Einleitung
Der "Drogenkrieg" in Mexiko illustriert auf besonders drastische Weise die Tatsache, dass Jahr für Jahr im Kontext der Produktion und Distribution verbotener Suchtstoffe wesentlich mehr Menschen sterben als infolge des Konsums solcher Substanzen. Was auf den ersten Blick als Paradoxon erscheinen mag, ist Resultat der spezifischen Funktionslogik illegaler Drogenmärkte. Es sind vor allem die exorbitanten Gewinnspannen, die zu erklären vermögen, warum der Konkurrenzkampf verschiedener Drogenanbieter vorzugsweise mit gewalttätigen Mitteln ausgetragen wird: Die Differenz zwischen dem Preis, den der Konsument für eine Ware zahlt, und deren wirklichen Produktionskosten dürfte bei keiner Güterkategorie größer sein als bei den "harten" Drogen (Kokain, Heroin) und synthetischen Suchtmitteln. Ein anderes Kalkül liegt dem Geschäft mit Cannabis zugrunde: Da es sich um die weltweit mit Abstand am stärksten nachgefragte illegale Droge handelt, sind es die riesigen Absatzmengen, die trotz des relativ niedrigen Endverbraucherpreises für hohe Umsätze und Gewinne sorgen.
Nahezu fünf Jahre sind vergangen, seit der mexikanische Präsident Felipe Calderon den Drogenhändlerbanden den "Krieg" erklärte. Er ließ der markigen Wortwahl rasch Taten folgen und übertrug dem Militär die Hauptrolle bei der Bekämpfung der (fälschlicherweise) sogenannten Drogenkartelle, deren Einnahmen größtenteils aus dem Schmuggel verschiedener illegaler Suchtstoffe in die USA stammen. Nach und nach wurden immer mehr Truppenkontingente gegen diverse Hochburgen des Drogenhandels in Marsch gesetzt; seit 2008 befinden sich insgesamt rund 45.000 Soldaten an wechselnden Schauplätzen im Dauereinsatz gegen die Kartelle bzw. deren gut bewaffnete Schutztrupps. Hintergrund der Regierungsoffensive war ein seit etwa 2002 eskalierender, blutiger Konkurrenzkampf innerhalb des Drogenhandel-Oligopols, der allein im Wahljahr 2006 rund 2.100 Todesopfer forderte. Da parallel dazu auch die allgemeine Gewaltkriminalität stark anstieg, wuchs in der Bevölkerung die Besorgnis ber den prekären Zustand der öffentlichen Sicherheit.
Calderons forsche Vorgehensweise wird nur verständlich im Zusammenhang mit dem knappen Ausgang der Präsidentschaftswahl und den Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seines Wahlsiegs bzw. seiner politischen Legitimation. Durch ein konsequentes Vorgehen gegen das organisierte Verbrechen hoffte der Präsident Führungsstärke demonstrieren und seine Popularität steigern zu können. Dass dieses Kalkül aufging, ließ sich leicht an den steigenden und dann auf hohem Niveau verharrenden Umfragewerten ablesen. Die öffentliche Stimmung änderte sich jedoch seit Mitte 2008 in dem Maße, wie die von Calderon versprochene Wende im Gewaltgeschehen auf sich warten ließ. Die von der Regierung fortwährend veröffentlichten Erfolgsmeldungen ihrer Antidrogenstrategie - Verhaftungen im Drogenhändlermilieu, Beschlagnahmungen von illegalen Suchtstoffen und Waffen, Zerstörung von Marihuana- und Schlafmohnfeldern sowie Drogenlabors - korrespondieren auf makabre Weise mit den rasant steigenden Zahlen in der Opferbilanz des mexikanischen war on drugs. Wurden 2007 rund 2.600 drogenhandelsbedingte Todesfälle gezählt, waren es ein Jahr später schon mehr als 5.100, 2009 knapp 6.600, und 2010 waren es bereits mehr als 11.500 Tote.
