Einleitung
Am 17. März 2011 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1973, um die libysche Rebellion gegen das Gaddafi-Regime zu unterstützen. Frankreich, Großbritannien und die USA forcierten die Einrichtung einer Flugverbotszone. Deutschland hingegen stand nicht nur abseits, sondern antichambrierte gegen seine engsten Verbündeten. Die Sicherheitsratsmitglieder Russland und China verzichteten - zur Überraschung Deutschlands - auf ein Veto. Berlin hatte die Durchsetzungsfähigkeit der Verbündeten ebenso unterschätzt wie die diplomatische Anpassungsfähigkeit der beiden autoritären Mächte China und Russland.
Zwar hat sich Deutschland in der Abstimmung zur Resolution 1973 enthalten. Gleichwohl hat die Bundesregierung nie einen Zweifel an der Verwerflichkeit des Gaddafi-Regimes gezeigt - anders als die Interventionsmächte Frankreich und Großbritannien oder die Vetomächte Russland und China -, weshalb sie die politische Stoßrichtung der Resolution durchaus unterstützte. Ihre Bedenken richteten sich "nur" gegen die Wahl der Mittel, das heißt gegen die Flugverbotszone und das damit verbundene militärische Eingreifen. Dennoch: Welche Auswirkungen hat Deutschlands Enthaltung für seine Rolle in Europa und in der atlantischen Welt? Leitet der deutsche Außenminister eine Absatzbewegung vom westlichen Bündnis ein? Oder ist die Enthaltung im Libyen-Konflikt lediglich ein (un-)diplomatischer Fehler? Praktizierte Berlin gar kluge Zurückhaltung, während die NATO in Libyen ihre ohnehin geschwundenen Kräfte zu überdehnen schien? Diese Fragen sind mit einem zentralen Problembündel verknüpft, das den Westen seit 20 Jahren zu überfordern droht: der humanitären Intervention.
Problem der humanitären Intervention
Auf die Zeitenwende von 1989/90 folgte eine Epoche der Kriege und Konflikte, auf welche die westliche Staatengemeinschaft mit Interventionen zu humanitären Zwecken reagierte. Bei evidenten Verbrechen gegen die Menschlichkeit soll eingegriffen werden. Doch bis heute herrscht in der Politik wie auch der Politikwissenschaft Unklarheit darüber, wie genau ein "evidentes Verbrechen gegen die Menschlichkeit" zu definieren ist.
Wer hatte nun in Libyen die Moral auf seiner Seite: die Interventionisten, die menschenrechtlich-kosmopolitisch und mit "guter Absicht" handelten, oder die Isolationisten wie die Bundesrepublik, die vor der Einmischung in innere Angelegenheiten fremder Staaten, der Anwendung von Gewalt, den Folgekosten und der unklaren Zielperspektive warnten?
Die Bedenken waren nicht abwegig, deshalb wurde die amtierende Bundesregierung - in der Tradition der aufgeklärten Zivilmacht - schon sehr früh zum Mahner in Libyen. Diese nicht unsympathische Einstellung korrespondierte mit der außenpolitischen Kultur der Zurückhaltung, welche die Bundesrepublik seit Jahrzehnten prägt. Im Kalten Krieg war glücklicherweise nur Kampfbereitschaft ohne militärischen Einsatz gefragt. Doch das Prinzip der Abschreckung begünstigte die Ausprägung einer sicherheitspolitischen Trittbrettfahrermentalität, ein sicherheitspolitisches "Konsumentenverhalten" ohne Verantwortungsbewusstsein. Die Balkan-Kriege zu Beginn der 1990er Jahre belegen den Anachronismus einer Kultur der Zurückhaltung angesichts von Terror, Barbarei und Krieg im Herzen Europas. Deutschland verpasste nach 1990 den Sprung vom passiven Sicherheitskonsumenten zum aktiven Sicherheitsproduzenten
Dieser Haltung blieb Deutschland über 20 Jahre treu, so dass folgendes Verhaltensmuster entstand: Die "Drückebergerei" nahm zu, Deutschland wurde selten initiativ, handelte primär reaktiv und oft wie in Somalia zu spät und nur auf äußeren Druck der Partner.
Deutsche Rolle im Libyen-Konflikt
So erstaunt es wenig, dass Deutschland in der Libyen-Krise konsequent seine zivile Sonderwegsmentalität beibehielt, selbst als Gaddafi seine Schergen anwies, die Rebellion für Freiheit und Menschenrechte niederzuschlagen. Während die befreundeten Westmächte "kein weiteres Srebrenica" zulassen wollten und nach Wegen suchten, um das befürchtete Massaker an der libyschen Bevölkerung zu verhindern, beharrte Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle auf einer politischen Lösung. Die Bundesregierung machte aus ihrer "großen Skepsis"
Die westlichen Demokratien waren angesichts der drohenden Massaker zu militärischer Gegengewalt entschlossen. Wären die Verbündeten und die libyschen Rebellen Westerwelles Ratschlägen gefolgt, wären letztere heute wahrscheinlich tot und der Westen blamiert. Doch die NATO zeigte Selbstbehauptungswillen, weil die Demokratien aus dem Zweiten Weltkrieg andere Schlussfolgerungen gezogen hatten als die Deutschen. Sie handeln nicht nach der Maxime "Nie wieder Krieg", sondern "Nie wieder Beschwichtigungspolitik wie 1938". Hier liegt der historisch begründete Knackpunkt zwischen Deutschland und seinen Verbündeten. Deutschlands Scheinneutralität kam faktisch der Parteinahme für Gaddafi gleich, denn "wer sich aus dem innerlibyschen Bürgerkrieg heraushält ergreift praktisch Partei für den Despoten. Es ist das Dilemma, aus dem man durch moralische Appelle zum Gewaltverzicht nicht herauskommt."
