Einleitung
Literaten wie Bewohner der Ciudad de Mexico imaginieren die Riesenstadt oft als "Krebsgeschwür", unaufhaltsam wuchernd und letztlich tödlich. Schon längst sind ihre urbanen Ballungsräume über die Grenzen des Bundesdistrikts (Distrito Federal, DF) hinausgewachsen. Dabei leben im Bundesdistrikt selbst "nur" knapp neun Millionen Menschen. Erst mit jenen Flecken Stadt, die im Norden und Osten in die angrenzenden Bundesstaaten hinüberreichen, sind es dann die viel zitierten 20 oder 22 Millionen. Jahrzehntelang galt die mexikanische Hauptstadt zudem als Hochburg urbaner Kriminalität. Doch jenseits des Klischees vom kollabierenden Moloch bildet sich angesichts des allerorten eskalierenden "Drogenkrieges" derzeit ein neues Stadtbild heraus: Mexiko-Stadt als sichere Insel in einem Meer entfesselter Gewalt. Dabei war die gigantische Flächenstadt im Tal von Mexiko schon immer anders als andere: Kaum eine wuchs so schnell, doch in kaum einer anderen Megalopolis leben die Menschen weniger dicht beieinander. Und inmitten des rechten politischen Mainstreams im Lande wird Mexiko-Stadt seit knapp 15 Jahren links regiert.
Die öffentliche Stadt
Ostern war stets die Zeit, in der sich die überbordende Hauptstadt ein wenig von sich selbst erholte. Semana santa, die heilige Woche, ist Auszeit im zumindest kulturell noch immer hochkatholischen Mexiko. Die Chilangos, wie die Bewohner sich nennen, suchen das Weite - am Strand, im Umland, in einem der gigantischen Freibäder, in dem Großfamilien für ein paar Pesos urlauben können. Die Stadt leerte und der Verkehr verflüssigte sich, sogar die Vulkane, die das Tal von Mexiko umschließen, ließen sich in dem ungewohnt klaren Licht plötzlich blicken. Dieses Jahr war etwas anders. Die Altstadt schien geflutet von Besuchern, vor allem Einheimischen aus anderen Teilen des Landes. Besonders aus dem Norden waren viele gekommen, um, wie sie den erstaunten Reportern berichteten, "endlich einmal wieder in Ruhe durch die Straßen zu flanieren". In vielen Städten Mexikos ist urbanes Leben durch Bandenterror und "Drogenkrieg" nahezu zum Erliegen gekommen. Öffentliches Leben aber ist, so lässt sich ohne Angst vor Pathos sagen, so etwas wie die Seele der mexikanischen Hauptstadt.
Da gibt es die post-aztekischen Muscheltänzer, die im Zentrum der Altstadt tagein, tagaus mit Weihrauch und Federschmuck den Geist des untergegangenen Mexiko beschwören. Oder Hunderte von Pärchen mittleren Alters, die sich jeden Samstagnachmittag im Park zum Danzon, dem karibischen Standardtanz, treffen. Oder auch die Mariachi-Combos auf der Plaza Garibaldi, die Nacht für Nacht darauf warten, dass Besucher ein oder auch zwei Liedchen bei ihnen bestellen: Das alles sind eingängige Momentaufnahmen davon, wie mexikanische Kultur den öffentlichen Raum - buchstäblich - bespielt. Im Alltag jedoch sind es vor allem zwei kollektiv verrichtete Tätigkeiten, die den städtischen als öffentlichen Raum zusammenhalten. Die eine davon ist das Essen. Am Straßenrand und auf Plätzen, an mobilen Wochenmärkten oder überdachten Markthallen: Überall stehen mobile Taquerías (Taco-Stände) mit roten und grünen Salsas, Limonen und frischem Koriander, Backbleche mit Quesadillas, Tlacoyos oder Gorditas aus gelbem oder blauem Mais, Aluminiumtröge mit dampfenden Tamales, Stände mit gerösteten Maiskolben, Obst- und Fruchtsaftbuden. Aus den bunten Plastiktellern, die von Kundin zu Kunde nur kurz mit einem Stück Papier ausgewischt werden, isst die vornehme Señora, die ihre Hunde ausführt, ebenso wie der Bauarbeiter, der alte Parkwächter oder die Blumenverkäuferin von gegenüber. Es ist kaum ein Chilango vorstellbar, der nicht dann und wann auf einem der Plastikhöckerchen Platz nimmt und "drei Quesadillas" bestellt, "mit Salsa verde und ohne Zwiebeln". Öffentliches Essen ist in Mexiko-Stadt eine zentrale städtische und vorübergehend sogar klassenübergreifende Praxis.
