Einleitung
Geteilte Verantwortung" war das zentrale Stichwort von US-Außenministerin Hillary Clinton bei ihrer ersten Reise nach Mexiko im neuen Amt im März 2009. Diese zunächst nur auf den sogenannten Drogenkrieg gemünzte Verortung der Beziehungen zum südlichen Nachbarn wurde dort als Chance begriffen, zu einem neuen Verhältnis untereinander zu gelangen. Doch rasch machte auch in den USA die Einordnung Mexikos als failed state die Runde.
Der Problemhaushalt im bilateralen Verhältnis geht insoweit über die Regelung bloßer Nachbarschaftsbeziehungen hinaus: An der gemeinsamen Grenze und im Grenzraum beider Länder kristallisieren sich Sicherheitsprobleme, Migrationsfragen, wirtschaftliche Dynamiken und Krisen, Transport- und Logistiknotwendigkeiten, Energie- und Umweltkonflikte sowie Urbanisierungsfolgen. Diese "Hyper-Grenze"
Leben an und jenseits der Grenze
Mexiko als Ursprungs-, Transit-, Ziel- und Rückkehrland von Migranten hat diese vielfältige Eigenschaft lange nur eindimensional in seinem Verhältnis zu den USA wahrgenommen. Dafür spricht die hohe Zahl von jährlich rund 550.000 Staatsbürgern, die die Grenze nach Norden illegal überqueren, zu denen aber noch jährlich etwa 140.000 Migranten aus Zentralamerika stoßen, die über Mexiko den Weg in die USA suchen. Auch wenn viele von ihnen dabei nicht erfolgreich sind und von den US-Behörden wieder abgeschoben werden, so ist doch das Migrationsphänomen inzwischen in seiner Süd-Nord-Dimension konstitutiv für einen großen Teil der Beziehungen zwischen Mexiko und den USA geworden, ohne dass die von Mexiko mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens 1994 erwartete Entspannung in diesem Bereich eingetreten wäre. Die wirtschaftlichen Asymmetrien haben sich nicht signifikant verändert;
Doch die restriktiven Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt der USA im Rahmen der Migrationskontrolle haben die zirkulären und temporären Wanderungsbewegungen mexikanischer Arbeitskräfte eingeschränkt. Von den rund 30 Millionen Mexikanern, die heute in den USA leben, sind 11,8 Millionen in Mexiko geboren, 18,5 Millionen sind sogenannte Mexican Americans, also in den USA zur Welt gekommen. Damit stellen sie zehn Prozent der Bevölkerung der USA und dominieren mit einem Anteil von zwei Dritteln die Gruppe der Hispanics, der aus Lateinamerika bzw. Spanien stammenden Bevölkerungsgruppe.
Von NAFTAplus zu Post-NAFTA
Mit dem Jahr 2010 sind die meisten der auf den Freihandel ausgerichteten Regelungen des NAFTA-Abkommens in die Realität umgesetzt. Damit ist die ursprüngliche Agenda dieses Abkommens weitgehend abgearbeitet, und die schon früher lancierten Überlegungen einer erweiterten Kooperationsagenda zwischen Kanada, Mexiko und den USA haben an Bedeutung gewonnen. Dahinter steht nicht nur die Frage nach der Konsolidierung einer Wirtschaftsgemeinschaft in Nordamerika, sondern auch die Überlegung, dass Themen wie die Energieversorgung und die Gewährleistung von Sicherheit auf die gemeinsame Agenda gesetzt werden sollten. Diese schon im Jahr 2000 vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox (2000-2006) propagierte Idee eines NAFTAplus zielt vor allem auf das Thema Migration, das für Mexiko auch weiterhin höchste Priorität besitzt, aber gleichzeitig mit dem Partner USA seit Jahrzehnten kaum befriedigend zu bearbeiten ist.
Für die USA wie für Kanada sind offensichtlich Kooperationsmuster attraktiver, die den trilateralen Rahmen des NAFTA-Abkommens für hinreichend ansehen, um unter diesem Dach multiple bilaterale Übereinkommen abzuschließen. Ein solcher themen- und politikfeldbezogener Ansatz enthebt einerseits die Mitgliedstaaten von der Notwendigkeit, bestimmte Verhandlungen sofort im Dreierformat führen zu müssen und kommt andererseits dem Interesse der USA an einem multiplen Bilateralismus entgegen. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung der Migrationspolitik, bei der Kanada kein Interesse daran hat, die herausgehobene Position seiner Bürger bezüglich des Zugangs zum US-Arbeitsmarkt durch gemeinsame Verhandlungen mit Mexiko zu schmälern. Entsprechend haben sich auch US-amerikanische Wirtschaftsvertreter gegen das NAFTAplus-Konzept ausgesprochen und betont, dass ihnen eher an einer Gestaltung der bilateralen Beziehungen in einer Post-NAFTA-Ära gelegen ist.
