Einleitung
Die Aufstiegsgeschichte der Familie Gomez Villanueva beginnt 1984. Javier Gomez und seine Ehefrau Rosa María Villanueva kaufen in Tláhuac, tief im Süden von Mexiko-Stadt, ein kleines Stück Land. Javiers Lohn als Lastwagenfahrer eines Suppenfabrikanten reicht nicht, um das von den Vätern geborgte Geld zurückzuzahlen. Deshalb zieht er noch im selben Jahr für ein paar Monate nach Chico in Kalifornien, auf eine Farm, wo er Pflaumen, Mandeln und Nüsse erntet. Die Arbeit ist äußerst hart, das Dasein einsam und kümmerlich, aber der Lohn ein Mehrfaches von dem, was er zuhause erhielt. Also geht er auch in den folgenden Frühjahren, um jeweils im Herbst zurück in Tláhuac zu sein.
Das Ersparte investieren Javier und Rosa María in Mörtel und Stein. Zusammen mit ihren Vätern, die auf dem Bau arbeiteten, ziehen sie die Mauern eines Häuschens hoch. Bis es 1992 endlich bezugsbereit ist, haust die Familie in der Nähe, bei Javiers Eltern. Als ihr ältester Sohn César kurz darauf mit 16 Jahren Vater wird, fügen sie ein zweites Stockwerk an. Auf diesem wohnen César und seine Ehefrau heute noch, mittlerweile mit drei Kindern. Sein jüngerer Bruder Johny ist in dem Jahr zur Welt gekommen, als Javier Gomez erstmals zur Ernte nach Kalifornien fuhr - deshalb der amerikanische Name. Inzwischen ist auch Johny verheiratet und Vater zweier Söhne. Seine Familie teilt sich das erste der vielleicht 60 Quadratmeter großen Stockwerke mit Rosa María, der unbestrittenen Patronin im Hause. Im Erdgeschoss neben der Küche wohnt Veronica, mit 20 Jahren das jüngste der drei Kinder von Javier und Rosa María.
* Erster Teil einer zweiteiligen Reportage, die in Mexiko beginnt und in den USA fortgeführt wird.
Oase in der urbanen Öde
Vom Eingangsraum aus, in dem wir an diesem sommerlichen Sonntagnachmittag sitzen, sieht man in Veronicas Zimmer. Die Wände sind in dezentem Violett gestrichen und die Fenster mit sauberen, weißen Vorhängen versehen. Unschuld und Geborgenheit strömen durch die offene Türe hinaus. Diesen Eindruck erhält, wer von draußen kommt, von der Straße, wo das Leben ein raues zu sein scheint. Die meisten Häuser im Quartier sind ärmlich und rußgeschwärzt, auf den Bürgersteigen liegt Abfall. Jugendliche lungern herum und beobachten das Treiben im Viertel. Instinktiv meidet man ihre Blicke. In dieser trostlosen urbanen Öde ist das Häuschen der Familie Gomez Villanueva, versteckt in der Sackgasse Cerrada del Cazador, eine kleine Oase des Friedens und bescheidenen Wohlstands. Die Ausläufer des "Drogenkrieges" haben auch hier erste Opfer gefordert.
Tláhuac bedeutet in der Ureinwohnersprache Náhuatl "Ort des Wassergoldes". Nur noch einige Tümpel und Schilfe lassen erahnen, dass die Azteken vor fast 600 Jahren die erste Siedlung auf einem Deich errichteten, der ein riesiges Seen- und Sumpfgebiet durchzog. Der Moloch, durstig nach Wasser und hungrig nach Land, hat es fast vollständig zerstört. Mitte des 20. Jahrhunderts begann Mexikos Einwohnerzahl rasch zu steigen. Gleichzeitig setzte die Landflucht ein. Über das stürmische Wachstum hinaus erlebte die Hauptstadt eine wahre Blüte. Die Fahrt nach Tláhuac erinnert an sie, die (auch) die Mexikaner von einem Wunder hat sprechen lassen - dem milagro mexicano. Man passiert die 1954 eingeweihte Ciudad Universitaria, ein 7,3 Millionen Quadratmeter großer Campus, auf dem die goldene Künstlergeneration der mexikanischen Moderne um Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros oder Juan O'Gorman grandiose Werke schuf. Im Universitätsstadion wurden 1968 die Olympischen Sommerspiele eröffnet, die erstmals in die "Dritte Welt" vergeben worden waren. Kurz darauf taucht das prächtige, 100.000 Zuschauer fassende Aztekenstadion auf, das für die Fußballweltmeisterschaft 1970 gebaut worden war.
