fall selten vor.

Die im Rahmen des Gleichstellungsberichts vorgenommenen Auswertungen illustrieren überdeutlich den "Kindereffekt" bei der Wochenarbeitszeit von Müttern: So stieg im Jahr 2007 nicht nur die Beschäftigtenquote, sondern auch die durchschnittliche Wochenstundenzahl mit dem Alter des jüngsten Kindes im Haushalt an (von 6,3 Stunden für Mütter mit Kindern unter drei Jahren auf durchschnittlich 19,1 Stunden für Mütter mit Kindern zwischen 15 und 17 Jahren). Erstaunlich ist dabei, dass sich dieser Kindereffekt seit dem Jahr 2000 trotz der Einführung des Elterngeldes und dem Ausbau der Kinderbetreuung eher noch verstärkt hat, das heißt die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten sind weiter gesunken. Selbst wenn der Anteil von Vätern, die Elternzeit beanspruchen, von 3,5% vor 2007 auf 23,9% (2009) angestiegen ist, so nehmen jedoch drei Viertel dieser Väter nur die zwei Vätermonate in Anspruch, die andernfalls verfallen würden. Dementsprechend leisten die Frauen nach wie vor mehr unbezahlte Arbeit als Männer, in der Kernaltersgruppe (30 bis 44 Jahre) liegt der Umfang unbezahlter Arbeit bei Frauen mehr als doppelt so hoch (5 Stunden 21 Minuten), als der der Männer (2 Stunden 57 Minuten). Die Auslagerung von Haus- und Betreuungsarbeit auf Dienstleistungseinrichtungen ist jedoch nur begrenzt möglich. Im Rahmen der Debatte um die "De-Familisierung" der Betreuungsarbeit, das heißt die Übertragung der familiären Betreuungs- und Erziehungsarbeit auf profesionelle Dienstleister, wird argumentiert, dass Eltern oftmals einen Teil der Betreuungsarbeit selbst erbringen möchten und daher das Angebot der Betreuungsdienstleistungen einem hohen Qualitätsstandard entsprechen muss. Untersuchungen von Arbeitszeitpräferenzen belegen jedenfalls, dass sich beide Eltern eher Erwerbsarbeitszeiten wünschen, die im Bereich der langen Teilzeit (Frauen) beziehungsweise kurzen Vollzeitarbeit (Männer) liegen.

Im Großen und Ganzen entspricht die gelebte Praxis jedoch der in den meisten europäischen Gesellschaften allgemein verbreiteten unspezifischen Einstellung, nach der von Frauen noch immer erwartet wird, dass sie ihre beruflichen Pläne den Familienpflichten unterordnen. Die mittel- und ost-, aber auch die südeuropäischen Mitgliedstaaten liegen dabei deutlich über dem Durchschnitt der EU, während die restlichen westeuropäischen Länder leicht und Skandinavien weit darunter liegen. Deutschland liegt mit einem Anteil von 41% an Zustimmung hier etwa im EU-Durchschnitt von 42% (vgl. Abbildung 4 in der PDF-Version). Dass sich insgesamt kaum geschlechterspezifische Unterschiede abzeichnen, ist eher auf die Wirkung internalisierter kultureller Muster und Erwartungen ("adaptive Präferenzbildung"), als auf eine autonome individuelle Präferenzordnung der Befragten zurückzuführen. Denn gleichzeitig zeigt sich Konfliktpotenzial zwischen den Geschlechtern: Einer neueren Studie zu Folge wollen die meisten jungen Frauen berufstätig sein und Kinder haben; 80% von ihnen befürworten daher ein egalitäres Partnerschaftsmodell, jedoch nur 40% der jungen Männer. Die tatsächliche Praxis in der Partnerschaft entsteht häufig dadurch, dass Paare sich an alltagspraktische, wenngleich institutionell vorstrukturierte Sachzwänge anpassen, wie Untersuchungen zur gewünschten Wochenarbeitszeit und zur sogenannten Retraditionalisierung von Geschlechterverhältnissen zeigen. Treten Sachzwänge und Aushandlungsergebnisse zwischen Paaren stufenweise ein, wird dies als "Retraditionalisierungsfalle" bezeichnet.

