Einleitung
Als "Sternstunden" des Parlaments werden in den Medien in der Regel nur jene Debatten des Deutschen Bundestags gefeiert, in denen einzelne Abgeordnete unter Berufung auf ihr Gewissen die Gründe für ihre Entscheidungen darlegen und diese - solchermaßen ethisch-moralisch aufgeladen - als "frei" und "ungebunden" erscheinen, während offenbar der Alltagsbetrieb des Parlaments nicht nach diesen hehren Prinzipien verläuft. Auf diese Weise wird das Ideal eines Abgeordneten suggeriert, der als "Einzelkämpfer" in offenem Diskurs seine Entscheidung fällt, nur "der Sache" verpflichtet ist, nicht aber Gruppenloyalitäten oder Interessenbindungen unterhält.
Solch ein Bild entspringt dem Modell des so genannten klassisch-liberalen Parlamentarismus, wie es ihn - wenn überhaupt - nur kurze Zeit im 19. Jahrhundert gegeben hat. Die Phase der konstitutionellen Monarchien in Europa vor der Parlamentarisierung, also vor der Einführung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, und auch präsidentielle Regierungssysteme stehen Pate, wenn immer wieder Vorstellungen einer dualistischen Gewaltenteilung formuliert und in die Öffentlichkeit transportiert werden: Danach tritt das Parlament als Ganzes der Regierung gegenüber; die enge Beziehung der Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen zur Regierung wird als Verlust gewaltenteiliger Kontrolle interpretiert. Geschlossenes Abstimmungsverhalten erscheint in dieser Sicht als Ergebnis von Zwang und Schwäche des Parlaments.
Diese - häufig anzutreffende - öffentliche Darstellung und die entsprechende Wahrnehmung des Parlaments durch die Bürger illustrieren tief sitzende Missverständnisse der Grundlagen und Funktionsbedingungen moderner parlamentarischer Demokratie.
Zur Handlungslogik des Parlamentarismus
Konstitutiv für das Funktionieren parlamentarischer Demokratie ist die Existenz von Regierungsmehrheit und Opposition. Anders als im Präsidentialismus, wo die Exekutive unabhängig von der Legislative vom Volk bestellt wird, entsteht im Parlamentarismus eine Regierung durch das Parlament und in der Regel auch aus dem Parlament. Erst wenn die Mehrheit sich bereit findet, eine Regierung ins Amt zu bringen und sie dort zu unterstützen, wird politisches Handeln möglich. Diese zentrale Aufgabe schafft die enge inhaltliche Bindung und personelle Verknüpfung von Fraktionen der Mehrheit mit der Regierung, die man insofern mit Fug und Recht als "ihre" Regierung bezeichnen kann. Diese Handlungseinheit wird als Regierungsmehrheit bezeichnet.
Sie eint die Kongruenz ihrer Interessen, und zwar sachpolitisch, taktisch und strategisch. Prinzipiell gilt: Alle Angehörigen der Parlamentsmehrheit wollen ein bestimmtes politisches Programm durchsetzen, haben dafür das Mandat der Wählerschaft erhalten, sind - nicht zuletzt deshalb - überzeugt, dass sie der Opposition auch inhaltlich überlegen sind, und wollen folglich, wie aus legitimem Eigennutz, Mehrheit bleiben. Dieses Ziel kann nur erreicht werden, wenn sich Regierungschef und Minister als leistungsfähig in den Augen der Wähler erweisen. Darüber ständig zu wachen obliegt der Mehrheit, denn letztlich hat sie darüber zu entscheiden, ob und wie lange die Regierung beziehungsweise Teile von ihr im Amt bleiben. Solange die exekutiven Führungskräfte erfolgreich sind, wird die Mehrheit ihre Solidarität nicht aufkündigen und ihrerseits - funktionsgerecht handelnd - alles daran setzen, die umfassende Handlungsfähigkeit ihrer Regierung zu sichern.
Voraussetzung des gemeinsamen Erfolgs der Regierungsmehrheit ist ihre Geschlossenheit. Vermag sie es nicht, inhaltliche Übereinstimmung in den politischen Vorhaben und stabile Unterstützung ihres Führungspersonals hervorzubringen, ist die Regierungsfähigkeit gefährdet - sowohl hinsichtlich der konkreten Politikergebnisse während einer Wahlperiode als auch im Blick auf die nächste Wahl. Diese Geschlossenheit ist nicht gegeben, sondern Produkt eines kontinuierlichen Prozesses der Kommunikation zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen.