Doch selbst während des "Wirtschaftswunders" konnte Mexiko die vor allem auf dem Land verbreitete Armut nicht ausrotten. Die Menschen zogen in die Städte oder in die USA. Die Einwohnerschaft des Dorfes Parácuaro im Gliedstaat Guanajuato, in dem Javier Gomez im Dezember 1958 zur Welt kam, bestand während der kalifornischen Erntezeit nur aus Kindern, Frauen und Alten. Jeder arbeitsfähige Mann suchte mit den US-Dollars seine Familie durchzubringen und wenn möglich Saatgut und Vieh für die eigene Landparzelle zu kaufen. So auch Francisco Gomez, Javiers Vater. Obwohl die Familie später nach Mexiko-Stadt zog, konnte sich Javier 1984 bei seiner ersten Wanderung deshalb auf ein Netzwerk verlassen, das über Generationen von Auswanderern hinweg geknüpft worden war. Es ist nahezu unmöglich, aus Parácuaro zu stammen, ohne in Kalifornien irgendwo bei einer Tante oder einem Vetter Unterschlupf zu finden.
Banges Warten
Rosa María Villanueva verbrachte dennoch alljährlich Wochen und Monate voller Sorge, bis sie die Nachricht erhielt, Javier sei heil in Chico angekommen. "Manchmal brauchte er für die Reise einen Monat. Ein weiterer verging, bis sein Brief bei uns eintraf", erzählt sie. Immerhin kann Javier schreiben. Im Gegensatz zu ihm hatte sein Vater die Familie jeweils bis zur Rückkehr nach Parácuaro im Ungewissen gelassen, ob alles gut gegangen war. Denn schief gehen konnte und kann einiges. Mehrere Male sei Javier aufgegriffen und ausgewiesen worden, sagt Rosa María. Aber stets sei er im Grenzgebiet geblieben, um sogleich den nächsten Versuch zu wagen. Einmal hätten ihn die coyotes auf der anderen Seite der Grenze sitzen lassen. Die "Kojoten" sind die Schlepper. Sie führen immer mehr Migranten durch die Wüste von Sonora und Arizona, seitdem die USA Mitte der 1990er Jahre bei San Diego eine gewaltige Sperranlage errichtet haben, deren Wachtürme und planierte Landstreifen an die einstige innerdeutsche Grenze erinnern. Jahr für Jahr sterben unter der sengenden Sonne Hunderte von Unentwegten und Verzweifelten an Hitze und Durst.
Rosa María erwähnt nicht, dass ihr Ehemann noch nie legal in die USA eingereist ist. Das versteht sich von selbst. Mit seinen sechs Jahren Primarschule käme er nicht einmal in die Nähe einer Aufenthaltserlaubnis, auf die jährlich rund 20.000 hoch qualifizierte Mexikaner hoffen dürfen. Er weiß auch so, dass sie auf der anderen Seite auf günstige und tüchtige Arbeitskräfte wie ihn angewiesen sind. Die massenhafte Migration setzte im späten 19. Jahrhundert ein. Die Landwirtschaft im Südwesten der USA suchte billige Hände, weil ab 1882 die Einwanderung von Chinesen und später auch von Japanern unterbunden wurde. Für die Mexikaner als Ersatz sprach, dass sie bei Gebotenheit nur über den Rio Bravo und nicht über den Pazifischen Ozean gebracht werden mussten. Dafür galt es, sie in der Illegalität zu halten. "Das kam auch den Arbeitgebern zupass, weil die indocumentados kaum den Schutz der Heimlichkeit verlassen würden, um Rechte und anständige Bezahlung einzufordern", sagt der mexikanische Soziologe Jorge Bustamante, UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte der Migranten.