Geschlechtergleichheit ist noch aus einem anderen Grund nicht allein durch eine verbesserte Gleichstellungspolitik zu erzielen: Der Arbeitsmarkt bietet auch nicht allen Eltern gleichermaßen Chancen zum Erwirtschaften eines guten Lebensstandards, da Einkommen und Aufstiegschancen, überhaupt der Zugang zu "guter" Beschäftigung ungleich verteilt sind. Die Einkommensdifferenz zwischen den Bruttostundenlöhnen vollzeitbeschäftigter Frauen und Männer in Deutschland liegt seit Jahren bei durchschnittlich etwa 23% (vgl. Tabelle in der PDF-Version). Damit befindet sich Deutschland selbst im Vergleich der OECD-Länder mit im Spitzenfeld und wird hier nur von Südkorea und Japan übertroffen.

In Deutschland variiert diese Entgeltlücke nach Branche, Sektor (öffentlich/privat) oder dem beruflichen Status der Beschäftigten; sie ist beim Berufseinstieg am geringsten und steigt mit dem Alter der Beschäftigten an. Frauen haben auch weniger Erwerbseinkommen, weil sie zwei Drittel aller Niedriglohnbeschäftigten stellen. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland stark angestiegen, so dass heute insgesamt mehr als 20% der abhängig Beschäftigten davon betroffen sind. 2007 arbeiteten 29,3% aller beschäftigten Frauen und 13,8% der Männer zu einem Niedriglohn, also zu einem Lohn, der unterhalb von zwei Dritteln des nationalen Medianbruttolohns liegt. Eine spezifische Form der Niedriglohnbeschäftigung ist die geringfügige Beschäftigung, die unterhalb der Lohnobergrenze von 400 Euro pro Monat von der vollen Sozialversicherungspflicht ausgenommen ist; damit besteht ein besonderer Anreiz für Arbeitgeber, Personen für diese Lohnsumme zu beschäftigen. Die Gefahr, dass hier besonders geringe Stundenlöhne gezahlt werden, ist seit der Abschaffung der Höchststundengrenze, die bis 2003 bei 15 Stunden pro Woche lag, weiter gestiegen. Im Jahr 2010 gab es fast fünf Millionen Personen, die ausschließlich in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis beschäftigt waren, zwei Drittel von ihnen waren Frauen; die überwältigende Mehrheit bezieht Niedriglöhne. Die Aufwärtsmobilität ist begrenzt, viele Beschäftigte verbleiben sehr lange in der Niedriglohnbeschäftigung und häufen damit die Nachteile eines geringen Einkommens über einen großen Teil ihres Erwerbslebens an. Besonders problematisch ist dies, wenn sich diese geschlechterspezifischen Lücken über den Lebensverlauf mit Unterbrechungszeiten kumulieren. So wurde die Lücke im gesamten Erwerbseinkommen für die zwischen 1936 und 1955 geborene Kohorte auf 58% beziffert. Mit anderen Worten: Die Frauen dieser Geburtsjahrgänge haben bei ihrem Renteneintritt nur 42% des Erwerbseinkommens verdient, welches die Männer der gleichen Geburtsjahrgänge während ihres Erwerbslebens erwirtschaftet haben.