Wenn allerdings die wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen im NAFTA-Raum jenseits des erreichten Niveaus des Freihandels auf die Ebene reiner Nachbarschaftspolitik zurückfallen sollten, dann wird insbesondere für Mexiko die Erwartung auf eine tiefer gehende Partnerschaft langfristig enttäuscht. Gegenwärtig macht der Handel innerhalb Nordamerikas 36 Prozent am Gesamthandelsvolumen dieser Region aus, seit dem Jahr 2001 ist eine abnehmende Tendenz auszumachen. Die Bindung Mexikos an den nördlichen Nachbarn beschränkt insoweit die eigenen Politik- und Entwicklungsoptionen - eine Situation, die man gerade mit dem Abschluss des NAFTA-Abkommens hatte überwinden wollen. Das Denken in der Post-NAFTA-Kategorie statt eines Hoffens auf den Ausbau einer NAFTAplus-Agenda ist angesichts der Präferenzen der nördlichen Nachbarn wohl unausweichlich, ein konzeptioneller Neusatz für die nordamerikanische Idee dringend gefragt.
Druck auf die Grenze: Migration und Gewalt
Gewalt ist an der Grenze zwischen Mexiko und den USA zu einem alltäglichen Phänomen geworden. Dabei variieren die Gewalterfahrungen von Entführungen, Raub, Erpressung und sexueller Gewalt bis zur Ermordung durch Drogenkartelle, Schmuggler oder sogar korrupte Mitglieder der mexikanischen Sicherheitsorgane. Die Entdeckung von Massengräbern mit 72 Ermordeten im August 2010 und 145 Toten im April 2011 im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas hat erneut verdeutlicht, dass der (illegale) Grenzübertritt in die USA nicht nur durch die Umweltbedingungen (Durchquerung von Wüsten und Gewässern) mit dem Tod enden kann, auch die Versuche der Drogenkartelle, die Migranten zu Kurierdiensten zu zwingen und dadurch ihr eigenes Geschäft gewaltsam zu befördern, hat vielen verzweifelten Menschen aus Mexiko und Zentralamerika das Leben gekostet.
Die Daten weisen ein paradoxes Bild aus: Während die Zahl der Aufgriffe illegaler Migranten an der Südgrenze der USA im Zeitraum von 2004 bis 2009 um mehr als 50 Prozent zurückgegangen ist, hat sich die Zahl der Toten an der Grenze im gleichen Zeitraum um 28 Prozent erhöht. Obwohl nach Umfragen 80 bis 95 Prozent der illegalen Einwanderer auf Dienste von Schmugglerorganisationen zurückgreifen, um ihre Zukunft in den USA zu suchen,
Neben die traditionellen Menschenschmuggler (coyotes, polleros), die den Migranten für rund 2.500 US-Dollar "sichere" Wege über die Grenze versprechen, sind die Drogenkartelle getreten, denen es vor allem um den Transport ihrer Ware und deren Vermarktung auf dem größten Konsumentenmarkt der Welt geht. Dabei gehen sie gewaltsam gegen jene Migranten vor, die sich weigern, diese Dienste zu übernehmen, wobei sich insbesondere die Gruppe der Zetas als besonders gewalttätig erwiesen und Massenexekutionen vorgenommen hat. Damit vermengen sich die Problemfelder Migration und Drogenökonomie im ohnedies schwierigen Beziehungsfeld zwischen Mexiko und den USA. Die Sicherheitsinteressen beider Nationen werden damit politisch schwer zu managen, und in der politischen Auseinandersetzung gewinnen Vorurteile und Ängste an Präsenz.
Menschenschmuggel und Drogenhandel sind heute die maßgeblichen Kennzeichen des illegalen Grenzverkehrs zwischen Mexiko und den USA, zunehmend gerät auch der intensive grenzüberschreitende Warenaustausch in die Reichweite dieser kriminellen Aktivitäten. Dies ist nicht weiter verwunderlich angesichts einer Grenze, die heute als die meistüberschrittene gilt. Nach Daten der US-Regierung überquerten im Jahr 2010 165,7 Millionen Personen in Autos oder zu Fuß die Grenze nach Mexiko, mehr als 4,5 Millionen Container wurden per LKW ins Nachbarland verbracht.
Grenzsicherung - zwischen Liberalisierung und Kriminalisierung
Kontrollverlust ist das zentrale Schlagwort, das von Seiten der USA zur Beschreibung der Lage an ihrer Südgrenze benutzt wird. Dieses Argument, das schnell zu einer Erzählung von der Bedrohung der nationalen Sicherheit durch Migration und Drogenökonomie ausgebaut werden kann, dominiert das beiderseitige Verhältnis und ist dazu angetan, die jeweilige innenpolitische Debatte anzuheizen.