Diese innere Logik gilt grundsätzlich ebenso für die Opposition. Erst ihre Existenz verleiht dem auch vordemokratisch geltenden Prinzip der Mehrheitsentscheidung demokratische Qualität. Die Opposition ist die institutionalisierte Alternative zur Regierungsmehrheit im Parlamentarismus. Dieser Rolle wird sie durch öffentliche Kritik und ständige Präsentation von sachlichen und personellen Gegenangeboten gerecht; sie hat den Wählern die Unzulänglichkeiten der amtierenden Regierung und ihrer Mehrheit vorzuführen, also öffentlich Kontrolle zu üben. Auch diese Funktionen können nur erfolgreich wahrgenommen werden, wenn die Opposition geschlossen handelt. Innere Zerstrittenheit über Programme oder Personen signalisiert den Wählern - zumal unter den Bedingungen der Politischen Kultur in der Bundesrepublik - Unfähigkeit zur Führung und damit zur Regierungsübernahme.
Die spezifische Form der Gewaltenteilung im Parlamentarismus - der "neue Dualismus" - zwischen Regierungsmehrheit einerseits, Opposition andererseits und die damit einhergehende Handlungslogik haben Konsequenzen für die Konzeptionalisierung politischer Führung im Parlament. Diese muss unterschieden werden in a) Führung in den Fraktionen der Mehrheit, was nicht nur Strukturen und Verfahren der Binnenorganisation umfasst, sondern eben insbesondere das Zusammenspiel zwischen ihnen und ihrer Regierung; hierzu gehört gegebenenfalls - so auch für den Deutschen Bundestag - die Führung in Koalitionen; und b) Führung in der Opposition beziehungsweise in den Fraktionen der Opposition.
Gleichheit der Abgeordneten
Parlamente sind Versammlungen von prinzipiell Gleichen. Allen Bundestagsabgeordneten wird in Artikel 38 I GG das Freie Mandat garantiert, das ihre Weisungsfreiheit verbrieft und allen dieselben Rechte und Pflichten zuweist. Darauf können sie sich gegenüber allen Versuchen berufen, sie zu bestimmten Entscheidungen oder Verhaltensweisen zu zwingen - sei es von Interessen und Akteuren außerhalb des Parlaments, sei es von Fraktionskollegen oder Regierungsmitgliedern. Die rechtliche Gleichheit sichert die Unabhängigkeit der Parlamentarier und bezeichnet damit einen nicht hintergehbaren Status, der bei Bedarf aktualisiert werden kann, entfaltet insofern eine Präventiv- und Schutzfunktion gegen Übertreibungen bei Methoden und Mitteln politischer Führung.
In einem funktionierenden Parlament sollte es gar nicht erst dazu kommen, dass Abgeordnete diesen Rechtsstatus geltend machen müssen. Keinesfalls lässt sich aus ihm folgern, dass sie ungebundene Einzelkämpfer sind. Vielmehr ist die parlamentarische Demokratie ein "Mannschaftsspiel".
Arbeitsteilung und sachpolitische Führung
Die Anforderungen, die komplexe Gesellschaften an politische Entscheidungen stellen, sind nur durch Arbeitsteilung im Parlament zu erfüllen. Und auch verantwortbares Entscheiden des Abgeordneten über die Fülle komplizierter Materien ist nur möglich, wenn er sich spezialisieren und gleichzeitig auf spezialisierte Kollegen vertrauen kann.
Den Handlungsrahmen für diese Arbeitsteilung stellt die Fraktion dar, die "Partei im Parlament". Die gemeinsame Parteizugehörigkeit stiftet Übereinstimmung im Grundsätzlichen und schafft damit die Voraussetzung für ein "Geschäft auf Gegenseitigkeit": Im Bundestag befasst sich stellvertretend für den Rest der Fraktion jeweils nur noch eine kleine Gruppe von Abgeordneten mit den Details der anstehenden Gesetzgebung, gilt durch ihre Sachkompetenz als "zuständig" und der prinzipiellen Folgebereitschaft der Fraktionskollegen würdig. Erstens bedarf aber diese Folgewürdigkeit des stetigen Nachweises durch die Präsentation überzeugender Lösungen; gelingt dies nicht, droht Kritik, Widerspruch oder gar Abwahl durch die letztzuständige Gesamtfraktion. Zweitens wechselt die Gruppe der "Zuständigen" von Gegenstand zu Gegenstand, so dass keine Expertenoligarchie entsteht, sondern jeder Abgeordnete selbst einmal Experte ist oder dazu werden kann, wie er auch darauf angewiesen ist, seinen Fraktionskollegen sachpolitisches Vertrauen entgegenzubringen. Drittens geschieht diese sachpolitische Lenkung im Rahmen richtungspolitischer Vorgaben der Fraktionsführung (im Falle der Mehrheit auch der Regierung), die ihrerseits dafür wieder der Legitimation der Gesamtfraktion bedarf.
Die Organisation dieser Arbeitsteilung ähnelt sich weitgehend in den großen Fraktionen des Bundestags.
