Die Umbrüche in den arabischen Staaten seit Anfang des Jahres 2011 überraschten die Menschen im Nahen Osten, in Europa und auch weltweit. Zeitpunkt und Auslöser der Revolutionen und Aufstände waren nicht vorhersehbar. Dabei herrschten bereits seit Jahrzehnten die Zustände, die jetzt zur Auflehnung der Menschen führten: fehlende Zukunftsperspektiven und gesellschaftliche Teilhabe insbesondere für die sprunghaft anwachsende Bevölkerungsschicht unter 30 Jahren, fehlende politische Repräsentation, fehlende gesellschaftliche Räume zur Artikulation von Bedürfnissen. Der Sturz despotischer Regimes, die seit Jahrzehnten mit "eiserner Hand" ihre Gesellschaften kontrollierten und entrechteten, läutet aus der Perspektive vieler Araberinnen und Araber eine Zeitenwende ein.
Die postrevolutionären Gesellschaften stehen vor der Herausforderung, ihre politischen Systeme im Sinne demokratischer Rechts- und Sozialstaaten zu reformieren. Die Menschen im Nahen Osten fordern ein Leben in Sicherheit, Würde und ohne Angst. Dazu gehören politische Grundrechte und Freiheiten. Politische Entscheidungsträger müssen gezwungen sein, regelmäßig Rechenschaft abzulegen. Selbstbestimmung und Selbstentfaltung setzen ökonomische Sicherheit, Bildungschancen und Zukunftsperspektiven voraus. Öffentliche Ressourcen müssen nicht länger nur einigen wenigen, sondern allen zur Verfügung stehen.
Bei aller Euphorie erfordern Umbruchzeiten aber auch politischen Realismus: Der Übergangsprozess hin zu offenen Gesellschaften eröffnet auch Gegnern demokratischer Systeme Chancen, ihre politischen Ideen in die Tat umzusetzen. Hier ist kritische Aufmerksamkeit gefragt. Doch unabhängig von der Frage, wie sich die Situation in den einzelnen arabischen Ländern jeweils entwickeln wird, gilt es, der Freiheitssehnsucht der Menschen zu vertrauen und den überfälligen Demokratisierungsprozess als Partner und europäischer Nachbar mit Sympathie zu begleiten.