Die andere Verrichtung ist das Demonstrieren. Beachtliche 5,4 Aufmärsche pro Tag wurden im vergangenen Jahrzehnt im Schnitt gezählt, wie bei dem 2010 verstorbenen Stadtchronisten Carlos Monsiváis nachzulesen ist.
Eingebrannt ins urbane Gedächtnis haben sich vor allem die Bilder von den zornigen Megamarches des Spätsommers 2006, als Anhänger des bei den Präsidentschaftswahlen unterlegenen Andres Manuel Lopez Obrador gegen den vermuteten Wahlbetrug protestierten. Beim ersten Mal soll es schon eine halbe Million gewesen sein, am Sonntag darauf eine ganze Million und am dritten Sonntag gar zwei Millionen. Und als die Massenaufläufe nichts nützten und die geforderte Stimmennachzählung weiterhin verweigert wurde, beschloss man einfach zu bleiben: Der Planton, die Besetzung, war geboren. Fast sieben Wochen campierten Zehntausende im Stadtzentrum, Hunderte von Zelten blockierten die urbanen Lebensadern. Nicht wenige Chilangos begannen zu murren, die Stadtregierung aber ließ die Zeltenden gewähren. Erst zum Nationalfeiertag, als Protestlager und traditionelle Militärparade miteinander zu kollidieren drohten, blies Lopez Obrador die Besetzung ab.
Seit einiger Zeit ist auf den Straßen zudem jene andere Zivilgesellschaft unterwegs, der öffentlicher Protest lange wesensfremd war und die nun "für Sicherheit" und "gegen das Verbrechen" mobilisiert. Sie trägt Namen wie "Bürger in Weiß" und brachte 2004 einen riesigen Schweigemarsch auf die Beine - Forderungen nach harter Hand und Todesstrafe inklusive. Und seit sich die Gewalt als Folge des von Präsident Felipe Calderon erklärten "Krieges gegen die Drogen" sich wie eine Epidemie im Lande ausbreitet, ist Kriminalität geradezu ein Leitmotiv der urbanen Proteste geworden. Dabei fordern die Demonstranten heute allerdings nicht mehr die Todesstrafe, sondern den Rücktritt des Präsidenten und eine Kehrtwende in der fatalen "Sicherheitspolitik".