Geringe Einkommen und Erwerbsunterbrechungen sind folgenreich für die Absicherung in den einkommenszentrierten sozialen Sicherungssystemen; Teilzeitarbeit wirkt sich zudem negativ auf die Karriere- und späteren Einkommenschancen aus. Die Ausdehnung von geringfügiger Beschäftigung beziehungsweise Niedriglohnbeschäftigung insgesamt ist jedoch erklärtes beschäftigungspolitisches Ziel der Reformen im Rahmen der Vorschläge der Hartz-Kommission gewesen. Ihre Verfestigung wird jedoch zu einem gravierenden sozialpolitischen Problem, wenn der Sicherungsbedarf beim Eintritt von Arbeitslosigkeit oder Altersruhe dann nicht durch einen (Ehe-)Partner abgesichert werden kann. Seit Jahrzehnten liegen die Rentenzahlungen, die Frauen in Deutschland aufgrund eigener Versichertenzeiten erwerben, nur bei etwa der Hälfte der Beträge der Männer; mit einem durchschnittlichen Betrag von 539 Euro (Männer 1025 Euro) liegen sie damit noch im Bereich des Risikos von Altersarmut. Die sukzessive Schließung von Lücken bei den Kindererziehungszeiten hat die Situation ohne Zweifel maßgeblich verbessert. Für Personen im erwerbsfähigen Alter, die für die Pflege der Elterngeneration die Erwerbstätigkeit unterbrechen oder reduzieren, fehlen später die Versicherungsbeiträge. Auch der neue Gesetzesvorschlag, die Pflegezeiten durch eine Umverteilung von Einkommen über die Zeit abzusichern, schafft hier keine Abhilfe, sondern trägt eher zu einer Vergrößerung der Altersarmut bei.

Am Beispiel der arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Regulierung wird offenbar, dass politische Reformen und Maßnahmen hier nicht vorab, wie es die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesregierung mit dem Verweis auf das Prinzip des Gender Mainstreamings fordert, auf geschlechterspezifische Auswirkungen hin betrachtet werden. Im Gegenteil, die Verfestigung der Geschlechterungleichheit auf dem Arbeitsmarkt ergibt sich als Folge fehlender Regulierung der Beschäftigung, der zusätzlichen Stärkung des Prinzips der Erwerbszentrierung in den sozialen Sicherungssystemen sowie der Stärkung der Subsidiarität in den Haushalten, die jeweils starke geschlechterspezifische Effekte zeitigen.

Rechtlicher Diskriminierungsschutz

Anregungen für die Weiterentwicklung der Gleichstellungspolitik dringen mittlerweile ebenso aus dem europäischen Ausland als auch in Form von Empfehlungen und Berichten seitens inter- beziehungsweise supranationaler Organisationen nach Deutschland; allen voran die EU, aber auch die OECD sowie der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau betreiben Berichtssysteme, die nicht nur die aktuelle Spannbreite auffindbarer Politiken sichtbar machen, sondern auch "gute" Praktiken als Anregung für die Weiterentwicklung in Deutschland dokumentieren.

Innerhalb der Europäischen Union gelten neben Verfassungen und internationalen Verträgen bis heute EU-Direktiven und -Verträge als wesentlich für jeden Gleichstellungsfortschritt im Erwerbsleben. Die gegenwärtig verhältnismäßig gute Rechtslage beim individuellen Diskriminierungsschutz ist Ergebnis jahrzehntelanger politischer Auseinandersetzungen sowie der strategischen Nutzung des Vorabentscheidungsverfahrens beim Europäischen Gerichtshof durch Einzelklagen und Organisationen, welche zu einer Reformulierung und Präzisierung vieler eher schwacher nationaler Regelungen führte. Dies gilt insbesondere auch für Deutschland. Strukturelle Diskriminierungen, etwa durch die Ordnungsprinzipien sozialer Sicherung oder durch marginale politische Repräsentation von Frauen, waren bisher nicht Gegenstand von EU-Regulierungen. Daher lassen sie sich auch nicht mit Bezug auf EU-Recht bekämpfen.

Heute sind direkte und indirekte Diskriminierung im Erwerbsleben, bei Bildung und sozialer Sicherheit sowie beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen verboten. Entschädigung und Schadenersatz für Diskriminierung müssen abschreckend sein und die Mitgliedsstaaten müssen Behörden einrichten, die Diskriminierungsopfern helfen und diese informieren. Verbände sollen die Möglichkeit haben, Opfer zu unterstützen. Es gilt in Diskriminierungsfällen eine erleichterte Beweislast und schließlich sind positive Fördermaßnahmen wie Quoten unter bestimmten Bedingungen zulässig. Die jeweilige nationale Umsetzungstreue ist stärker oder schwächer ausgeprägt. Deutschland gehört zu den Ländern mit schwächerer, verzögerter und teilweise ungenügender Umsetzung.