Das amerikanische Kalkül wird seither jedoch regelmäßig von den Wirtschaftskrisen im südlichen Nachbarland durchkreuzt. Allzu kurzlebig war das milagro mexicano. Als zwischen 1982 und 1988 das Bruttoinlandprodukt pro Kopf um zehn Prozent fiel, kam es zu einem regelrechten Exodus: Jedes Jahr überquerten im Schnitt fast drei Millionen Mexikaner wie Javier Gomez illegal die nördliche Grenze. Doch im Gegensatz zu ihm entschieden sich immer mehr zum Bleiben. Die vormals temporäre Migration von "Gastarbeitern" wandelte sich für viele zur dauerhaften Auswanderung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein illegaler Grenzgänger innerhalb eines Jahres zurückkehren würde, sank von 41 Prozent (1986) auf 27 (1993) und schließlich 8 Prozent (2007). Die Zahl der in Mexiko geborenen Einwohner der USA schwoll deshalb zwischen 1980 und 1996 von 2,2 auf 7,1 Millionen an. Mittlerweile beträgt sie 11,9 Millionen. Fast zwei Drittel von ihnen halten sich illegal im Land auf. Jorge Bustamante führt die Entwicklung auf zwei Faktoren zurück. Zum einen bestehe weiterhin ein enormes Wohlstandsgefälle zwischen den beiden Ländern. Tatsächlich hat das mexikanische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in den vergangenen 60 Jahren stets zwischen 25 und 30 Prozent des amerikanischen entsprochen. Zum anderen habe die Verschärfung und Militarisierung der amerikanischen Grenzkontrollen seit den 1980er Jahren den Anreiz zur definitiven Auswanderung verstärkt. "Je schwieriger und kostspieliger der Übertritt, umso weniger sind die Migranten gewillt, aus freien Stücken zurückzukehren", erklärt er.
Keine Träne für Kalifornien
1989 trug sich auch die Familie Gomez Villanueva mit dem Gedanken, endgültig zu emigrieren. César gelangte mit den Papieren eines amerikanischen Jungen über die Grenze, Rosa María und Johny mit Hilfe eines Schleppers. "Für uns zwei bezahlten wir 200 Dollar", erzählt sie. Seither seien die Preise ständig gestiegen, insbesondere nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Javier habe die letzten Male zwischen 3.000 und 5.000 Dollar hinblättern müssen. Die zunehmende Undurchlässigkeit der Grenze zeigt sich auch daran, dass heute fast alle illegalen Migranten einen "Kojoten" anheuern. In den 1960er Jahren, als Javiers Vater nach Kalifornien zu ziehen pflegte, hatten das bloß 40 Prozent für nötig erachtet. Der Sun State war die natürliche Wahl für die Familie, um vom vermeintlich besseren Leben der gringos zu kosten. Im November, nach nur sieben Monaten, entschied sie sich jedoch zur Rückkehr nach Tláhuac.
Johny war damals fünf. "Mir hat es ganz gut gefallen im Kindergarten. Ich bin viel geschwommen und habe viel geschlafen", frotzelt er, dem die Gemütlichkeit demnach seit Kindesbeinen ein Charakterzug zu sein scheint. Meist überlässt er dem älteren César das Wort. Dieser konzediert, im Vergleich seien die Schuleinrichtungen von einem "ganz anderen Niveau" gewesen. "Aber ich spürte eine gewisse Ablehnung, nicht nur vonseiten der Amerikaner, auch der vielen Landsleute", erzählt er. Im Städtchen Colusa, knappe 100 Kilometer nördlich von Sacramento, seien die meisten mexikanischen Kinder aus Guanajuato gewesen, wie sein Vater. Ausgerechnet sie hätten ihn als chilango gehänselt, wie die Hauptstädter von den anderen Mexikanern abfällig genannt werden. "Hinzu kam die ständige Angst vor den Einwanderungsbehörden." Schließlich habe ihm missfallen, dass man ohne Auto völlig aufgeschmissen gewesen sei. Nein, dem Leben in Kalifornien habe er nie eine Träne nachgeweint, sagt César.
In der Fremde auszuharren, habe sich auch finanziell nicht gelohnt. "Wir merkten, dass Javiers Lohn hier viel mehr wert ist als dort", sagt Rosa María, ganz Geschäftsfrau. Hinter ihr stapeln sich einige Babytragen. Auf dem langen Tisch, an dem wir sitzen, schneidet sie die Muster und den Stoff zu. Die Tragen lässt sie von Heimnäherinnen fertigen, um sie dann auf den Markt zu bringen. Das sei ein Zusatzverdienst, mehr nicht. Sie fing ihr kleines Geschäft Anfang der 1990er Jahre an, als Javier erwog, sein Geld wieder in Mexiko-Stadt zu verdienen. "Er wollte unbedingt ein weiteres Kind. Als im April 1991 Veronica geboren wurde, sagte ich ihm: Jetzt kannst du nicht gehen und wieder mir die ganze Arbeit überlassen." Doch die 350 Pesos Wochenlohn (etwa 20 Euro), auf die er als Busfahrer in Mexiko kam, entsprachen einem Tageslohn auf der kalifornischen Farm. Im Mai war er bereits wieder in Chico, Kalifornien.