So wird der Aufbau gemeinsamer Grenzsicherungsteams zwischen Mexiko und den USA (Border Enforcement Security Task Forces, BEST), die auch lokale, bundes- und zentralstaatliche Sicherheitsagenturen einschließen, als sehr erfolgreich angesehen, da damit die gemeinsame Verantwortung für die Sicherheit an der Grenze wahrgenommen werde.
Alternative Überlegungen zur Regulierung des Migrantenflusses, etwa in Gestalt von Gastarbeiterprogrammen oder Legalisierungsmaßnahmen unterschiedlicher Art für die illegal im Land befindliche Bevölkerung mexikanischen Ursprungs finden gegenwärtig keine Akzeptanz unter den Meinungsführern im amerikanischen Kongress.
Mexikos Südgrenze - die dritte Grenze der USA
Das sicherheitspolitische Argument hat bezüglich der Grenzen Mexikos eine Erweiterung erfahren, denn zunehmend rückt auch die mexikanische Südgrenze in das Zentrum der US-amerikanischen Aufmerksamkeit.
Bis heute hat sich Mexiko schwer damit getan, seine Situation als Transitland für Migranten anzunehmen und eine entsprechende Politik zum Schutz der betroffenen Personen zu entwickeln.
Die Entführung von Migranten und die Erpressung von Lösegeld von ihren Verwandten für die Freilassung hat sich zu einem lukrativen Wirtschaftszweig des organisierten Verbrechens entwickelt, dessen Ertrag von der mexikanischen Menschenrechtskommission (Comision Nacional de Derechos Humanos) bei rund 18.000 vermuteten Entführungsfällen auf 50 Millionen US-Dollar pro Jahr geschätzt wird.
Problemdreieck aus Migration, Drogen und Waffenhandel
Bislang hat der mexikanische "Drogenkrieg", den Präsident Felipe Calderon mit seinem Amtsantritt im Dezember 2006 erklärt hat, rund 40.000 Menschenleben gefordert. Trotz der Ausschaltung führender Köpfe aus den verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden Drogenkartellen ist kein Rückgang der Gewalt in Sicht, jeden Tag werden neue Grausamkeiten bekannt. Die mexikanische Gesellschaft zeigt Zeichen der Erschöpfung angesichts der andauernden Kämpfe. Die "Bewegung für Frieden mit Gerechtigkeit und Würde" (Movimiento de Paz con Justicia y Dignidad), die vom Dichter Javier Sicilia angeführt wird, dessen Sohn von kriminellen Banden getötet wurde, hat in den vergangenen Monaten versucht, die Perspektive der Opfer stärker in das nationale Bewusstsein zu rücken und Regierung sowie Parlament zu einem Dialog über den eingeschlagenen Weg des "Drogenkrieges" zu bewegen. Die Zweifel am Einsatz des Militärs gegen die Drogenmafia wachsen, führende Politiker des Landes fordern einen Strategiewechsel von der Regierung, und gleichzeitig rüsten die USA an der gemeinsamen Grenze auf und wollen bis zu 1.200 Mann der Nationalgarde dort einsetzen. Die ohnedies schwierige bilaterale Agenda endet hier nicht: Der massive Waffenimport aus den USA bereitet der mexikanischen Seite große Schwierigkeiten. So wurden in Mexiko im Zeitraum von 2006 bis 2009 über 50.000 Schusswaffen kleinen und großen Kalibers beschlagnahmt, zudem 4.000 Handgranaten und mehr als sechs Millionen Schuss Munition - ein Hinweis darauf, wie hoch der Grad der Bewaffnung der Gewaltakteure im Lande ist.
Das Problemdreieck aus Migration, Drogen- und Waffenhandel wird mit Einzelmaßnahmen nicht gelöst werden können. Nationale Strategien der Bekämpfung der organisierten Kriminalität gelangen schnell an ihre Grenzen, das erweist gerade die bilaterale Agenda Mexikos mit den USA. Ein koordiniertes Vorgehen beider Staaten sollte mit der 2008 vereinbarten Mérida Initiative eingeläutet werden, ein von Washington finanziell mit 400 Millionen Dollar pro Jahr unterstütztes Programm zur technischen Ausrüstung und Ausbildung der mexikanischen Sicherheitsorgane. Insgesamt werden dafür 1,8 Milliarden Dollar bereitgestellt, wovon über 90 Prozent der Mittel auf Mexiko entfallen, der Rest geht an die anderen zentralamerikanischen Länder.