Fluchtpunkt aller Protestbewegungen ist seit jeher der Zocalo, eine weit auslaufende Zementfläche im Zentrum, in die seit Jahrzehnten nahezu jede Demonstration mündet. Der Platz ist an sich schon ein urbaner Ausnahmezustand, 200 mal 200 Meter nackte Betonplatten, kein Ort zum Verweilen, ohne Schattenspender oder Sitzgelegenheiten. Vor der Sonne schützen kann man sich nur im schmalen Schatten des gewaltigen Fahnenmastes, der 60 Meter in den Himmel ragt. Um ihn herum, im leeren Quadrat, versammeln sich die Bürger. Drumherum stehen Bauten, die die wichtigsten Mächte räumlich versammeln: an der einen Flanke die barocke Kathedrale mit ihren mächtigen Türmen, gegenüber der Sitz der Stadtregierung, daneben die altehrwürdigen Kaufhäuser und auf der anderen Seite der Palacio Nacional mit seinen schmucken roten Markisen. Bis in die 1950er Jahre war der Zocalo, benannt nach dem leer gebliebenen Sockel für ein Nationaldenkmal, noch eine Art Bürgerpark mit Blumenbeeten, Bänken und einem verschnörkelten Pavillon. Dann rief ein modernistischer Bürgermeister im Namen der "urbanen Hygiene" die Neuordnung der Altstadt aus, führte eine Sperrstunde für Cantinas (Kneipen) ein und ließ allen Zierrat von der Plaza entfernen. Der bürgerliche Park wurde zu einem staatsbürgerlichen Platz, zunächst noch reserviert für offizielle Zeremonien, Militärparaden und Massenaufmärsche. Für kurze Zeit gelang es 1968 den protestierenden Studierenden, auf den Zocalo zu gelangen, bevor die Panzer sie wieder räumten. Erst ab Mitte der 1980er Jahre, als die staatliche Kontrolle über Gesellschaft und Raum zu zerbrechen begann, begannen dissidente Bewegungen sich erneut des Herzens der Hauptstadt zu bemächtigen.
Die politische Stadt
Das Demonstrieren ist nicht weniger geworden, seit die Stadt von der Linken regiert wird. Im Jahr 1997, bei den ersten freien Wahlen zum Stadtparlament, gewann prompt die Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Bis dahin war der Bürgermeister stets von der Bundesregierung ernannt worden und unterstand damit dem Machtmonopol der Revolutionär-Institutionellen Partei (PRI). Auch wenn deren politische Kultur des Klientelismus und Autoritarismus bis heute fortwirkt - viele PRD-Politiker stammen aus der politischen Wiege der PRI, so hat die neue Stadtregierung immerhin gezeigt, was viele zuvor für undenkbar hielten: dass es im Megamoloch ein Regieren jenseits der politischen Megakrake PRI geben kann.
Dabei ging es weniger um große Visionen als um kleine Schritte zur Steigerung urbaner Lebensqualität. Noch unter Lopez Obrador, der die Stadt von 2000 bis 2005 regierte, wurden für bildungsferne Schichten und Bezirke neue Gymnasien und sogar eine eigene Stadtuniversität gegründet. Die Gesundheitsversorgung für die Armen wurde ausgebaut und eine bescheidene Rente für über 70-Jährige eingeführt - unabhängig vom Einkommen und daher nicht zu Unrecht als "Stimmenfängerei" kritisiert. Als besonders erfolgreich gilt der Ausbau der kulturellen Infrastruktur, von Gratiskonzerten und temporären Museen auf dem Zocalo über öffentliche Buchmessen bis zu Kulturzentren für Jugendliche der Peripherie. Allerorten wurden Foren der Bürgerbeteiligung eingerichtet und die Wohnungsbaupolitik neu ausgerichtet; dabei sollte die Altstadt wieder belebt, Nachbarschaftsinitiativen eingebunden und über Mikrokredite den Ärmsten ein Eigenheim ermöglicht werden. Der städtische Polizeiapparat wurde personell aufgeräumt, den Uniformierten wurden Weiterbildungen und Lohnerhöhungen angeboten. Geradezu vorbildlich gibt sich Mexiko-Stadt in Sachen Bürgerrechte: Im Frühjahr 2007 beschloss das Stadtparlament die vollständige Liberalisierung der in Mexiko und weiten Teilen Lateinamerikas kriminalisierten Abtreibung. Ende 2009 folgte die gesetzliche Anerkennung der Homo-Ehe.
Die linke Zivilität treibt jedoch auch seltsame Blüten. Schon 2001 lud Lopez Obrador den ehemaligen Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, der dort zero tolerance implementiert hatte, als Berater für die hauptstädtische Sicherheitspolitik ein. Sein Nachfolger, der seit Ende 2006 amtierende Marcelo Ebrard, ließ Tausende von Videokameras an Ampeln und in U-Bahn-Stationen installieren - ein eigenartiger Widerspruch zum gerne wiederholten Mantra, dass die beste Prävention nicht Technik oder Waffen, sondern eine "Politik der sozialen Wohlfahrt" sei.