In Deutschland war das Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts am Arbeitsplatz, insbesondere beim Lohn, seit 1980 in den Paragrafen 611ff. Bürgerliches Gesetzbuch und ab 2001 auch im Teilzeit- und Befristungsgesetz geregelt. Nur für den Öffentlichen Dienst galten weitergehende Landes- und Bundesgleichstellungsgesetze, die beispielsweise die Gleichstellungsbeauftragten, Gleichstellungspläne und personalpolitische Vorgaben zum Gegenstand hatten. Mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) setzte Deutschland 2006 nach langen, teils polemischen Diskussionen endlich die Antidiskriminierungsrichtlinien der EU um. Ziel des AGG ist die Verhinderung und Beseitigung von Benachteiligung wegen ethnischer Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität. Es formuliert Ansprüche auf Unterlassung, Schadenersatz, Entschädigung, gleiches Entgelt und das Einlegen von innerbetrieblichen Beschwerden. Gewerkschaften oder Verbände können nur als "Beistand" in einer Gerichtsverhandlung auftreten und nicht selber klagen, ein Betriebsrat allerdings kann bei groben Verstößen auf Unterlassung klagen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADB) informiert, sensibilisiert, forscht und kann Maßnahmen gegen Diskriminierung durchführen. Sie kann über rechtliche Möglichkeiten informieren, aber Betroffene nicht bei der Durchsetzung ihrer Rechte unterstützen. Die ADB ist in Berlin angesiedelt und verfügt 2011 über ein Budget von 2,6 Millionen Euro und hat etwa 25 Mitarbeitende.

Andere Mitgliedsstaaten, etwa Frankreich, Schweden oder Großbritannien, haben sich für stärkere Antidiskriminierungsbehörden mit Untersuchungskompetenzen und Initiativrechten entschieden. Der schwedische Ombudsman, die britische Equality and Human Rights Commission und die französische Haute Autorité de la Lutte contre les Discriminations et pour l'Égalité (HALDE) sind jeweils unabhängige Behörden, die Diskriminierungsbeschwerden auch aus eigener Initiative untersuchen und Betroffene vor Gericht vertreten können. Jede Person, die sich diskriminiert fühlt, kann sich an diese Behörden wenden. Zudem sind diese Institutionen in umfangreicher Forschungs-, Informations- und Sensibilisierungsarbeit engagiert. Die Attraktivität einer starken, niederschwelligen Institution lässt sich beispielhaft an den Beschwerden bei der HALDE zeigen: Sie stiegen von 1822 Beschwerden im Jahr 2005 auf 10545 im Jahr 2009. Dies hat seinen Preis: 2010 verfügte die HALDE über ein Budget von knapp 12 Millionen Euro und hatte 80 Mitarbeitende sowie 130 ehrenamtliche lokale Ansprechpersonen.

Schlussfolgerungen

Die Stärkung der Geschlechtergerechtigkeit im Sinne der Gleichverteilung von Geld, Freizeit, Erwerbs- und Sorgearbeit sowie Macht und Anerkennung ist nicht nur aus demokratietheoretischer Perspektive geboten, sondern bietet auch sozioökonomische Vorteile. Eine größere Durchlässigkeit im Erwerbssystem sowie breite Zugangschancen zu gut entlohnter Beschäftigung leisten einen Beitrag zur Weiterentwicklung des "Humankapitals" von Frauen ebenso wie zur Steigerung der Arbeitsproduktivität einer Volkswirtschaft insgesamt. Schließlich wird die soziale Sicherheit von Familien durch die Erwerbstätigkeit beider Elternteile gerade in Krisenzeiten am Besten gewährleistet, wie die schwedische und die französische Familienpolitik seit dem Eintritt der Wirtschaftskrise im Herbst 2008 gezeigt haben. Die Gleichstellung der Geschlechter als Teil eines modernen Demokratieverständnisses hat sich auch in der Grundgesetzänderung von 1994 niedergeschlagen, durch die sich Deutschland zu aktiver Gleichstellungspolitik, konkret zur "Beseitigung bestehender Nachteile" (Art. 3 Abs. 2 GG), verpflichtet hat. Gleichstellung ist darum ein Ziel an sich, das auch ohne Aussicht auf Effizienzsteigerung verfolgt werden muss.