Zur Fehleinschätzung der internationalen Konstellation gesellte sich innenpolitische Fehlkalkulation. Die Enthaltung in New York brachte keine zusätzlichen Wählerstimmen. Im Gegenteil. Endgültig zum Verhängnis wurde dem Außenminister, als er nach dem vorläufigen Sieg der Rebellen bei ihrem Einzug in Tripolis öffentlich den Eindruck zu erwecken suchte, Gaddafi wäre durch die von ihm favorisierten Sanktionen in die Knie gezwungen worden, ohne die Opfer und Leistung der Partner mit einem Wort zu erwähnen oder zu würdigen. Diese handwerklichen Fehler und Versäumnisse markieren einen bislang unbekannten Tiefpunkt deutscher (Un-)Diplomatie in der Geschichte der Bundesrepublik. Dieser Eindruck verstärkt sich mit Blick auf die vorläufigen Ergebnisse der militärischen Intervention in Libyen. So brauchte der libysche Aufstand Hilfe von außen, denn anders als die Tunesier und Ägypter konnten die Libyer ihren Tyrannen nicht aus eigener Kraft abschütteln. Im Gegenteil: Die westlichen Flugzeuge kamen in letzter Minute, bevor die Rebellion von Gaddafi zerschlagen wurde. In Libyen erschienen westliche Mächte nicht als Eindringlinge wie in Afghanistan oder im Irak, sondern als brothers in arms, die den Freiheitskampf der Rebellen auf deren ausdrückliches Verlangen hin unterstützten. Auch war die Flugverbotszone kein Angriff oder Eingriff in die Gesamtstruktur des Landes wie beim Irak-Krieg 2003, sondern eine unterstützende Maßnahme, die von den libyschen Rebellen erbeten wurde. Der bewusste Verzicht auf Bodentruppen war zwar militärisch ebenso riskant wie im Kosovo 1998, hat aber von Anfang an jeglichen Eindruck von Fremdherrschaft, wie er in Afghanistan entstand, vermieden. Auch hat der Westen endlich wieder eine "Schlacht um die Freiheit" gewonnen. Hier schlummert vielleicht die weltpolitische Bedeutung dieser couragierten Intervention. Außerdem hatte sich nach dem 11. September 2001 und dem fehlkalkulierten Angriff der USA auf den Irak in der arabischen Welt der Eindruck eines Kriegs gegen Muslime verfestigt. In Libyen hingegen ist der Westen für die Freiheit eines muslimischen Volkes in die Bresche gesprungen. "Zehn Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hat der libysche Freiheitskrieg ein Zeichen gegen den Kampf der Kulturen gesetzt."
Fehler einer Zivilmacht
Was von der Libyen-Politik Deutschlands in Erinnerung bleibt, sind Fehler und Versäumnisse einer Zivilmacht ohne Zivilcourage. In dieser Form wird Deutschland weder bei der Hilfe für bedrängte Menschen noch bei der eigenen Selbstbehauptung in einer turbulenten Welt bestehen können. Die Regierung hatte es versäumt, trotz schwerer innenpolitischer und innerparteilicher Bedingungen eine humanitäre Intervention in Libyen zu begründen und mitzutragen wie seinerzeit während des Kosovo-Kriegs. Dabei wäre das Vorgehen in Libyen sogar einfacher zu rechtfertigen gewesen, da für eine militärische Beteiligung in Libyen alle rechtlichen, politischen und moralischen Voraussetzungen gegeben waren. Statt die Lage unter bündnispolitischen Prämissen angemessen zu bewerten, überwog taktisches und wahlpolitisches Kalkül.
In der Libyen-Krise wurden die wegweisenden außenpolitischen Koordinaten für Deutschlands Kurs falsch berechnet. Die außenpolitische Priorität auf "neue Kraftzentren der Weltpolitik" irritiert. Im "ZDF heute journal" am 25. August 2011 unterstrich der Außenminister, dass er diese als neue "Gestaltungsmächte" in die internationale Verantwortung einbeziehen möchte. Aus dem Versagen in Libyen hätte aber eine andere Lehre gezogen werden müssen: Für Deutschland kommt es zu allererst darauf an, dass die bewährten Partner nicht weiter vor den Kopf gestoßen, sondern durch Taten wieder davon überzeugt werden, dass Deutschlands Platz an der Seite von verlässlichen Partnern und bewährten Institutionen ist. Die neuen und überwiegend autoritären Kraftzentren sind nicht an der Stärkung von Freiheit und Demokratie interessiert. So forderte Russland auch vier Tage nach der Einnahme von Tripolis eine Machtteilung der Rebellen mit Gaddafi.
Bei der Enthaltung der Bundesregierung gerieten zwei Maximen in Konflikt: Zivilmacht versus Bündnismacht. Das Ergebnis ist ein Deutschland, das als unmoralische Zivilmacht dasteht: Denn es war moralisch verwerflich, Gaddafi weiter gewähren zu lassen, statt ihn zu stoppen.