Überhaupt ziehe unter Ebrard, so monieren Kritiker, nun ein neuer "Populismus von links" ein. Dabei zählt offenbar weniger sozial- und kulturpolitische Programmatik als vielmehr die Frage, was Volk und Medien auf Anhieb gefallen könnte. Den Anfang machte eine gigantische Eisbahn, die Ebrard im Dezember 2007 erstmals auf dem Zocalo installieren ließ. Seither darf hier jeder jeden Winter kostenlos Schlittschuh laufen, Schuhverleih inklusive. Kritische Geister rümpften die Nase, "Aztecas on ice" höhnte ein Blogger. Die meisten der im Wintersport bis dahin eher unerfahrenen Chilangos aber waren begeistert. Es folgten Stadtstrände oder die Propagierung einer "neuen Fahrradkultur". Über Nacht wurden Fahrradwege geschaffen, im Zentrum stehen nun allerorts blitzende Leihräder bereit, Boulevards werden sonntags für Radler gesperrt. Öffentliche Angestellte hatten eine Zeitlang gar die Anweisung, sich jeden ersten Montag mit dem Rad zum Arbeitsplatz zu begeben. Zweifellos verleiht all dies dem Moloch ökotouristischen Flair. Doch davon, dass Bewohner im monströsen Verkehr nun Zutrauen zum Zweirad entwickelt hätten, kann keine Rede sein.
Ohnehin scheint es Ebrard eher um Image zu gehen. Die "Stadt der Avantgarde", wie es in einer Anzeigenkampagne heißt, ist längst zum Sprungbrett für nationale Ambitionen mutiert: Ebrard will 2012 für die PRD bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren. Im Weg steht ihm dabei nur sein Vorgänger und Parteigenosse Lopez Obrador. Auch dieser hatte als Bürgermeister Popularität gesammelt, bis er sich 2006 in das Rennen um die Präsidentschaft begab. Und eben dies will der damals "Betrogene" sechs Jahre später noch einmal tun. Wie der Zweikampf unter den linken Ex-Bürgermeistern ausgeht, ist völlig offen.
Die materielle Stadt: Wasser, Müll, Verkehr
Jenseits aller Wahlpolitischen Ambitionen stellt schon die materielle Infrastruktur eine kaum zu bewältigende Herausforderung dar. So ist Mexiko-Stadt eine der wenigen Megastädte der Welt, die fernab von jedem Wasser liegen. Viele Stunden sind es zum Pazifik, zum Golf oder gar zur Karibik, im Innenstadtgebiet gibt es gerade einen größeren Tümpel, den Chapultepec-See. Zugleich säuft die Stadt wie ein Loch, rund eine Milliarde Liter am Tag. Und fast ein Viertel ihrer Bewohner bekommt das Wasser nicht aus dem Hahn, sondern vom Tankwagen.
Dabei gab es Wasser einst im Überfluss. Denn ursprünglich war das Hochtal von Mexiko gar kein Tal, sondern eine Bucht. Die aus dem Norden stammenden Azteken hatten sich vor nahezu 800 Jahren auf einer verwilderten Inselgruppe inmitten einer Seenlandschaft niedergelassen. Über Dämme war ihr Inselreich Tenochtitlán mit dem Festland verbunden, die Bewohner betrieben eine ausgefeilte Wasserwirtschaft mit künstlichen Inseln, Kanalisation und getrennten Salz- und Süßwasserkreisläufen. Kaum hatten die Spanier das aztekische Imperium erobert, begannen sie, Kanäle zuzuschütten und Seen trockenzulegen. "Die Spanier haben das Wasser als Feind behandelt", notierte einst der Berliner Reisewissenschaftler Alexander von Humboldt. Die Kreisläufe waren aus der Balance gebracht, es kam zu Versalzung, Lufttrockenheit und verheerenden Überschwemmungen. Im vergangenen Jahrhundert wurde das Tal rasch industrialisiert, letzte Flüsse in Rohre verlegt, über die immer breitere Straßen gebaut wurden. Bevölkerung und Siedlungsfläche versechsfachten sich in nur 50 Jahren, von 3 auf 20 Millionen und von 230 auf 1.400 Quadratkilometer. Flüsse gibt es in Mexiko-Stadt heute nur noch auf den Straßenschildern.