Ein kurzer Blick auf die Gleichstellungspolitik und die gleichstellungspolitischen Wirkungen anderer Politikfelder in Deutschland veranschaulicht, dass es häufig inkonsistente Anreizwirkungen gibt: Die Regelungen zu Elterngeld und Elternzeit ermutigen zu schneller Rückkehr in den Job, fehlende Angebote einer qualitativ guten Ganztagsbetreuung legen aber längere Erwerbsunterbrechungen nahe. Einschnitte bei der gesetzlichen Alterssicherung fördern die Orientierung an einer kontinuierlichen Erwerbstätigkeit von Frauen, aber das Ehegattensplitting und die kostenlose Mitversicherung beim erwerbstätigen Ehemann setzen Anreize, nicht oder nur geringfügig erwerbstätig zu sein. Geschlechterrelevante Politik ist mitnichten an einem klaren gleichstellungspolitischen Leitbild ausgerichtet. Dabei handelt es sich nicht einfach um schlechtes Politik-Management; vielmehr verbergen sich hinter der Inkonsistenz erhebliche Wert- und Interessenkonflikte darüber, wie die Geschlechterverhältnisse ausgestaltet werden sollen.

Nicht immer werden diese Konflikte offen ausgetragen. Der zu beobachtende reale Politik-Mix ist das Ergebnis politischer Kräftekonstellationen. In gleichstellungsrelevanten Politikbereichen überschneiden sich Konflikte um die Geschlechterbeziehungen mit anderen, etwa dem zwischen Kapital und Arbeit: Der Boom geringfügiger Beschäftigung erschwert eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen und ist gleichstellungspolitisch bedenklich, macht aber Arbeit billiger und ist ein erklärtes Ziel der Wirtschaftspolitik. Nicht alle werden also gleichermaßen von gleichstellungspolitischen Initiativen profitieren; Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern beispielsweise bedingt eine Umverteilung von Erwerbseinkommen zugunsten von Frauen. Unterschiedliche soziale Gruppen sind von Gleichstellungspolitiken unterschiedlich betroffen. Dies ist auch ein Grund, warum sich grundsätzlich die meisten politischen Akteurinnen und Akteure, von Europäischer Kommission bis hin zu politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, zur Gleichstellung bekennen, der Dissens aber umso größer wird, je konkreter die vorgeschlagenen Maßnahmen werden.

Die aktuell wieder im Gleichstellungsbericht geforderte Veränderung der sozialen Sicherung würde kurz- und mittelfristig in vielen Bereichen den Finanzbedarf erhöhen. Andererseits wird die Einbeziehung jeglicher Beschäftigungsformen in die sozialen Sicherungssysteme die Beschäftigten vor Altersarmut schützen und damit das Anwachsen der künftigen Sozialausgaben bremsen. Flächendeckende Mindestlohnregelungen für typische Frauenbranchen des Niedriglohnsektors würden die Kaufkraft und damit die Binnennachfrage stärken. Die fortbestehenden ökonomischen, sozialen und politischen Ungleichheiten zeigen den gleichstellungspolitischen Handlungsbedarf in Bezug auf kulturellen, rechtlichen und ökonomischen Wandel. Ungelöst sind nach wie vor die Kumulation von existentieller Unsicherheit durch Teilzeit, Niedriglohn und Arbeitslosigkeit oder die ungenügende Berücksichtigung von Pflegezeiten in den Erwerbsverläufen der Beschäftigten.

Eine konsistente und umfassende Gleichstellungspolitik müsste drei Schritten folgen:

1. Sie muss aus den ungeteilten demokratischen und in der Verfassung verankerten Grundsätzen ihre politischen Aktivitäten ableiten und die allgemein formulierten Vorgaben konkretisieren. An einem breiten Konsens über die Notwendigkeit der Gleichstellung fehlt es nicht, wohl aber an der Ausformulierung substantieller Zielsetzungen und Maßnahmen. Ein systematisches und konsequenzenorientiertes Monitoring durch Berichte, Ressort- und sozialwissenschaftliche Forschung ist Voraussetzung dafür, Handlungsbedarf zu benennen und konkrete Maßnahmen einer effektiven Gleichstellungspolitik zu entwickeln.