Bisher deutet nichts darauf hin, dass die Regierung diesen Konflikt für sich entscheiden könnte; die postulierten Ziele wurden klar verfehlt: Anstatt den Einfluss und Aktionsradius der Kartelle spürbar zu verringern, sind diese heute in mehr Regionen des Landes präsent als zu Beginn von Calderons Präsidentschaft. Der massive Militäreinsatz hat vielmehr dazu beigetragen, dass sich die Gewaltspirale immer schneller dreht. Bei einer strengen Auslegung des Begriffs hat der Staat seinen Anspruch auf das legitime Gewaltmonopol längst verwirkt; weniger rigoros interpretiert lautet der Befund, dass die immer dreister agierenden paramilitärischen Kämpfertrupps der Kartelle das staatliche Gewaltmonopol ernsthaft in Frage stellen. Auch wenn es gute Argumente dafür gibt, dass Mexiko von einem failed state noch weit entfernt ist, lässt sich wohl kaum bezweifeln, dass sich das Land mitten in einem failed war befindet.
Aufstieg der mexikanischen Kartelle
Es gehört nicht viel Mut dazu, die These zu formulieren, dass sich die mexikanische Drogenproblematik völlig anders darstellen würde, fände das Land auf der anderen Seite seiner Nordgrenze nicht den weltweit größten und lukrativsten Markt für illegale Suchtstoffe vor. Der Aufstieg Mexikos zum wichtigsten Lieferanten des US-Drogenmarktes ist dabei nur eine von mehreren Facetten eines weltweit singulären Nachbarschaftsverhältnisses, dessen Charakteristika in erster Linie vom krassen Wohlstands- und Machtgefälle zwischen den beiden Staaten geprägt werden.
Als Ende der 1970er Jahre der rasche Aufstieg des kolumbianischen Kokains zum beliebtesten und umsatzstärksten illegalen Suchtstoff auf dem US-Drogenmarkt begann, partizipierten alsbald auch mexikanische Schmugglerbanden an diesem Geschäft, viele Jahre lang jedoch nur in geringem Maße. Das änderte sich, als die USA etwa zehn Jahre später ihre Überwachungsaktivitäten im Bereich der von den kolumbianischen Drogenkartellen bevorzugten Transportrouten durch die Karibik intensivierten. Vor allem die Existenz einer kriminellen Infrastruktur machte die 3.200 Kilometer lange mexikanische Nordgrenze zu einer idealen Alternative für den klandestinen Drogentransfer in die USA. Fungierten die mexikanischen Schmugglerbanden in der ersten Zeit als eine Art Juniorpartner der kolumbianischen Kokainlieferanten, änderte sich diese Konstellation nach der Zerschlagung der Kartelle von Medellín und Cali in den Jahren 1993 bis 1995. Dies löste eine Neuordnung des kolumbianischen Kokaingeschäfts in Gestalt einer Vielzahl kleiner und mittlerer Drogensyndikate aus, während dadurch auf mexikanischer Seite ein gegenläufiger Trend begünstigt wurde. Dort bildeten sich binnen weniger Jahre in dem Maße große Drogenhandelsorganisationen heraus, wie der Anteil des mexikanischen Transithandels an der Gesamtmenge des auf den US-Markt gelangenden Kokains anstieg.
Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre diktieren die mexikanischen Kartelle die Geschäftsbedingungen im interamerikanischen Kokainhandel. Heute liefern mexikanische Banden rund 90 Prozent des in den USA konsumierten Kokains sowie einen Großteil des dort nachgefragten Heroins und Marihuanas, letztere aus heimischer Produktion. Mittlerweile werden in Mexiko auch in großem Maßstab synthetische Rauschmittel (vor allem Methamphetamin) für den US-Markt produziert.
Die Entwicklung der Drogenbanden zu schlagkräftigen bewaffneten Akteuren, deren kriminelles Treiben der Staat nicht zu unterbinden vermag, geht auf ein Bündel von Ursachen zurück, unter denen die riesigen Einnahmen aus dem Transithandel mit Kokain zweifellos den gewichtigsten Einzelfaktor darstellen. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA bildet jene Schnittstelle in der langen Handelskette zwischen der Rohstoffproduktion (Koka) und dem Endverbraucher, an der die größte absolute Wertsteigerung der illegalen Ware erfolgt. Die Differenz zwischen dem Großhandelspreis in Kolumbien und den USA beträgt je nach Marktlage zwischen 15.000 und 20.000 US-Dollar pro Kilogramm. Der weit überwiegende Teil dieser Verdienstspanne fließt in die Taschen der mexikanischen Schmugglerbanden.
