Die Massenproteste in den arabischen Staaten überraschten die jeweiligen Machthaber und die internationale Gemeinschaft. Doch war zumindest von Expertenkreisen seit Jahren auf die demografische und sozioökonomische Entwicklung und damit auf das Anwachsen eines revolutionären Potenzials hingewiesen worden. Nahezu alle Länder der arabischen Welt zeichnen sich durch einen großen Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung, eine hohe Arbeitslosigkeit (die besonders unter den Jugendlichen ausgeprägt ist) und hohem Armutsrisiko aus. Hinzu kommt eine politische Verkrustung gepaart mit endemischer Korruption, eingeschränkter Pressefreiheit und bürgerlichen Freiheitsrechten, abzulesen am "Corruption Perception Index" (CPI) und am "Bertelsmann Transformation Index" (BTI).
Innerhalb weniger Tage überwand eine schnell anwachsende Zahl von gut ausgebildeten, aber perspektivarmen Jugendlichen der Mittelschichten in Tunesien und Ägypten ihre Angst vor den Repressionen der Staatsgewalt. Sie forderten nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe, individuelle Freiheitsrechte sowie verantwortliche Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit. Seit dem Abtritt des tunesischen Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak hat sich viel verändert: In beiden Ländern haben sich unabhängige Medien etabliert; wir erleben eine lebhafte politische Debatte zwischen Säkularisten und Islamisten, zwischen Konservativen und Liberalen über die neuen Verfassungen, die im kommenden Jahr nach den für den Herbst dieses Jahres vorgesehenen Wahlen entstehen sollen.
Dabei gibt es einen weitgehenden Konsens zwischen den politischen Lagern darüber, dass diese eine starke Legislative und eine Begrenzung der exekutiven Gewalt, eine unabhängige Justiz, die Garantie von Menschenrechten und bürgerlichen Freiheiten sowie eine ausgleichende Sozialpolitik vorsehen sollen. Die tunesische und ägyptische Gesellschaft ist erheblich pluraler geworden, während die von vielen, vor allem in Europa, befürchtete Radikalisierung ausgeblieben ist. Mehrere wichtige Schritte zur Transformation der autoritären Regimes in Richtung Demokratie sind inzwischen unternommen worden. Die besten Chancen auf eine Konsolidierung des Demokratisierungsprozesses bestehen in Tunesien, das im Vergleich zu Ägypten ethnisch und konfessionell homogener ist. Tunesien verfügt darüber hinaus über eine gut ausgebildete Mittelschicht. Auch die staatlichen Institutionen und die Wirtschaft sind verhältnismäßig leistungsfähig. Das mit 83 Millionen Einwohnern achtmal größere Ägypten ist ethnisch und religiös weitaus heterogener und steht vor größeren sozioökonomischen und institutionellen Herausforderungen - eine davon ist die Frage nach der zukünftigen Rolle des Militärs. Die Entwicklungen in Tunesien und Ägypten als Avantgarde des "Arabischen Frühlings" werden überall in der arabischen Welt und darüber hinaus verfolgt. Sollte die Konsolidierung einer partizipativen und auf soziale Teilhabe ausgerichteten Demokratie in diesen Ländern gelingen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf die gesamte Region.