Pro Sekunde werden im Stadtgebiet rund 65.000 Liter Wasser verbraucht, im Jahr insgesamt fast vier Milliarden Kubikmeter. Zwei Drittel davon werden aus dem Grundwasser im Tal selbst hochgepumpt, auf 2.200 Meter über dem Meeresspiegel. Ein Drittel des Wassers muss aus benachbarten Gebieten abgezogen werden, sehr zur Empörung der dort ansässigen Landwirte. Zu allem Überfluss versickert ein Gutteil des Leitungswassers dann noch im defekten Rohrsystem. Die Abwässer wiederum werden überwiegend ungeklärt aus der Stadt gepumpt. Und kaum eine Ressource ist ungleicher verteilt. Im statistischen Schnitt verbraucht jeder Stadtbewohner 350 Liter am Tag. In den Randzonen, wo die Tankwagen nur alle paar Tagen die Kanister füllen, ist es weniger als ein Zehntel davon, in den reichen Vierteln geht für Autowaschen und Gartenbewässerung leicht das Zehnfache drauf.
Die Stadtregierung setzt nun vor allem auf gigantische Kläranlagen, die das Ungleichgewicht beheben und die Verteilung verbessern sollen. Für Experten wie den Stadtökologen Iván Azuara ist dies ein "mechanistischer Trugschluss". Eine rein technokratische Logik, die auf Pumpen, Rohre und Steuern setzt, verkenne die Zyklen des Wassers und die Ökosysteme. Eine neue Wasserpolitik müsse auf der Mikro-Ebene ansetzen, vom Wassersparen über die Trennung von Trink- und Brauchwasser bis zum Einbezug des Regenwassers. Erst dies würde einen Bruch mit dem engen Ingenieursdenken bedeuten, denn es gehe nicht nur um Technik zum besseren Auffangen von Regenwasser, sondern darum - und zwar auf regionaler Ebene - "zu verhindern, dass es aufhört zu regnen".
Nicht zu trennen vom Thema Wasser ist das Thema Müll. Rund 14.000 Tonnen Abfall werden im Großraum täglich produziert. Heftige Regenfälle machen die Müllhalden regelmäßig zu Schlammgebieten, Abfälle werden in die Kanalisation geschwemmt, giftige Stoffe sickern ins Grundwasser. Die größte Halde am Ostrand der Stadt ist, so haben Journalisten ausgerechnet, 13 Mal so groß wie der Vatikan. Fast 17000 Müllsammler leben von und sogar in den Abfallbergen, um die 200.000 hängen ökonomisch vom Recycling ab. Die Stadtregierung hat hoch fliegende Pläne für Müllverbrennung und Kompostierung. Doch auch hier, so Azuara, liege der Ausweg nicht in Megaprojekten, sondern in "lokalen Lösungen" jenseits von Korruption und Profitmaximierung. Gerade keine Großoperationen, nur dezentrale "Akupunktur" und "Mikrochirurgie" könnten die kranke Stadt letztlich heilen.
Kaum ein Übel erschwert den Alltag der Chilangos so leibhaftig wie die verstopften Straßen. Wurde es früher vor allem zu den Stoßzeiten zäh, so ist jetzt rund um die Uhr Rushhour. 1950 gab es noch 22.000 Pferdewagen und 60.000 Autos. Heute wälzen sich dreieinhalb Millionen Pkws durch die Straßen, jedes Jahr werden es ein paar Hunderttausend mehr. Die meisten Autofahrer verbringen täglich mehrere Stunden am Steuer. Lopez Obrador hatte vor vielen Jahren die Stadtautobahnen ausbauen lassen, in dem er ihnen ein "zweites Stockwerk" (segundo piso), verpasste. Anwohner und Umweltschützer fluchten, Passanten staunen über die neuen Betonungetüme, die sich an Knotenpunkten über die Stadt erheben. Den Verkehr soll das hier und da beschleunigt haben, sagen die Autofahrer.