Die erste Generation großer Drogenhandelsorganisationen bestand im Wesentlichen aus vier kriminellen Formationen, die jeweils bestimmte Abschnitte entlang der Grenze zu den USA kontrollierten. Dies waren die Kartelle von Tijuana und Ciudad Juárez (zwei bedeutende Grenzstädte), das nach dem nordwestlichen Gliedstaat benannte Sinaloa-Kartell sowie das im Nordosten des Landes verankerte cártel del golfo. Dass es sich bei den großen Drogenhandelsorganisationen nicht um homogene, firmenähnliche Gebilde handelt, zeigt sich am deutlichsten beim Sinaloa-Kartell. Dieses wird häufig auch als federacion bezeichnet, was schon darauf hindeutet, dass es aus einem Verbund mehrerer krimineller Organisationen besteht, wobei sich das Gemeinschaftsprofil primär aus dem Abwehrverhalten gegenüber den Konkurrenzorganisationen ergibt. Die mythisch verklärte Führungsfigur an der Spitze der Föderation ist Joaquín "El Chapo" ("der Kleine") Guzmán, dem 2001 eine spektakuläre Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis gelang und der seit Jahren als meistgesuchter Verbrecher des Landes gilt.
Expansion und Korruption
Das mit Abstand wichtigste Funktionselement im Distributionsnetz der Drogenkartelle stellen die stark frequentierten Grenzübergänge zu den USA dar. In Tijuana oder Ciudad Juárez konnten nur deshalb mächtige Drogenbanden entstehen, weil die nahegelegenen ports of entry in die USA optimale Schmuggelmöglichkeiten offerieren. Eine enorme Wertsteigerung im Geschäftskalkül der Kartelle erfuhren die Handelsplätze (plazas) in unmittelbarer Nähe von wichtigen Grenzübergängen nach dem Inkrafttreten des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) 1994. Seither hat sich der Warenaustausch zwischen den USA und Mexiko vervielfacht. Der tägliche Grenzverkehr in die USA ist so groß, dass sich die Kontrollen auf US-Seite auf Stichproben beschränken. Die Bedeutung der ports of entry bei Tijuana und Ciudad Juárez wird nur noch vom Grenzübergang zwischen Nuevo Laredo und Laredo (Texas) übertroffen, wo mehr mexikanische Waren die Grenze passieren als an jedem anderen der insgesamt 25 Kontrollpunkte. Die plaza Nuevo Laredo bildete lange Zeit die strategische Relaisstation im Einflussgebiet des Golf-Kartells.
Mittlerweile ist es den mexikanischen Kartellen gelungen, ihren Einfluss weit über das nationale Territorium hinaus auszuweiten. Den US-Justizbehörden zufolge kontrollieren mexikanische Organisationen seit etwa 2008 den Großhandel mit Kokain und anderen Suchtmitteln in nahezu allen Großstädten der Vereinigten Staaten.
Einen Teil der großen Gewinne nutzen die Kartelle zur Korrumpierung staatlicher Stellen und Funktionsträger. Besonders zweckmäßig ist die Bestechung von Mitgliedern oder auch ganzen Einheiten der Munizipalpolizei, weil sich die konkreten Aktivitäten der Drogenbanden stets im lokalen Rahmen abspielen. Begünstigend wirkt dabei zum einen die dezentrale Organisationsstruktur der mexikanischen Polizei, zum anderen der Umstand, dass das Delikt "illegaler Drogenhandel" in die Kompetenz der Bundespolizei fällt. Auch der Ruf der Polizeibehörden auf der Ebene der Gliedstaaten und des Bundes hat infolge zahlreicher Korruptionsskandale arg gelitten. In den vergangenen Jahren wurden mehrere ranghohe Polizisten als Kollaborateure des einen oder anderen Drogenkartells enttarnt.