Der Demokratisierungsprozess in Tunesien und Ägypten hängt wesentlich von den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und internationalen Rahmenbedingungen ab. Die Übergangsregierungen stehen vor den gleichen sozioökonomischen Problemen wie ihre autokratischen Vorgänger. Schlimmer noch: Die Wirtschaft ist in beiden Ländern erheblich von den Umwälzungen in Mitleidenschaft gezogen worden, der Tourismus ist eingebrochen, Streiks führen zu Produktionsausfällen, in- und ausländische Investoren halten sich aufgrund der unsicheren Lage zurück. Um die zusätzlichen Arbeitslosen und die vielen aus Libyen zurückgekehrten Gastarbeiter zu beschäftigen, hat die ägyptische Übergangsregierung die Übernahme von einer Million Arbeitsuchenden in den ohnehin schon aufgeblähten öffentlichen Sektor beschlossen. Diese und die Steuerbefreiung für die notleidende Tourismusbranche erhöhen die hohe Staatsverschuldung. Die Kreditwürdigkeit des Landes leidet massiv. Der jährliche Schuldendienst gegenüber den EU-Staaten beläuft sich auf eine Milliarde US-Dollar. Die Wiederankurbelung der Wirtschaft und die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, insbesondere für die unter 25-Jährigen, sind wichtige Bedingungen für den Erfolg der Demokratisierung. Von nicht minderer Bedeutung für den Demokratisierungsprozess ist der Bildungssektor. In den Schulen werden die Grundlagen sowohl für eine wettbewerbsfähige Volkswirtschaft als auch für eine auf breite Partizipation gegründete Demokratie gelegt. Daneben benötigt eine Demokratie entsprechende Institutionen, die es aufzubauen gilt: sowohl gegen die Beharrungskräfte des alten Regimes als auch gegen demokratiefeindliche oder -skeptische Kräfte. Damit der "Arabische Frühling" gedeihen kann, sind also mehr Jobs, mehr Bildung und mehr Demokratie erforderlich. Angesichts der schwierigen Ausgangslage ist es schwer vorstellbar, dass die Übergangsregierungen ohne umfangreiche Unterstützung der internationalen Gemeinschaft in allen drei Bereichen gleichzeitig und über einen längeren Zeitraum erfolgreich sein können - und selbst mit ausländischer Hilfe ist der Erfolg keineswegs sicher. Deutschland und Europa haben ein fundamentales Interesse an erfolgreichen demokratischen und sozioökonomischen Reformen als Grundlage für eine dauerhafte Stabilisierung der südlichen Nachbarregion. Daher ist der Aufbruch in der arabischen Welt von Anfang an begrüßt worden, wenn auch vielfach mit besorgtem Blick auf dadurch ausgelöste beziehungsweise befürchtete größere Flüchtlingsströme nach Europa und die möglichen Folgen für die Sicherheit Israels.
Deutschland:
Bundesaußenminister Guido Westerwelle formulierte Mitte Februar 2011 (wenige Tage nach dem Abtritt Husni Mubaraks) sechs Punkte für den notwendigen Transformationsprozess, zu dem Deutschland seine Hilfe anbiete: die Verankerung freiheitlicher Werte und eine lebendige Zivilgesellschaft; freie und faire Wahlen sowie der Aufbau von unabhängigen politischen Parteien; der Aufbau einer unabhängigen Justiz; die Schaffung von Bildungs- und Entwicklungsperspektiven; wirtschaftliche Freiheit und Chancen sowie regionale Stabilität.
Unbürokratisch hat die Bundesregierung gemeinsam mit den politischen Stiftungen, Mittlerorganisationen und Nichtregierungsorganisationen (NRO) bereits im Frühjahr 2011 mit Projekten begonnen, um den politischen und gesellschaftlichen Wandel in Tunesien und Ägypten vor allem mit Blick auf die für diesen Herbst vorgesehenen freien Wahlen zu unterstützen. Dafür wurde ein Fonds für Demokratieförderung mit einem Volumen von 5,25 Millionen Euro geschaffen. Von Anfang an standen auch Bemühungen auf der Agenda, die durch die Umbrüche stark belasteten Volkswirtschaften wiederzubeleben und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Zu diesem Zweck wurde bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) ein "Regionalfonds für Mikrofinanzierung" mit einem Volumen von 20 Millionen Euro aufgelegt. Damit soll die Refinanzierung von nationalen Mikrofinanzinstituten gesichert werden, die Kredite an Kleinst-, Klein- und mittlere Unternehmen vergeben. Darüber hinaus wurde ein Regionalprojekt zur Qualifizierung und Beschäftigungsförderung von Jugendlichen für den Zeitraum zwischen 2011 und 2014 sowie einem Finanzvolumen von 8 Millionen Euro geschaffen. Auf dem G-8-Gipfel Ende Mai 2011 im französischen Deauville kündigte Bundeskanzlerin Angela Merkel zudem einen "Pakt für Beschäftigung (...), das heißt für Ausbildung und Beschäftigung gerade von jungen Leuten" an. Dafür werde Deutschland ägyptische Schulden erlassen "und daraus Programme finanzieren, die (...) bis zu 5000 Ausbildungsplätze und 10000 neue Arbeitsplätze in Ägypten schaffen können".