2. Das Prinzip des Gender Mainstreamings muss konsequent in allen relevanten Politikbereichen angewandt werden und als verbindliches Prüfkriterium fungieren. Die Analyse von Wirkungen oder die Formulierung geschlechtergerechter Politikprojekte - etwa in den Systemen von Erwerbs- und Sorgearbeit - könnte über eine starke eigenständige Behörde erfolgen, die Ministerien obligatorisch berät und kompetenter Partner für die Fortentwicklung der Gleichstellungspolitik wäre. Dazu braucht es gute gleichstellungspolitische Strukturen mit ausreichenden finanziellen und personellen Ressourcen sowie angemessenen rechtlichen Kompetenzen.

3. Eine dezidierte rechtspolitische Strategie, die substantielle Rechtsinstrumente zum Kampf gegen bestehende Diskriminierungen bereitstellt, würde die umfassende Strategie abrunden. Dies könnte mit umfassenden Berichtspflichten, mit Sanktionsmöglichkeiten, einem starken Verbandsklagerecht oder einer starken Untersuchungsbehörde erfolgen - gute Beispiele finden sich im Ausland, wie der vorhergehende Abschnitt zeigte. In der Bundesrepublik ist mit der Einführung des AGG hier ein erster Schritt gemacht worden; dass das Gesetz ausbaubedürftig ist, zeigt die anhaltende politische Diskussion.

Eine konsistentere und in ihren Zielen transparentere Gleichstellungspolitik braucht eine Debatte sowohl auf politischer wie zivilgesellschaftlicher Ebene darüber, welche Leitbilder die politischen Programme und Maßnahmen prägen sollen und welche Art der geschlechterpolitischen Kultur realisiert werden soll. Wie andere Themen birgt auch sie ein erhebliches Konfliktpotenzial. Der Politik kommt dabei die Aufgabe zu, die Debatte anzuregen und Rahmenbedingungen zu gestalten. Die Präsenz von Frauen in den politischen Gremien einer demokratischen Regierung trägt ohne Zweifel zur Entwicklung einer neuen geschlechterpolitischen Kultur bei.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Ingrid Kurz-Scherf/Julia Lepperhoff/Alexandra Scheele (Hrsg.), Feminismus, Kritik und Intervention, Münster 2009.

  2. Vgl. Sachverständigenkommission zur Erstellung des Ersten Gleichstellungsberichts (Hrsg.), Neue Wege - gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Gutachten, Troisdorf 2011; Bundesregierung, Stellungnahme der Bundesregierung zum Gutachten der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für den Ersten Gleichstellungsbericht, Berlin 2011.

  3. Vgl. Nancy Fraser, Die Gleichheit der Geschlechter und das Wohlfahrtssystem: Ein postindustrielles Gedankenexperiment, in: Kathrin Braun et al. (Hrsg.), Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft, München 2000, S. 195-215.

  4. Vgl. European Commission, Gender Equality in the EU 2009. Report, Brüssel 2010, und eigene Berechnungen nach Eurobarometer 72.2: Nuclear Energy, Corruption, Gender Equality, Healthcare, and Civil Protection, September-October 2009.

  5. Vgl. Eurobarometer 71.2: European Employment and Social Policy, Discrimination, Development Aid, and Air Transport Services, May-June 2009; Eurobarometer 65.4: Discrimination in the EU, Organized Crime, Medical Research, Vehicle Intelligence Systems, and Humanitarian Aid, June-July 2006.

  6. Eigene Berechnungen nach Eurobarometer 72.2 (Anm. 4).

  7. Eigene Berechnungen nach Eurobarometer 71.2 (Anm. 5).

  8. Vgl. European Commission (Anm. 4).

  9. Vgl. Gesine Fuchs, Politische Partizipation von Frauen in Deutschland, in: Beate Hoecker (Hrsg.), Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Eine studienorientierte Einführung, Opladen 2006, S. 235-260, hier: S. 237f.