Die in starkem Maße durch die notorische Korruption bedingte mangelnde Effizienz der Polizeibehörden gilt als einer der wichtigsten Gründe dafür, dass Präsident Calderon die Bekämpfung der Drogenkartelle dem Militär übertrug. Nun lässt sich kaum bestreiten, dass die Streitkräfte bei weitem nicht so korruptionsanfällig sind wie die Polizei. Das Risiko steigt allerdings in dem Maße an, wie das Militär in die Bekämpfung der Drogenkriminalität einbezogen wird. Seit einigen Jahren bemühen sich die Kartelle auch verstärkt um die Bestechung von Zollbeamten und Sicherheitspersonal auf US-Seite. Die erfolgreiche Rekrutierung eines solchen Kollaborateurs hat für die Kartelle einen Nutzwert, der auf heimischem Gebiet allenfalls von Informanten und Protektoren in der Führungsebene staatlicher Einrichtungen übertroffen wird. Infolge der Eskalation der blutigen Fehde zwischen den verfeindeten Drogenbanden haben sich die Voraussetzungen für die Rekrutierung von Kollaborateuren und Informanten innerhalb staatlicher Einrichtungen eher verbessert. Die ausufernde Gewalt hat eine allgemeine Atmosphäre der Bedrohung geschaffen, die der makaber-zynischen Alternative plata o plomo (Geld oder Blei) traurige Relevanz verleiht.
Beschleunigung der Gewaltspirale
Den Auftakt des blutigen Konkurrenzkampfs zwischen den großen Drogenbanden bildete die Fehde zwischen dem Sinaloa-Kartell und dem für seine extreme Gewaltbereitschaft berüchtigten Arellano Félix-Clan in Tijuana in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Mit der Ermordung von sechs Mitgliedern des Sinaloa-Kartells und einem Bombenanschlag auf ein Haus von "El Chapo" begann Anfang 1992 eine Serie von gegenseitigen Attacken, zu deren Opfern der im Mai 1993 von Söldnern der Tijuana-Gang irrtümlich getötete Erzbischof von Guadalajara gehörte.
Als der legendäre Chef des Juárez-Kartells, Amado Carillo Fuentes, 1997 bei einem gesichtschirurgischen Eingriff verstarb, witterten die anderen Kartelle eine Chance, ihren Einflussbereich auf diese attraktive plaza auszuweiten. Die Juárez-Gruppe suchte sich durch ein Bündnis mit der Sinaloa-Föderation der Angriffe der verbündeten Golf- und Tijuana-Kartelle zu erwehren. In wechselnden Allianzen und Konstellationen weiteten die Kartelle in den folgenden Jahren ihren erbitterten Kampf um die Vorherrschaft in Juárez, Tijuana, Nuevo Laredo und anderen plazas aus. Verhaftungen einzelner Führungspersönlichkeiten stellten dabei keine wirklichen Erfolge dar, ist es doch in mexikanischen Haftanstalten keineswegs ungewöhnlich, dass sich prominente Insassen aus dem Drogenhandelsmilieu durch Korruptions- und Einschüchterungspraktiken Privilegien und Freiräume verschaffen, die es ihnen ermöglichen, mittels moderner Kommunikationsmittel die Aktivitäten ihrer kriminellen Organisationen weiterhin zu steuern.
Der Konfliktverlauf wurde durch mehrere Faktoren maßgeblich beeinflusst. Der erste davon betrifft die verstärkten Anstrengungen auf US-Seite zur Absicherung und Überwachung der Grenze sowie zur Effizienzsteigerung der Kontrollen an den Grenzübergängen. Gelingt es angesichts dieses Trends einem Kartell, seinen territorialen Einflussbereich zu Lasten eines Konkurrenten auszuweiten, vergrößert sich das Arsenal seiner Schmuggeloptionen. Ungleich wichtiger ist ein zweiter Aspekt: das Erreichen einer gewissen Obergrenze beim mexikanischen Lieferanteil an der in den USA verkauften Kokainmenge. Solange dieser Anteil im Steigen begriffen war (1990: rund 30 Prozent; 2000: rund 70 Prozent) hatten alle Kartelle die Chance, an den damit verbundenen Mehreinnahmen zu partizipieren. Da der seit etwa 2005 um die 90 Prozent oszillierende Beitrag zur Deckung der US-Nachfrage kaum weiter ausbaufähig ist, lassen sich größere Gewinnzuwächse im grenzüberschreitenden Schmuggelgeschäft nur noch auf Kosten der Marktanteile der anderen Kartelle realisieren, zumal sich gleichzeitig in den USA eine Stagnation des Kokainverbrauchs bemerkbar machte. Der dritte Faktor bezieht sich auf den raschen Bedeutungsanstieg des mexikanischen Drogenmarkts, der zu einem verstärkten Engagement der Kartelle in Mexiko selbst führte. Insbesondere in Großstädten kommt es immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Drogenbanden.