Ohne die Metro, dieses vielarmige Wunderwerk, das seit über 40 Jahren die Menschen von A nach B oder C bringt, ginge gar nichts mehr. Zwischen wie von Zauberhand stets blankpolierten U-Bahnhöfen befördert sie täglich vier Millionen Menschen, und das im Minutentakt. Elf Linien gibt es bislang, die zwölfte ist im Bau, gerade drei Pesos - weniger als 20 Eurocent - kostet das Ticket. Viele Stationen werden zudem als Ausstellungsfläche genutzt, es gibt Graffiti hinter Glas, Fotografie, Malerei und archäologische Funde zu sehen. Die U-Bahn sei eine "Schule der Respekts vor der Diversität", schrieb Carlos Monsiváis, die eine "Ästhetik der Indifferenz" befördere.
Im 2005 erstmals in Betrieb genommenen Metrobus ist das schon anders. Die erste der neuen Stadtbuslinien verbindet, auf einer eigenen Spur entlang der Avenida Insurgentes - der über 40 Kilometer langen Schnellstraße, welche die Stadt einmal der Länge nach durchquert - den Süden mit dem Norden. Der Metrobus, der mit seinen feuerwehrroten Waggons langsam aber beständig an den ewig langen Autoschlangen vorbeituckert, ist neben der Metro das einzige berechenbare Fortbewegungsmittel - und der beste verkehrspolitische Einfall, den eine Stadtregierung nur haben konnte. Hunderte dieser Gelenkbusse fahren heute auf bislang zwei Linien, einmal kreuz und einmal quer durch die Stadt, und befördern dabei täglich über eine halbe Million Menschen - Businessdamen und Hausangestellte, Bauarbeiter und Anzugträger jeder Preisklasse.
Die bewohnte Stadt
Zwar gibt es im postrevolutionären Mexiko schon seit den 1940er Jahren eine staatliche Wohnbaupolitik. Dennoch wurde ein Großteil der Stadt de facto durch private Initiativen produziert - und zwar im doppelten Sinne: durch informellen Eigenbau und durch privatwirtschaftliche Massenproduktion. Zwei Drittel des bewohnten Raums entstanden durch Landbesetzung und selbstorganisiertes Bauen, das erst im Nachhinein reguliert wurde. Daraus wurden dann die Colonias populares oder Armenbezirke wie etwa der Zwei-Millionen-Einwohner-Bezirk Iztapapalapa oder die ehemals informelle Siedlung Nezahualcoyotl. Seit Ende der 1980er Jahre der Bodenmarkt dereguliert und städtische Wohnbauprogramme an private Baufirmen delegiert wurden, hat sich die standardisierte Massenbauweise verbreitet: viele hundert zweistöckiger Einfamilienhäuser aus der Retorte, deren Pseudodesign nur notdürftig die schlechte Bausubstanz und minimale Ausstattung kaschiert. Seither sind daraus eine Unzahl Megasiedlungen, auch Condominios genannt, an den Rändern der Stadt entstanden. Wie in den Colonias populares liegen die Häuser dort dicht an dicht, ohne Chance auf Privatheit, aber auch ohne öffentlichen Raum. Die Condominios, die in der gehobenen Variante auch bewacht werden, sind so etwas wie die gated communities für die klassenbewussten, aber ärmeren Mittelschichten. Anders als die Wohnanlagen in den Vorstädten der USA, die oft völlig vom urbanen Leben entkoppelt sind, ist hier - schon durch die endlosen Fahrten zur Arbeit - das Band zur Stadt nicht ganz gekappt.