Zweite Etappe des Aufstiegs
Das kleine Haus war inzwischen fast fertig gebaut. Nun galt es, die nächste Etappe des sozialen Aufstiegs in Angriff zu nehmen: die Ausbildung der Kinder. Trotz seiner frühen Vaterschaft musste César nach der obligatorischen Schulzeit nicht den Unterhalt seiner Familie bestreiten. Er machte das Abitur. Nach einigen Jahren der Erwerbstätigkeit entschloss er sich, an einer privaten Universität ein Abendstudium in Informatik zu absolvieren. "Genau heute vor einem Jahr erhielt ich meinen Magister", erzählt er stolz und ist etwas enttäuscht, dass die anderen sich der Bedeutung des Datums offensichtlich nicht bewusst waren. Johny ließ sich an einer Fachschule zum Computerexperten ausbilden, und Veronica strebt denselben Abschluss an. Haben das Internet und Skype die Distanz zum Vater verkürzt? "Er kann keinen Computer bedienen", antwortet César. Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken, fügt die Mutter sogleich hinzu: "Hätte er sich nicht all die Jahre auf den Feldern geplackt, hätten die Kinder nicht eine so gute Ausbildung erhalten."
Für sie und Javier spendete nicht das Internet, sondern der Telefonanschluss den Segen der Technik. Dass eines der Installationsteams von Teléfonos de México 1993 die Cerrada del Cazador aufsuchte, war außerordentlich - nicht nur, weil die Telefongesellschaft damals in der Regel jahrelang auf sich warten ließ, erst recht in einer ärmlichen Gegend wie Tláhuac: Vorbei war die Zeit, als Rosa María zur Nachbarin hatte huschen müssen, um Javiers Anrufe entgegenzunehmen, in fünf Minuten zu erzählen und zu vernehmen, was an gemeinsamem Leben verloren gegangen war und sich mit einem hasta luego aufs nächste kurze Rendezvous in einer Woche zu vertrösten. Die Zeit des Bangens zwischen dem Abschied und dem Eintreffen der guten Nachricht wurde so erheblich verkürzt. Und das Schicksal könnte keine bösen Streiche mehr spielen, indem die Nachbarin zur Unzeit aus dem Haus sein oder Javier zur abgemachten Stunde partout kein funktionierendes öffentliches Telefon finden würde.
Seit drei Jahren hat Javier gar ein Handy mit einer Flatrate für Mexiko. An diesem Sonntag ruft er seine Familie gleich mehrere Male an. "Das hilft schon sehr. Dennoch fühle ich mich ab und zu allein, ohne Unterstützung", sagt Rosa María. An diese Normalität hat sie sich auch nach fast 30 Jahren nicht gewöhnt. Die Kinder hingegen schon. "Ich kenne nichts anderes", bekundet César, und Johny nickt. Veronica sagt, er fehle ihr manchmal, zum Beispiel am Vatertag. Die hinein- und hinausstürmenden Kinder lassen aber keine Stille aufkommen, in der sich Melancholie breitmachen könnte. Auch der weit entfernte Javier scheint an seinem freien Tag ungetrübter Laune zu sein. Ohne zu zögern sagt die sympathische Stimme am anderen Ende der Verbindung zu, mich in Chico zu treffen, um über sein Leben in den USA zu sprechen. Nicht zuletzt diese Bereitwilligkeit zeugt davon, dass er und seine Familie die eigene Wanderungsgeschichte als eine wahrnehmen, in der das Erreichte das Erlittene überwiegt.
Aus Not, nicht zum Vergnügen
Nicht alle der Millionen mexikanischen Migranten sehen ihr Leben in so hellem Lichte wie Javier Gomez, weshalb sie weniger geneigt sind, darüber zu sprechen. Die 38-jährige Maurilia Hernández, die aus dem bitterarmen Gliedstaat Oaxaca stammt und nun in Mexiko-Stadt im Haushalt einer Familie arbeitet, erzählt, dass zwei ihrer Geschwister längere Zeit in Las Vegas gearbeitet hätten. Ein Bruder und ein Neffe seien noch immer dort. Letzterer wolle aber nicht über die Emigration sprechen, weil er seine Familie noch als Kind verlassen habe und von den Erfahrungen in den USA und auf dem Weg dorthin traumatisiert worden sei. Auch ihr Bruder traue sich nicht zu reden, weil er panische Angst vor den amerikanischen Behörden habe.