Die Intensivierung des Bandenkonflikts ging mit einer Paramilitarisierung der Sicherheitsapparate der Kartelle einher. Golf-Kartell-Chef Osiel Cárdenas Guillén übernahm die Pionierrolle, als er Ende der 1990er Jahre eine schlagkräftige Kampftruppe formierte, deren Kern aus desertierten Mitgliedern einer Spezialeinheit der mexikanischen Streitkräfte bestand und die unter der Bezeichnung Zetas aufgrund ihres ebenso professionellen wie rücksichtslosen Vorgehens alsbald schaurige Berühmtheit erlangte. Die Mitglieder der Zetas werden in geheimen Trainingscamps militärisch geschult, sind mit modernen Schusswaffen und neuester Kommunikationstechnik ausgerüstet, agieren in größeren, hierarchisch strukturierten Formationen und treten zum Teil in einheitlichen Uniformen in Erscheinung. Um der Effizienz dieser Kampfverbände entgegenwirken zu können, kamen die gegnerischen Kartelle nicht umhin, den Professionalisierungsgrad ihrer eigenen Schutztrupps zu verbessern. Es liegen zahlreiche Indizien dafür vor, dass die Söldnerverbände der Drogenbanden einen stetigen Zugang von Deserteuren der mexikanischen Armee verzeichnen. Im Zeitraum von 2001 bis 2010 registrierte das Militär mehr als 150.000 irreguläre Abgänge, davon mehr als 1.600 Elitesoldaten.
Die geografische Nähe zum wenig regulierten Waffenmarkt der USA erleichtert es den Kartellen, ihre Schutztrupps mit modernem Kriegsgerät auszurüsten. Pistolen und Gewehre werden von Strohmännern in US-Waffengeschäften oder auf sogenannten gun shows erworben, großen Verkaufsveranstaltungen für zumeist gebrauchte Waffen, wo die tödliche Ware ohne jegliche Identitätskontrolle des Käufers den Besitzer wechselt. Die Waffen gelangen als Schmuggelware nach Mexiko, wo sie zum Mehrfachen des Kaufpreises in die Arsenale der Drogenbanden übergehen. Appelle der mexikanischen Regierung an die USA, den Waffenschmuggel Richtung Süden zu unterbinden, zeitigten bislang wenig greifbare Folgen.
Die Eskalation des Konflikts betrifft nicht nur die rasch steigenden Opferzahlen, sondern auch die zunehmende Brutalität und Grausamkeit, welche die Gewalthandlungen kennzeichnen. Im mexikanischen Bandenkrieg werden prinzipiell keine Gefangenen gemacht; Mitglieder gegnerischer Kartelle, derer man habhaft wird, werden fast ausnahmslos getötet. Auch wenn es früher schon üblich war, die Gefangenen zwecks Informationsgewinnung vor ihrer Ermordung körperlichen Torturen zu unterziehen, haben die in jüngster Zeit praktizierten Foltermethoden eine Dimension erreicht, die das damit verbundene Leiden unvorstellbar machen. Die fürchterlich entstellten Leichen, die zur Verstärkung der medialen Aufmerksamkeit oftmals an stark frequentierten öffentlichen Orten abgelegt werden, geben Zeugnis von diesem Trend. 2006 tauchten die ersten abgetrennten Köpfe sowie Leichen ohne Köpfe auf. Was zu Beginn auf die Einschüchterung des Gegners abzielte, hat sich mittlerweile längst zu einem grausamen Ritual gewandelt.
Der war on drugs hat mittlerweile zu deutlichen Kräfteverschiebungen in der Kartell-Landschaft geführt. Dazu trugen wie schon früher Differenzen innerhalb der Führungsriege einzelner Kartelle sowie die Ausschaltung einiger Drogenbosse bei. Im September 2004 wurde Rodolfo Carrillo, der Kopf des Juárez-Kartells, im Auftrag von "El Chapo" ermordet, was der Allianz zwischen beiden Kartellen ein jähes Ende bereitete und den Anfang des systematischen Versuchs der Sinaloa-Föderation zur Übernahme der plaza Ciudad Juárez markiert. Ende 2007 löste sich die Beltrán Leyva-Bande aus der Sinaloa-Gruppe und ging alsbald eine Allianz mit den berüchtigten Zetas ein, die sich zu jener Zeit allmählich vom Golf-Kartell zu emanzipieren begannen. Spätestens seit Anfang 2010 agieren diese als eigenständige Organisation, welche sich in einen gnadenlosen Feldzug gegen ihre ehemaligen Partner begeben hat.