Aber auch in Innenstadtbezirken trifft man immer öfter auf Calles cerradas, abgesperrte Straßen. Dabei wird eine bis dahin öffentliche Straße kurzerhand abgesperrt, die Sperre mit einem Wärterhäuschen versehen, das ab sofort für Fahrzeuge und Fußgänger den Zugang kontrolliert. Begründet wird das meist mit der "Sicherheitslage". Vor allem seit der Wirtschaftskrise von 1995 sind Überfälle an der Tagesordnung - als Erfahrung, vor allem aber als Diskurs; an die 2.000 private Wachdienste sollen heute in der Stadt tätig sein. Viele Hundert solcher Cerradas soll es mittlerweile geben, nicht reguliert, kaum legal und doch geduldet. Doch die De-facto-Privatisierung städtischen Raums beschränkt sich nicht auf die Wohnanlagen der Bessersituierten. Auch die Ärmeren beanspruchen Nebengassen, Hauseinfahrten oder Bürgersteige für kommerzielle Zwecke - ob in Gestalt von Taco-Verkäufern, Orangensaftpressern oder Parkhelfern, die auch Anwohner nur gegen ein kleines Entgelt parken lassen. Lizenzen wird man hier vergeblich suchen, Uniformierte erhalten dafür ein kleines Trinkgeld. Experten sind sich in der Bewertung solcher Phänomene uneinig: Was die einen als Indiz für urbanes Chaos und Korruption sehen, werten andere als Symptom einer funktionierenden Verhandlungskultur.
Wem gehört die Altstadt?
Wie komplex die Frage der städtischen Informalität ist, zeigt das historische Zentrum der Stadt, das Centro historico. Kaum ein Ort ist so emblematisch für urbane Mutationen wie die Altstadt rund um den Zocalo. Bis in 1980er Jahren hinein war sie trotz der prächtigen Kolonialarchitektur ein heruntergekommener Bezirk, mit eingefrorenen Niedrigstmieten, bröckelnden Fassaden und fragwürdiger Reputation - eine "No-go-area" für das bürgerliche Mexiko. Einen Wendepunkt markierten die verheerenden Erdstöße vom 19. September 1985, die einen Großteil der Innenstadt verwüsteten, Zehntausende das Leben kosteten und auch im Zentrum Hunderte von Gebäuden ganz oder teilweise zerstörten. Doch die Verwüstung wurde zum Katalysator einer neuen sozialen Mobilisierung. Die jahrzehntelange Erfahrung der Selbstorganisation mündete in eine Politisierung bei den Aufräumarbeiten und im Kampf um neuen Wohnraum. Die Movimientos urbano populares, die städtischen Volksbewegungen, waren geboren - eine Keimzelle der späteren politischen Opposition.
Doch auch das Establishment entdeckte die Altstadt neu. Schon 1990 wurde eine - vorerst noch private - Treuhandgesellschaft zur "Rettung des Stadtzentrums" gegründet. Die Mieten wurden aufgetaut, die Stadt initiierte ein alljährliches Kulturfestival. Im Jahr 2000 wurde die "Rettung" unter Lopez Obrador zur öffentlichen Aufgabe deklariert, unterstützt vom Magnaten Carlos Slim Helú, der historische Immobilien zwecks Instandsetzung käuflich erwarb - ein durchaus ungewöhnliches Joint Venture zwischen einem linken Regenten und einem der mächtigsten und reichsten Unternehmer der Welt. Das Terrain wurde unterteilt in eine A-Zone, in dem die Museen stehen und nur noch wenige Menschen leben, und eine größere B-Zone, so etwas wie der schmuddelige Hinterhof des Zentrums. Im schmucken A-Teil werden seit Jahren unermüdlich Innenhöfe, Fassaden und Plätze restauriert, allerorten entstehen Straßencafés, Fußgängerzonen und Künstlerlofts.