Der Aufbau demokratischer Strukturen ist ein langwieriger Prozess, zudem wenn er - wie im Fall Tunesiens und Ägyptens - unter schwierigen ökonomischen und demografischen Bedingungen erfolgen muss. Daher hat die Bundesregierung dem Auswärtigen Amt (vorbehaltlich der Zustimmung des Bundestags) zusätzliche Mittel in Höhe von 100 Millionen Euro für den Zeitraum zwischen 2012 und 2013 zur Verfügung gestellt. Davon sollen 60 Millionen Euro in Projekte zur Demokratieförderung und 40 Millionen Euro in Bildungsprojekte im weiteren Sinne fließen. Auch in anderen Ministerien (wie BMZ, Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie) werden im Rahmen der jeweiligen Ressortzuständigkeiten für die kommenden Jahre Projekte mit den arabischen Reformländern geplant.
Europa:
Der von der Bundesregierung geprägte Begriff der Transformationspartnerschaft wurde auch von der EU übernommen, die ihrerseits Mittel zur Unterstützung der Transformation in Tunesien und Ägypten zur Verfügung stellt. Daneben stehen Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft und des Tourismus. Ein spezifisches Anliegen ist die einvernehmliche Regelung von Fragen der Migration und Mobilität.
Internationale Geber:
Um die Volkswirtschaft Ägyptens zu stützen und über einen längeren Zeitraum ein Wachstum in einer Größenordnung von 6 Prozent - so viel wird benötigt, um die Jugendarbeitslosigkeit und die weit verbreitete Armut signifikant zu senken - zu generieren, ist viel Kapital und Know-how erforderlich. Zur Mobilisierung von solchen Summen sind nur wenige große internationale Organisationen in der Lage. Dazu gehören in erster Linie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds sowie einige Regionalbanken - neben der bereits erwähnten EBRD vor allem die Islamic Development Bank - sowie einige kleinere Institutionen wie die African Development Bank und die United Nations Stolen Asset Recovery Initiative. Diese Institutionen, einschließlich der EIB, sollen zwischen 2011 und 2013 Ägypten und Tunesien Kredite in einer Größenordnung von bis zu 20 Milliarden US-Dollar zur Verfügung stellen. Dieses Kreditpaket wurde als "Deauville Partnership Program" auf dem letzten G-8-Gipfel im Beisein der Premierminister von Tunesien und Ägypten geschnürt.
Diese Hilfen können den Erfolg der Transition in Richtung Demokratie nicht garantieren. Aber ohne substanzielle internationale Hilfe kann eine erfolgreiche Demokratisierung in Ägypten und Tunesien und - so die Hoffnung - in der ganzen arabischen Welt kaum gelingen. Auch wenn die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Demokratisierung 1989 in den Ländern Osteuropas - viele Beobachter vergleichen den "Arabischen Frühling" mit den Umbrüchen in Osteuropa vor mehr als 20 Jahren - vor allem wegen der damals lockenden EU-Beitrittsperspektive und des hohen Bildungsniveaus der Bevölkerung günstiger waren, war die Hoffnung auf einen nachhaltigen demokratischen Aufbruch in unserer südlichen Nachbarschaft noch nie so groß wie heute. Diese Chance müssen die europäischen und arabischen Gesellschaften über das Mittelmeer hinweg partnerschaftlich nutzen, um eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.
Der Autor vertritt ausschließlich seine persönliche Meinung.