2009 wurden in Ciudad Juárez über 2.600 Opfer des "Drogenkriegs" registriert, womit der Kampf um die Beherrschung der begehrten plaza einen Höhepunkt erreichte. Vieles deutet darauf hin, dass sowohl in Juárez als auch in Tijuana die Sinaloa-Gang inzwischen die dominierende Rolle im Drogengeschäft übernommen hat. So schält sich seit 2009 ein Trend heraus, der auf eine zunehmende Polarisierung des mexikanischen Drogengeschäfts in Gestalt zweier Machtzentren hinausläuft: die Sinaloa-Föderation auf der einen und Los Zetas auf der anderen Seite. Beide Akteure sind bemüht, Geländegewinne des Gegners zu verhindern bzw. wieder rückgängig zu machen. So unterstützen Kampftrupps der Zetas die Reste der Arellano Félix-Bande in Tijuana sowie das massiv bedrängte Juárez-Kartell, während die Sinaloa-Föderation ihren ehemaligen Todfeinden vom Golf-Kartell bei dessen Abwehrkampf gegen die Zetas zu Hilfe geeilt ist.
Auswege aus dem Gewaltlabyrinth?
Den deutlichsten Beleg dafür, dass der dem organisierten Drogenhandel von Präsident Calderon Ende 2006 erklärte "Krieg" gescheitert ist, stellt die Tatsache dar, dass die Kartelle nach wie vor die konkurrierenden Drogenbanden und nicht die staatlichen Sicherheitskräfte als ihren Hauptgegner betrachten. Auch wenn der Anteil der Opfer des war on drugs, der auf Soldaten und Polizisten einerseits und (unbeteiligte) Zivilisten andererseits entfällt, während der Amtszeit Calderons merklich gestiegen ist, stellen die Angehörigen der Drogenbanden mit über 85 Prozent noch immer das Gros der Toten. Trotz des massiven Militäraufgebots ist es der Regierung in fünf Jahren nicht gelungen, die dominante Rolle in diesem Konflikt zu übernehmen. Die martialische Inszenierung des staatlichen Autoritätsanspruchs kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zum "Drogenkrieg" abkommandierten Soldaten weniger agieren denn reagieren und dass es primär die Kartelle und deren Söldnertrupps sind, welche die Dynamik und den Verlauf der Konfrontation bestimmen. Längst ist deutlich geworden, dass der Maßnahmenkatalog des Militärs (Patrouillenfahrten, Straßenkontrollen) die Kampfkraft und operativen Kapazitäten der Schutztrupps der Kartelle nicht zu beeinträchtigen vermag. Auch wenn die paramilitärischen Kampfverbnde das Tageslicht nicht scheuen und sich häufig in großen Fahrzeugkonvois fortbewegen, handelt es sich dennoch um einen weitgehend unsichtbaren Gegner, der in Guerillamanier blitzartig zuschlägt und ebenso schnell den Einsatzort wieder verlässt. Anders als seine Kontrahenten ist das Militär ein stets sichtbarer und unschwer lokalisierbarer Akteur, woraus bedeutende taktische Nachteile resultieren.
Obwohl der Militäreinsatz sein strategisches Ziel klar verfehlt hat, bedeutet dies nicht, dass die diversen Operationen keinen nennenswerten Einfluss auf den Konfliktverlauf nahmen - ganz im Gegenteil. Unfähig, die Kartelle militärisch zu eliminieren, hatten die Truppeneinsätze häufig Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen den verfeindeten Banden. Fatale Folgen ergeben sich aus der Tatsache, dass die durch die Verlegung großer Militärkontingente in eine der Kartellhochburgen bewirkte partielle Paralysierung der betroffenen Drogenbande mittlerweile von den jeweiligen Konkurrenten als eine Gelegenheit zur Realisierung von Geländegewinnen wahrgenommen wird. So liegen eindeutige Hinweise dafür vor, dass die Sinaloa-Föderation die massiven Militäreinsätze in den Einflussgebieten des Tijuana- und Juárez-Kartells ihrerseits zu verstärkten Attacken gegen die Konkurrenten genutzt hat. Da Truppenkontingente regelmäßig dann in Marsch gesetzt werden, wenn es in einem Bundesstaat bzw. einer der umkämpften Großstädte zu einem starken Gewaltausbruch kommt, gehört es inzwischen zur Taktik der Drogenbanden, auf dem Gebiet eines gegnerischen Kartells ein möglichst spektakuläres Blutbad anzurichten, um die Streitkräfte auf den Plan zu rufen. Solche Fälle einer Instrumentalisierung des Militärs durch das organisierte Verbrechen zählen zu den zahlreichen kontraproduktiven Effekten dieses failed war.
