Einleitung
Die Avenida Paseo de la Reforma ist die historische Prachtstraße im Herzen von Mexiko-Stadt. Mit insgesamt 14 Spuren zieht sich der Boulevard von West nach Ost durch das Stadtzentrum. Unter den Glasfassaden der Hotels, Banken und Versicherungen, die inzwischen fast alle zweistöckigen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert verdrängt haben, und Tausenden von scheinbar stets grünen Bäumen stehen Dutzende Statuen und zahlreiche Denkmäler, die an historische Persönlichkeiten erinnern sollen: Ixtacalli, Kolumbus, Moctezuma, Cuauthémoc. Daneben gibt es eine Menge moderner Kunst. So sieht sich Mexiko, so zeigt sich Mexiko: Verliebt in seine Geschichte, aber modern und offen für Neues, gastfreundlich und unvoreingenommen gegenüber Fremden. Doch ist dies nur die Oberfläche. Hinter der glitzernden Fassade tut sich ein anderes Mexiko auf: Gebäude, die nur von der Farbe zusammengehalten zu sein scheinen, Baulücken aus der Zeit des Erdbebens von 1985, Bettler, Prostitution. In Stadtteilen weiter östlich, wie die Delegacion Iztapalapa, fehlt es häufig an grundlegenden kommunalen Dienstleistungen wie fließendem Wasser oder einer Müllabfuhr. Und die zur Hauptstadtregion zählende Stadt Chalco wird regelmäßig von den Abwassern von Millionen Menschen überflutet.
Das alles gehört zur Hauptstadt mit seinen über 20 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, aber auch zu ganz Mexiko, von dem niemand so recht weiß, wie es regiert wird, wie es funktioniert. Dass es überhaupt funktioniert, ist zumindest erstaunlich. "Die Nation ist gefangen in einem Circulus vitiosus. Es ist nicht gelungen, ihn zu durchbrechen, weil das Land fast wie durch ein Wunder überlebt, und zwar trotz der vertanen Chancen", hieß es jüngst in einer Studie von Wissenschaftlern der Autonomen Nationaluniversität (UNAM) über die Befindlichkeit Mexikos.
Die mexikanische Bevölkerung ist von 40 Millionen Einwohnern im Jahr 1970 auf rund 112 Millionen Einwohner heute angewachsen, dazu leben über 10 Millionen Mexikaner in den USA. Das Land ist über fünfmal so groß wie Deutschland und besteht aus 31 Staaten und einem Bundesdistrikt. Sein wirtschaftliches Kapital sind vor allem Öl und Gas sowie Metalle wie Gold, Silber, Zinn und Kupfer. Es gibt alle Klimazonen, Wüsten, tropische Wälder und Gletscher in über 5.000 Meter Höhe. Zudem verfügt Mexiko über mindestens 10.000 Kilometer Küste mit den schönsten Stränden an beiden großen Ozeanen. An der engsten Stelle, dem Isthmus von Tehuantepec, sind Atlantik und Pazifik lediglich zwei Autostunden voneinander entfernt. Hier unter anderem hat das Schwellenland damit begonnen, modern zu werden und mit Wind Strom zu erzeugen.
Mexiko ist ein Land der Gegensätze. Regelmäßig kommt es zu Naturkatastrophen, weil es im Sommer zu heiß ist und die Wälder und Ackerflächen niederbrennen. Danach bringt die Regenzeit mit ihren Wirbelstürmen hundertfachen Tod. Die Menschen ertrinken in reißenden Flüssen und kommen in Erdlawinen um, die von den Regenmassen ausgelöst werden. Und in den Wintermonaten erfrieren im Norden die Menschen, während die wohlhabenderen Mexikaner im karibischen Cancún oder in Acapulco im Pazifik baden. Es gibt sowohl unermesslichen Reichtum wie in Nordamerika als auch so große Armut wie in Haiti, dem ärmsten Land in Amerika.