"Gerettet" werden sollte das Filetstück des Zentrums vor allem vom Straßenhandel, der sich der Gassen und Bürgersteige des Zentrums bemächtigt hatte. Zwischen 15.000 und 25.000 Ambulantes, wie die mobilen Händler im mexikanischen Spanisch heißen, bieten hier seit Jahrzehnten ihre Billig- und Billigstwaren feil. Diese stellten eine urbane "Plage" dar, lautete jahrelang der Tenor von Stadtregierung und Medien. "Invasoren", titelten die Zeitungen, die Händler seien Eindringlinge und Kriminelle, keine Flaneure oder Kulturkonsumenten. Dabei ist der Straßenhandel in Mexiko-Stadt eine seit Jahrhunderten tradierte urbane Praxis. Schon in vorspanischer Zeit wurden die Freiflächen zwischen den Tempeln als Tianguis, als Marktplatz genutzt. Das blieb auch der Zocalo, als die Eroberer hier die Kathedrale und den Nationalplast bauten. Hier trafen sich Kreolen, Spanier und Indigene, das Verkaufen galt als Ausweis und Puls von Urbanität. Diese Idee kippte erst, als seit Ende des 18. und später auch im 19. Jahrhundert das Ideal der "europäischen Stadt" Einzug hielt. Nun galt es, Sauberkeit, Ordnung und Sicherheit herzustellen, der öffentliche Raum musste reguliert werden. Die Märkte wurden überdacht und in feste Gebäude verbannt. Die Händler verloren an Ansehen, wurden zu Störenfrieden und Deklassierten, von den öffentlichen Plätzen zogen sie sich in die Gassen zurück.
Seit dem Erdbeben 1985 organisierten sich die Ambulantes in Verbänden und wurden dabei nicht selten von der PRI kooptiert. Immer wieder kam es zu Versuchen der Umsiedlung, die allesamt scheiterten. Zugleich globalisierte sich der Straßenhandel rapide: Durch die Warenströme made in China, aber auch dadurch, dass ein Teil des Handels heute direkt in asiatischer Hand liegt. Die Einheimischen verlegen sich dabei zunehmend aufs Raubkopieren; Mexiko belegt heute den dritten Platz im globalen Ranking der Produktpiraterie. An die 20 zumeist straff organisierte Verbände haben das Territorium klar unter sich aufgeteilt. Diese seien klientelistische Interessenverbände, die sich, so die Argumentation der Behörden, öffentlichen Raum "privat aneigneten". Die Vertreter der Ambulantes halten dagegen, dass sie seit jeher zur Alltagskultur des Zentrums gehören. Ende 2007 kam es zu einem neuen Räumungsversuch, der einvernehmlicher als die bisherigen verlief. Die Händler wurden von den Straßen in der A-Zone auf feste Stellplätze in der B-Zone "umgesiedelt". Ob sie sich dauerhaft verbannen lassen, bleibt abzuwarten. Nicht wenige von ihnen kehrten als buchstäblich "fliegende" Händler zurück, die ihre Ware auf einem Tüchlein feilbieten. Bei jeder Annäherung der Polizei verstauen sie ihr Bündel in einem Hauseingang. Ebenso schnell haben sie es wieder ausgebreitet.
Gegen den Vorwurf der Gentrifizierung, wie ihn Aktivisten und kritische Stadtforscher formulieren, wehrt sich die linke Stadtregierung vehement. Man brauche nun einmal private Investitionen, und "kein einziger Anwohner" würde durch die Aufwertung bislang vertrieben. Entsprechende Studien, auch zum Verbleib der Straßenhändler, bleibt die Ebrard-Administration bislang jedoch schuldig. Ganz aus dem Blick geraten bei alledem die Käufer: Zwischen 600.000 und 1,2 Millionen durchqueren tagtäglich das Centro historico, viele von ihnen gerade nicht zum Flanieren oder Kaffeetrinken. Befragungen zufolge kaufen an die 80 Prozent der Chilangos regelmäßig "auf der Straße" ein.