Freilich beschränkt sich der Misserfolg der Regierungsoffensive gegen die Drogenkartelle nicht auf die militärische Komponente. Eine herausragende Bedeutung in der negativen Gesamtbilanz kommt der impunidad (Straflosigkeit) zu, die sich aus dem absoluten Versagen der Strafverfolgungsbehörden bei der Aufklärung und Ahndung der drogenhandelsbedingten Gewaltverbrechen ergibt. Im Vergleich dazu stellen die gravierenden Koordinationsprobleme zwischen verschiedenen Einrichtungen des staatlichen Sicherheitsapparats ein eher sekundäres Handicap dar. Ein nicht zu unterschätzendes Defizit der Antikartellpolitik ist darin zu sehen, dass es nicht gelungen ist, die klandestine Finanzarchitektur (Geldwäsche) der Drogenbanden zu demontieren. Zudem mangelt es der Strategie gegen die Kartelle an einer sozialen Komponente - offeriert doch der ausgeprägte Mangel an Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten für junge Leute, vor allem junge Männer, den Drogenbanden ein großes und nicht versiegendes Rekrutierungsreservoir für ihre Schutz- und Kampftrupps - trotz der allseits bekannten tödlichen Risiken solcher Jobs.
Im Hinblick auf den weiteren Verlauf des "Drogenkriegs" lassen sich drei mögliche Szenarien ausmachen, die einen Ausweg aus dem Gewaltlabyrinth weisen. Im ersten Szenario könnte sich die Regierung zu einem Arrangement mit den Drogenbanden oder zumindest mit den stärksten Kartellen entschließen. Ein solcher Deal könnte etwa lauten: Duldung der illegalen Aktivitäten gegen Gewaltverzicht.
Das zweite und dritte Szenario weisen dem Staat eine Statistenrolle zu: Die Gewalt könnte spürbar zurückgehen, wenn es entweder der Sinaloa-Föderation oder aber - derzeit weniger wahrscheinlich - den Zetas auf mittlere Sicht gelingt, die Konkurrenzorganisationen auszuschalten oder - realistischer - so weit zu schwächen, dass sie die Rolle eines Juniorpartners ihrer völligen Vernichtung vorziehen. Sollte sich der gegenwärtig bereits sichtbare Trend zur Herausbildung zweier großer Kartellblöcke verstärken, ist auch eine Art Friedensabkommen auf der Basis einer Aufteilung des drogenhandelsrelevanten Territoriums nicht auszuschließen.
Auch wenn es in den vergangenen Jahren mehrere große Demonstrationen gegeben hat, die ein Ende der Gewalt forderten, sah es bis vor kurzem nicht so aus, als ob von zivilgesellschaftlicher Seite eine Korrektur der offiziellen Antidrogenstrategie bewirkt werden könnte. In den zurückliegenden Monaten hat aber eine Bürgerbewegung unter dem Motto hasta la madre (etwa: genug ist genug) landesweit Aufmerksamkeit erregt und Sympathien gewonnen, die von Javier Sicilia angeführt wird, einem bekannten Dichter und Schriftsteller, dessen Sohn im März 2011 zusammen mit anderen jungen Leuten von Mitgliedern eines der Drogenkartelle ermordet wurde. Die Bewegung, die mittlerweile Unterstützung von zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen erhält, hat viele "Friedensmärsche" in Brennpunkte des Bandenkriegs unternommen und in mehreren Großstädten Kundgebungen organisiert, an denen Hunderttausende Menschen teilnahmen. Die Bewegung propagiert einen aus sechs Punkten bestehenden "Friedenspakt", der unter anderem ein Ende der Militarisierung der Drogenpolitik und die Bekämpfung der sozioökonomischen Wurzeln der Attraktivität des Drogengeschäfts fordert. Mehrere Treffen zwischen Sicilia und Präsident Calderon zeigen, dass die Regierung die neue Massenbewegung ernst nimmt.