Selbstbild und Fremdbild
Viele Mexikaner tun sich schwer mit einer realistischen Analyse ihrer Lage, gerne wird die Wahrheit geschönt. Vor dem Elend der Armen verschließen die meisten Reichen die Augen. Wie in anderen Ländern auch wollen sie nicht auf die Vorteile verzichten, die ihnen die Armut der anderen bietet. Sie haben billige Arbeitskräfte ohne eigene Rechte in ihren Unternehmen, Häusern und Gärten. Und statt Steuern zu zahlen, damit der Staat sie und ihr Eigentum schützen kann, engagieren sie lieber eigene Sicherheitskräfte und errichten hohe Mauern um ihre Häuser.
Noch weniger können viele Mexikaner Kritik ertragen. Wenn etwa ein Mexikaner einen Besucher fragt, wie er das Land wahrnimmt, dann erwartet er keine Kritik. Er möchte, dass auch der Ausländer die Lage schönredet. Gewiss, es gibt Kriminalität, den "Drogenkrieg" mit Tausenden von Toten, Rassismus gegen die indigene Bevölkerung, Missachtung der Menschenrechte. Aber bitte, so pflegen viele Mexikaner zu argumentieren, das alles gibt es doch anderswo auch. Und wo Selbstkritik, Kritik und schonungslose Analysen nicht erwünscht sind, da ändert sich auch nichts. Es ist, als würde einem Arzt untersagt, dem Kranken die Diagnose mitzuteilen. Und so kann er ihm auch keinen Behandlungsplan nahelegen.
Das gilt auch für das politische und gesellschaftliche System. Nach der fast 40-jährigen Diktatur von Porfirio Diaz gelangte die Revolutionär-Institutionelle Partei (Partido Revolucionario Institucional, PRI) zu Beginn der 1920er Jahre an die Macht. Sie herrschte gut sieben Jahrzehnte, institutionalisierte aber keineswegs die Revolution, sondern monopolisierte die Macht, ähnlich wie später die kommunistischen Parteien in Osteuropa. "Das Schlechteste des Kapitalismus und das Schlechteste des real existierenden Sozialismus" habe sich seinerzeit in Mexiko getroffen, schrieb darüber der mexikanische Autor Ricardo Cayuela.
Heute Mexiko ist ein sogenanntes Schwellenland, ein Land der "Dritten" auf dem Weg in die "Erste Welt" - Ankunft unbestimmt. Politisch ist es auf dem Weg in eine Demokratie, eine eher präsidiale oder eher parlamentarische Demokratie, auch das ist noch nicht sicher. Denn die politischen Kräfte sind sich nicht einig, ob sie lieber einen starken Präsidenten oder eine starkes Parlament wünschen. Der frühere Außenminister Jorge Castaneda aber spricht seinem Volk den für eine Demokratie notwendigen Charakter ab: "Wir wissen nicht zu streiten. Jede Kritik ist eine tödliche Beleidigung. Wir ziehen es vor, dass Entscheidungen von oben gefällt werden, damit wir uns danach in die Lage des Opfers begeben können."
Viele Mexikaner beklagen, dass das Bild ihres Landes im Ausland zu negativ sei, allen voran der derzeitige Präsident Felipe Calderon. Und tatsächlich wird Mexiko zumeist mit Brutalität und Gewalt assoziiert, selbst wenn es dazu keinen Anlass gibt. Ein Beispiel unter vielen bietet die Tageszeitung "Die Welt", als sie im Mai 2011 im Internet einen Bericht über neu gefundene Maya-Stätten in Yucatán veröffentlichte und ihren Lesern "weiterführende Links" anbot: "Maya opferten Jungen, keine Jungfrauen", "Mayakalender - Weltuntergang am 21.12.2012" und "Als Montezuma seine künftige Braut häutete." Abgesehen davon, dass der Aztekenkönig Moctezuma eigentlich nichts mit den Mayas zu tun hat, zeigt dieses Beispiel, wie häufig schon das historische Erbe Mexikos als belastet dargestellt wird.