Leticia Martínez führt in derselben Gegend von Mexiko-Stadt ein Lebensmittelgeschäft. Ihr Mann arbeitet in Tulsa, Oklahoma. Doch zurzeit erreicht sie ihn nicht, weil er nach einer Razzia in einer nahen Fabrik untergetaucht ist. Eine Schwester und eine Nichte von Josefina Flores leben ebenfalls in den USA, in New York. Die Mittfünfzigerin ist die Chefin einer Gemeinschaft der Mazahua-Indianer im kolonialen Centro historico. Ob ihre Verwandten zu einem Gespräch bereit wären? "Ich glaube nicht. Man geht ja nicht zum Vergnügen hin, sondern aus Not. Darüber spricht man nicht gerne", wehrt Flores ab. Der Soziologe Gustavo Verduzco vom Colegio de México hat die Erfahrung gemacht, dass die zurückgelassenen oft keine Vorstellung von den Härten der Emigration haben. "Ihre Verwandten verdienen drüben wesentlich mehr. Doch was das Wohnen, Essen und die Geborgenheit betrifft, ist das Leben hier besser", sagt er.
Rosa María Villanueva erzählt, die 1989 in Kalifornien verbrachten Monate hätten ihr die Augen geöffnet. "Es ist hart und einsam in den USA. Javier rackert sich für uns ab." Sie glaubt, das fehlende Verständnis dafür könne Familien kaputt machen. Ein Halbbruder Javiers habe deswegen Frau und Kinder verlassen. Einer ihrer Schwager sende nur noch Geld für die laufenden Ausgaben, weil seine Frau das meiste für sich gebraucht habe. Und weil die Kinder von der Arbeit ihres abwesenden Vaters so wenig gehabt hätten, hätten sie den Respekt vor ihm verloren.
Javier Gomez' Kinder wissen zu schätzen, was er für sie geleistet hat. Solange sich der bescheidene Wohlstand mit vereinten Kräften erhalten lässt, wollen sie den Spuren der Vorväter aber nicht folgen. Zwar verdiene sein Vater dort als Landarbeiter wohl mehr als er hier in der Informatik, sagt César. Doch bedeute die Illegalität eine ständige Bedrohung. Dies hinzunehmen sei er umso weniger bereit, als er von seiner Familie getrennt wäre. "Zudem fehlt mir der Anstoß, der von anderen Migranten ausgeht, wie zum Beispiel in Parácuaro." Johny schließt sich einmal mehr an, und Veronica mutmaßt, dass sie möglicherweise gegangen wäre, hätte sie nicht ein Studium beginnen können. Beim Abschied draußen vor der Tür sagt Rosa María, die Kinder seien ein besseres Leben gewohnt als sie und Javier damals. Sie hätten hier mehr zu verlieren. Es ist eine bloße Feststellung, keine Klage und schon gar kein Vorwurf.
2009 erlebte Mexikos Wirtschaft im Gefolge der amerikanischen Rezession einen regelrechten Einbruch, den ersten seit der sogenannten Tequila-Krise von 1994/1995. Über eine Million Familien, die in der Zwischenzeit in die Mittelschicht aufgestiegen waren, rutschten wieder unter die Armutsschwelle. Obwohl die Familie Gomez Villanueva von der Krise unbeschadet blieb, wurde auch sie von deren Ausläufern erfasst: Wie stets in konjunkturell schwierigen Zeiten stieg in den USA der politische Druck gegen die illegalen Einwanderer. In den vergangenen zwei Jahren wurden die US-Grenzwachtcorps massiv aufgestockt und fast 800.000 "Sans-papiers" aufgegriffen und abgeschoben, so viele wie nie in der jüngeren Vergangenheit. Selbst für den wanderungserprobten Javier Gomez ist der Grenzübertritt deshalb so unsicher und teuer geworden, dass er seit seinem letzten Abschied im März 2009 bislang nicht mehr nach Tláhuac zurückgekehrt ist. Sollte er dabei nicht längst zuhause das bessere Leben genießen, das er in der Fremde erarbeitet hat? Eine von vielen Fragen an den abwesenden Protagonisten, die es in Chico, Kalifornien, zu stellen gelten wird.