  10. Vgl. Sandra Brunsbach, Machen Frauen den Unterschied? Parlamentarierinnen als Repräsentantinnen frauenspezifischer Interessen im Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), (2011) 1, S. 3-24.

  11. Vgl. Brigitte Geißel, Deutschland: Erfolgreiche Quotenregelungen in einer geschlechterdifferenzierten Gesellschaft, in: Drude Dahlerup/Lenita Freidenvall (Hrsg.), Geschlechterquoten bei Wahlsystemen und ihre Umsetzung in Europa, Brüssel 2008, S. 66-77.

  12. Vgl. Beate Hoecker, 50 Jahre Frauen in der Politik: späte Erfolge, aber nicht am Ziel, in APuZ, (2008) 24-25, S. 10-18; Louise K. Davidson-Schmich/Isabelle Kürschner, Stößt die Frauenquote an ihre Grenzen? Eine Untersuchung der Bundestagswahl 2009, in: ZParl, (2011) 1, S. 25-34; Lars Holtkamp/Sonja Schnittke/Elke Wiechmann, Die Stagnation der parlamentarischen Frauenrepräsentanz - Erlärungsansätze am Beispiel deutscher Großstädte, in: ebd., S. 35-49.

  13. Vgl. Datenbank Frauen und Männer in Entscheidungspositionen, online: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=764&langId=de (7.7.2011).

  14. Vgl. Mariette Sineau, Frankreich: gesetzlich geregelte Gleichstellung - das Parité-Gesetz, in: D. Dahlerup/L. Freidenvall (Anm. 11), S. 55-65.

  15. Zur aktuellen Situation vgl. Beate Hoecker, Politische Repräsentation von Frauen in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Vergleich, in: ZParl, (2011) 1, S. 50-65.

  16. Eigene Berechnung auf der Grundlage von Informationen der Pressestelle des Bundesrates vom 7.6.2011.

  17. Vgl. Webseite des BMFSFJ: www.bmfsfj.de/BMFSFJ/gesetze,
    did=70172.html (21.7.2011).

  18. Vgl. Alexandra Scheele, Staatliche Zwangsbeglückung? Von Quoten, Gleichstellung und einer Männerkommission, in: femina politica, 20 (2011) 1, S. 153-157.

  19. Eigene Berechnungen nach Eurobarometer 65.4 (Anm. 5).

  20. Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Hrsg.), Der Arbeitsmarkt in Deutschland. Arbeitsmarktberichterstattung. Frauen und Männer am Arbeitsmarkt im Jahr 2010, Nürnberg 2011, S. 20.

  21. Vgl. European Commission, Employment in Europe 2010, Brüssel 2011, S. 53.

  22. Vgl. Silke Bothfeld et al., Der WSI-Frauendatenreport 2005. Handbuch zur wirtschaftlichen und sozialen Situation der Frau, Berlin 2005, S. 156.

  23. Vollzeitäquivalente berücksichtigen nicht die "Köpfe", sondern die Volumina der Wochenarbeitsstunden. Die Erwerbstätigenquote in Vollzeitäquivalenten der Frauen betrug in Deutschland 2009 demnach 50,7%, die der Männer 72,2%, vgl. European Commission (Anm. 21), S. 171.

  24. Vgl. ebd., S. 71.

  25. Vgl. Sachverständigenkommission (Anm. 2), S. 156.

  26. Vgl. Svenja Pfahl/Stefan Reuyß, Das neue Elterngeld. Erfahrungen und betriebliche Nutzungsbedingungen von Vätern - eine explorative Studie, Düsseldorf 2009; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Elterngeld für Geburten von Januar bis Dezember 2009, online: www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/
    destatis/Internet/DE/Presse/pm/
    2011/05/PD11__195__22922.psml (1.8.2011).