Sichtbare und unsichtbare Fronten
Die Mehrzahl der rund 17.0000 städtischen Polizisten in Mexiko-Stadt verdient monatlich etwa 5.000 Pesos (ca. 300 Euro) oder weniger. Dies macht sie empfänglich für Korruption; sie verlangen fast gezwungenermaßen Schmiergelder, um ihre Familien ernähren zu können. Viele Polizisten lassen sich auch von den Drogenkartellen engagieren und werden selbst Entführer, Erpresser, Räuber. So ist es kein Wunder, es in der Bevölkerung kaum Vertrauen in die staatlichen Institutionen gibt. Der Polizei wird nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen, Überfälle und Einbrüche werden nur angezeigt, wenn es nicht mehr anders geht. Auch kleinere Unfälle machen die Mexikaner lieber untereinander aus: Bei der Polizei auf der Wache erwarten sie nur Unannehmlichkeiten. Diese Haltung setzt sich fort in alle Bereiche der Gesellschaft. Laut dem Anfang Mai 2011 veröffentlichten Nationalen Korruptionsindex haben die Mexikaner im Jahr 2010 in rund 200 Millionen Bestechungstatbeständen insgesamt 32 Milliarden Pesos (knapp zwei Milliarden Euro) für Korruption ausgegeben. Demnach hat jeder mexikanische Haushalt mit durchschnittlich 167 Pesos (ca. 10 Euro) Behörden, Polizisten, Richter oder andere Stellen geschmiert.
Nicht so vorsichtig wie die Normalbürger und so diplomatisch wie die Politiker sind Intellektuelle, Künstler und ehemalige Amtsträger. Sie fordern etwa die Legalisierung des Drogenhandels und rufen nach Reformen, um den Staat wieder funktionsfähig zu machen. Das Justizsystem, das politische System und das Finanzsystem, alles müsse reformiert werden, forderte kürzlich der Schriftsteller Carlos Fuentes. Doch gerade in diesen Monaten, ehe im kommenden Jahr die Amtszeit von Präsident Calderon endet und ein neuer Präsident und ein neues Parlament gewählt werden, werden alle Projekte wieder in den Schubladen versenkt. Als Calderon Anfang Juni 2011 vorschlug, das Parlament möge länger tagen, um überfällige politische und wirtschaftliche Reformen doch noch in seiner Amtszeit zu beschließen, da lehnten die oppositionellen Kräfte dies unter anderem mit dem Hinweis ab, dass sie sich an einer Show für die Medien nicht beteiligen würden.
Im von ihm ausgerufenen "Drogenkrieg" gegen das organisierte Verbrechen rechtfertigt Präsident Calderon seine Mission und ihre Opfer bisweilen mit historischen Vergleichen. Wie beim Sieg über die übermächtigen französischen Invasionsstreitkräfte im Jahr 1862 habe Mexiko es auch heute mit mächtigen Feinden zu tun. Kritik an seinem Weg, die Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, begegnet Calderon mit Unverständnis: "Angesichts eines derartigen Feindes gibt es welche, die wollen, dass unsere Truppen zurückweichen, die wollen, dass unsere Institutionen wegschauen und den Verbrechern freie Fahrt lassen. Ein Zurückweichen der Sicherheitskräfte vor der kriminellen Welt würde bedeuten, den Verbrechern eine Lizenz zum Entführen, Erpressen und auch zum Töten der Bürger zu geben." Die zunehmende Unsicherheit, die um sich greifende Kriminalität und die Angst sind derzeit die wichtigsten Themen in Mexiko. Und das gilt keineswegs nur für den Norden des Landes, wo sich die Kartelle um die Schmuggelrouten vor allem bekriegen. So kann von heute auf morgen auch im Zentrum des Landes aus einem Paradies ein Vorhof zur Hölle werden. Cuernavaca etwa, die Hauptstadt des kleinen Bundesstaates Morelos, wo die Reichen der mexikanischen Hauptstadt ihre Wochenenden verbringen, wird terrorisiert, seit dort der Drogenboss Arturo Beltran Leyva von Sicherheitskräften aufgespürt und getötet wurde.
Menschenrechtsverletzungen und Gewalt seitens der staatlichen Institutionen nimmt Calderon in Kauf, Kritik daran lässt er an sich abprallen. Im Mai 2011 veröffentlichte Amnesty International (AI) seinen Jahresbericht über die Menschenrechtslage in Mexiko. AI-Direktor Alberto Herrera Aragon prangerte darin vor allem die Straflosigkeit an und konstatierte: "Die Politik der öffentlichen Sicherheit der Bundesregierung hinsichtlich der verwundbarsten Bevölkerungsschichten ist gescheitert." Dem "Drogenkrieg" fielen in knapp fünf Jahren bislang über 40.000 Menschen zum Opfer, den bisherigen Höhepunkt stellt das Jahr 2010 mit 15.000 Morden dar, ganz zu schweigen von den Entführungen, der Gewalt gegen Frauen und Kinder, der Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung vor allem im Süden des Landes und der Gewalt gegen Migranten, die Mexiko auf ihrem Weg in die USA durchqueren. Zunehmend werden die Menschenrechtsverletzungen auch von staatlichen Behörden, der Polizei und den Streitkräften begangen.
Nach Meinung von AI steht Mexiko deshalb am Scheideweg: "Es kann die Dinge unter den Bedingungen lassen, die ihm erlaubt haben, eine schlechte Machtausübung zuzulassen (...). Oder es kann sich der gesellschaftlichen Klage annehmen, die nach drastischen Änderungen verlangt." Danach sieht es derzeit aber nicht aus. Calderon ließ keine Gelegenheit aus, zu bekräftigen, dass er seinen Kurs der harten Hand für alternativlos hält. Als weiteres historisches Vorbild bemühte er dabei den legendären britischen Premierminister Winston Churchill. Auch dieser sei seinerzeit aufgefordert worden, den Nazis nachzugeben. Im Ton des Briten erklärte Calderon: "Sie fragen mich, was ist unsere Politik und Strategie? Ich sage: Unsere Politik ist, zu Wasser, zu Lande und in der Luft mit aller Macht, die Gott uns geben kann, gegen eine monströse Tyrannei zu kämpfen." So sei auch Mexiko dabei, die Kriminellen zu bekämpfen und sie letztlich zu besiegen.
Ein Sieg ist indes nicht in Sicht. In dem Krieg, in den Calderon bislang rund 50.000 Soldaten geschickt hat, gibt es keine sichtbaren Fronten. Auf Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichte ist kein Verlass. Bis in die höchsten Ämter ist der Staat von der Drogenmafia unterwandert. So ist das Drogengeschäft zu einer Basis des wirtschaftlichen Wirkens Mexikos geworden; seine Einnahmen übertreffen sowohl die Gewinne aus dem Tourismus als auch die Überweisungen der über zehn Millionen mexikanischen Gastarbeiter in den USA. Selbst die Gewinne des staatlichen Erdölkonzerns Petroleos Mexicanos (Pemex) liegen darunter.