  27. Vgl. Sachverständigenkommission (Anm. 2), S. 152.

  28. Vgl. ebd., S. 157.

  29. Zur Diskussion um adaptive versus autonome Präferenzen vgl. Silke Bothfeld, Teilzeitarbeit für alle? Eine Untersuchung von Teilzeitpräferenzen in Deutschland und Großbritannien unter beschäftigungspolitischen Gesichtspunkten, Berlin 1997.

  30. Vgl. Sachverständigenkommission (Anm. 2), S. 154.

  31. Vgl. Anneli Rüling, Jenseits der Traditionalisierungsfallen. Wie Eltern sich Familien- und Erwerbsarbeit teilen, Frankfurt/M. 2007.

  32. Vgl. OECD Family Data Base, LMF1.5.A, online: www.oecd.org/els/social/family/database (1.8.2011).

  33. Vgl. Sachverständigenkommission (Anm. 2), S. 121.

  34. Vgl. Bundesagentur für Arbeit (Anm. 20), S. 6.

  35. Vgl. Sachverständigenkommission (Anm. 2), S. 121.

  36. Vgl. ebd., S. 118.

  37. Vgl. Mary Daly/Kirsten Scheiwe, Individualisation and Personal Obligations - Social Policy, Family Policy, and Law Reform in Germany and the UK, in: International Journal of Law, Policy and the Family, 24 (2010) 3, S. 177-197.

  38. Vgl. Silke Bothfeld/Sebastian Hübers/Sophie Rouault, Gleichstellungspolitische Rahmenbedingungen für das betriebliche Handeln. Ein internationaler Vergleich, in: Projektgruppe GiB (Hrsg.), Geschlechterungleichheiten im Betrieb. Arbeit, Entlohnung und Gleichstellung in der Privatwirtschaft, Berlin 2010, S. 85-88.

  39. Vgl. Sabine Berghahn, Der Ritt auf der Schnecke - rechtliche Gleichstellung in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2011, online: http://web.fu-berlin.de/gpo/sabine_berghahn.htm (1.8.2011).

  40. Vgl. Uta Klein, Geschlechterverhältnisse, Geschlechterpolitik und Gleichstellungspolitik der Europäischen Union. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 34-98; Sabine Berghahn, Und es bewegt sich doch ... Der Einfluss des europäischen Rechts auf das deutsche Arbeitsrecht, in: Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Frauen verändern EUROPA verändert Frauen, Düsseldorf 2008, S. 205-221.

  41. Vgl. S. Berghahn (Anm. 39), S. 13-15.

  42. Vgl. Paragrafen 25-30 AGG; vgl. auch Gesine Fuchs et al., Rechtsmobilisierung für Lohngleichheit: Der Einfluss rechtlicher und diskursiver Bedingungen in der Schweiz, Deutschland und Österreich im Vergleich, in: Kritische Justiz, 41 (2009) 3, S. 253-270.

  43. Telefonische Auskunft der Pressestelle der ADB vom 27.5.2011.

  44. Vgl. S. Bothfeld et al. (Anm. 22).

  45. Vgl. Rapports Annuels HALDE 2006-2010, online: www.halde.fr/-Rapports-annuels.html (24.8.2011).

  46. Vgl. Rapport Annuel HALDE 2010, S. 59f.

  47. Vgl. Silke Bothfeld/Sebastian Hübers/Sophie Rouault, Familienpolitik in der Wirtschaftskrise - Lehren aus dem internationalen Vergleich. Eine Studie im Auftrag des BMFSFJ, unveröffentlichtes Manuskript 2010.

Dr. phil., geb. 1968; Professorin für Internationale Wirtschafts- und Sozialpolitik und Arbeitsbeziehungen, Hochschule Bremen, Neustadtswall 30, 28199 Bremen. E-Mail Link: silke.bothfeld@hs-bremen.de

Dr. phil., geb. 1967; Politikwissenschaftlerin; verantwortlich für das Forschungsprojekt "Genese und Steuerung beruflicher Gleichstellungspolitik in der Schweiz", Institut für Politikwissenschaft, Universität Zürich, Affolternstrasse 56, CH 8050 Zürich. E-Mail Link: fuchs@ipz.uzh.ch
Externer Link: http://www.gesine-fuchs.net