Gelähmte Gesellschaft und Rufe nach Reformen
Pemex ist das wichtigste mexikanische Unternehmen. Dem Öl verdankt Mexiko sein Wirtschaftswunder, durch das es in den vergangenen Jahrzehnten von einem Entwicklungs- zu einem Schwellenland geworden ist. Doch hinter den Glasfassaden dominiert der Ruin, wuchern soziale Probleme, drohen Gewalt und Armut. Der Umstand, dass ein Großteil des Staatshaushalts durch die Einnahmen von Pemex aufgebracht wird, befreit den Steuerzahler scheinbar von seinen Verpflichtungen, den Staat am Leben zu erhalten und ihn in die Lage zu versetzen, seine grundsätzlichen Aufgaben wahrzunehmen, Straßen und Schulen zu bauen, die Unversehrtheit der Bürger zu garantieren. Ändern wird sich daran in absehbarer Zeit nichts, denn es gibt keine politische Kraft, die sich trauen würde, die 1938 verstaatlichte Ölindustrie etwa durch mehr private Unterstützung effektiver zu gestalten. Doch das wäre notwendig, denn die Vorräte erschöpfen sich zusehends, und die Ölproduktion sinkt beständig. Fieberhaft wird nach weiteren Ölfeldern gesucht, um dem Niedergang der Ölindustrie entgegenzuwirken. Doch möchte man dem Land fast wünschen, dass die Quellen rasch versiegen, damit der Druck zur Modernisierung der Gesellschaft weiter steigt.
Auch im Falle Mexikos sind die Bodenschätze also nicht nur ein Segen, denn ihr Vorhandensein behindert offenbar Reformen, die das Land zukunftsfähig gestalten könnten. Die Reichen werden reicher, die Armen ärmer und zahlreicher, und eine Mittelschicht entsteht nur langsam. Es steht zu befürchten, dass viele Menschen, die aus der Mittellosigkeit aufgestiegen sind, bei der nächsten Krise wieder in die Armut fallen - so wie es schon in den vergangenen Jahren der Fall war, weil Mexiko aufgrund seiner Abhängigkeit von den USA besonders hart von der Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogen wurde. In guten Zeiten ist die Nähe zu den USA ein Segen, doch in der Krise erweist sich die Abhängigkeit als eine große Gefahr - sie wirkt wie ein Monopol.
Noch heute ist der Staatskonzern Pemex ein Beispiel des verhärteten sozialistischen Realismus, der jeden Fortschritt blockiert, weil er den gesamten Sektor monopolisiert hat. Aber auch dort, wo Staatsunternehmen privatisiert wurden, sind neue Monopole entstanden, die sich die einflussreichen Familien gesichert haben. Diese - die Slims, Salinas, Ascaragas, Zambranos, um nur einige zu nennen - zeigen nur verbal Interesse an einem Staat, der eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes anstreben könnte. Tatsächlich setzen sie alles daran, ihre Monopolstellung zu sichern.
Angesichts dieser Lage ist es nur verständlich, dass landauf, landab nach grundlegenden Reformen gerufen wird. Doch Calderon hat bisher keines seiner wichtigen Reformprojekte durchsetzen können, oder die Neuerungen wurden so verwässert, dass sie wirkungslos geblieben sind. Angesichts der bevorstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen im Jahr 2012 ist klar, dass sich auch nicht mehr viel tun wird, weil ein Erfolg vermutlich nur der Regierungspartei PAN (Partido Accíon National) zugute käme.
Gegen Calderons Politik, insbesondere gegen seine Sicherheitsgesetze, durch die er den massiven Einsatz der Streitkräfte gegen die organisierte Kriminalität nachträglich legalisiert hat, regt sich zunehmend Widerstand. Denn die Gesetze erlauben es dem Präsidenten, unter dem Vorwand der Kriminalitätsbekämpfung in jedem Winkel des Landes auch gegen soziale Bewegungen vorzugehen. Dies sei, so die Kritiker, die Vorstufe zu einem Polizei- und Militärstaat. Der Dichter Javier Sicilia aus Cuernavaca, dessen Sohn Anfang 2011 ermordet wurde, rief eine Protestbewegung ins Leben, die inzwischen auch politische Forderungen formuliert. "Wir wollen die Regierung nicht stürzen", betonte er zwar mehrfach, aber seine Bewegung wolle "das gesellschaftliche Dach rekonstruieren, gegen die absurde Gewalt des Krieges". Mehrere Wochen zog Sicilia durch das Land, besuchte auch die von Kriminalität besonders betroffenen Regionen im Norden an der Grenze zu den USA und forderte eine grundlegende Reform des politischen Systems in Mexiko. Unterstützt wird er unter anderem vom Bischof von Saltillo, Raúl Vera Lopez, der sagt: "Das Land zerbröselt von Tag zu Tag mehr. Straflosigkeit und Unsicherheit nehmen zu. Mexiko ist ein Land ohne Kopf. Bei den Regierenden sehe ich keine demokratische Mentalität." Das Sicherheitsgesetz sei mit Diktatorentinte geschrieben. "Es zielt darauf ab, den Staat vor seinen Bürgern zu schützen, aber nicht darauf, die Gesellschaft zu verteidigen."
Düstere Aussichten
Doch wer sollte die mexikanische Gesellschaft verteidigen können? Eine dominierende Mittelklasse gibt es noch nicht. Die Armen, immerhin über 40 Prozent der Bevölkerung, kommen auch nicht in Frage. Ihnen werden Menschenrechte, die Werte des Rechtsstaats und Mitsprache vorenthalten. Es gibt, selbstverständlich, eine Verfassung und unzählige Gesetze, aber sie werden nicht eingehalten. Korruption gehört zur mexikanischen Normalität. Und in den Narco-Gebieten des Nordens hat der Staat völlig abgedankt. Tausende von Einwohnern dort haben aufgegeben, sind in die USA emigriert oder in vermeintlich sichere Gebiete umgezogen. Und die meisten Mexikaner finden sich offenbar damit ab. Es ist dieses scheinbar wehrlose Hinnehmen, das Autoren wie der ehemalige Außenminister Jorge Castaneda meinen, wenn sie schreiben, dass es scheint, als müssten die Mexikaner stets in eine Opferrolle schlüpfen.
Es gibt Politologen, die sagen, dass in Mexiko bald sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen könnte. Dafür gibt es einige Gründe, doch zunächst muss man anderes befürchten. Der Einsatz der Streitkräfte gegen die organisierte Kriminalität hat nicht die erhoffte Verbesserung der Sicherheitslage zur Folge gehabt, sondern eher zu einer Verschärfung des Krieges der Kartelle geführt - und zu einer Verschlechterung der Menschenrechtslage. In früheren Zeiten wurden die Streitkräfte vor allem gegen Aufstandsbewegungen eingesetzt; viele Mexikaner befürchten, dass mit dem massiven Einsatz in den nördlichen Provinzen auch der Rechtsstaat auf der Strecke bleibt. Der "Drogenkrieg" liefert den despotisch herrschenden, von der Mafia unterwanderten Institutionen in den Regionen einen Vorwand, ihre Macht zu missbrauchen und Menschenrechtsbewegungen zu unterdrücken.
Der im März 2011 mit dem AI-Menschenrechtspreis ausgezeichnete Aktivist Abel Barrera aus dem Bundesstaat Guerrero sagte kürzlich in einem Interview mit dem "Tagesspiegel": "Es ist schlimmer geworden. Niemand vertraut mehr in die Justiz, niemand erstattet auch nur Anzeige, denn die Wahrscheinlichkeit ist größer, dass das Opfer bedroht wird, als dass es Konsequenzen für den Täter hat. Die Selbstjustiz greift um sich, und die Menschen versuchen, sich so gut es geht selbst zu schützen. Der Staat hat abgedankt." Nach sieben Jahrzehnten der Herrschaft einer einzigen Partei, der PRI, hatte Mexiko seit dem Jahr 2000 schon den Weg in Richtung Demokratie beschritten. Nach den Einschränkungen durch den "Drogenkrieg" befürchten nun viele, dass mit der wahrscheinlichen Rückkehr der PRI an die Macht im kommenden Jahr auch einige demokratische Errungenschaften wieder verspielt werden könnten.