In den AGs wirken Abgeordnete, die oft schon aus Berufserfahrung über entsprechende Sachkenntnisse verfügen oder sich - häufig über mehrere Wahlperioden - auf dem jeweiligen Gebiet spezialisiert haben. Dies ist nicht nur für die Arbeitsfähigkeit von Fraktion und Parlament funktionsnotwendig, sondern dient auch dem Aufstieg des Abgeordneten in seiner Fraktion. Neben AGs und Bundestagsausschüssen gibt es praktisch keine anderen Arbeitsstrukturen, in denen Parlamentsneulinge zeigen können, dass sie eine wertvolle Ergänzung für ihre Fraktion sind, fachliche und politische Fähigkeiten erwerben, trainieren und unter Beweis stellen und sich für hervorgehobenen Positionen empfehlen können. In den AGs kann der einzelne Abgeordnete, wenngleich zumeist nur im Detail, inhaltlichen Einfluss gewinnen und sachpolitisch gestalten. Außerdem kann er hier auch Wählerinteressen zur Durchsetzung verhelfen.
Vor allem bei Spezial- und Anpassungsgesetzen, die den bei weitem größten Anteil an der Gesetzgebung ausmachen, sind es die Fraktionsexperten in den Arbeitsgruppen, die faktisch abschließend die Entscheidung ihrer Fraktion bestimmen. Sind sie sich einig, so lautet der Befund der Parlamentsforschung wie die Einschätzung der Parlamentarier selbst, kann nicht mehr viel gegen ihr Votum ausgerichtet werden; sie nehmen eine Schlüsselstellung in der Willensbildung der Fraktionen ein. Sie leisten die inhaltliche Feinabstimmung, sind das Sieb für das Machbare und politisch Annehmbare; sie gleichen die parlamentarische Entscheidung im Einzelnen mit Positionen von Partei und Wählerschaft ab. Die sachpolitische Führung bei den inhaltlichen Details der Gesetzgebung liegt weitgehend in den Händen dieser Akteure.
Ihre Bedeutung erschließt sich allerdings erst dann, wenn man die Rolle der Regierung und Ministerialbürokratie sowie der (engeren) Fraktionsführungen einbezieht. Bekanntlich gehen die meisten Gesetzesinitiativen von der Regierung aus und werden in den fachlich und personell dafür ausgestatteten Ministerien, regelmäßig unter Anhörung betroffener Interessen, vorbereitet. Teilweise, so eine häufiger vorgebrachte Kritik, verhandele die Regierung sogar mit Verbänden und Interessengruppen sowie Sachverständigen und verspreche Regelungen ohne Konsultationen mit ihren Abgeordneten. Auf Seiten der die Regierung tragenden Fraktionen erlaube diese Vorgehensweise keine Korrekturen im Detail, denn der Kompromisscharakter solcher Verhandlungslösungen ließe es nicht zu, irgendeinen Teil des Pakets aufzuschnüren, ohne es als Ganzes zu gefährden. Auch könne die Mehrheit es nicht insgesamt ablehnen, da dies die eigene Regierung desavouieren und in der Öffentlichkeit den Eindruck mangelnder Geschlossenheit erzeugen würde.
Solche Kritik ist in ihrer Essenz nicht neu (wenn auch vielleicht in ihrer Begründung). Zu Regierungszeiten sowohl der SPD als auch der Union wurden immer wieder Stimmen laut, welche die zu weitgehende Unterwerfung der Fraktionen eben nicht nur unter die Richtungs-, sondern auch die Detailvorgaben des Kabinetts beklagten. Derartige Entwicklungen wurden - zum Beispiel vom Unionsfraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble - als Fehlentwicklungen wahrgenommen und zu korrigieren versucht: Erstens ist die Spezialisierung in den Arbeitsgruppen den Abgeordneten zu wichtig für ihre politischen Gestaltungschancen und ihren Aufstieg in der Fraktion, dass sie sich dieses Handlungsfeld zu lange zu stark beschneiden ließen; zweitens stellt das Fachwissen, das in vielen AGs durch ihre langjährige Institutionalisierung und die entsprechende Verhaltensanpassung der Abgeordneten anzutreffen ist, ein Kontrollpotenzial dar, das entweder von der Regierung für bessere und in der Wählerschaft akzeptablere Lösungen positiv genutzt werden kann oder das sie fürchten muss, wenn sie es übergeht, denn letztlich ist sie abhängig von der Kooperations- und vor allem Zustimmungsbereitschaft der Mehrheit.
Bundesregierungen sind gut beraten, wenn sie schon bei der Vorbereitung der Gesetzgebung, die - notwendigerweise und systemgewollt - von der Ministerialbürokratie geleistet wird, in ihren Fraktionen ausloten, was diese mitzutragen bereit sind. Dies geschieht durch enge Zusammenarbeit mit den Fraktionsführungen der Mehrheit wie auch durch direkte Kommunikation mit Abgeordneten. Nicht nur sehen Minister oft die Fraktionsexperten als Verbündete in Sachfragen und als Hausmacht, sondern sie müssen auch durch enge Kontakte verhindern, dass Gegenpositionen aufgebaut werden. Sehen sich die Fraktionskollegen nicht hinreichend in den Entwürfen der Regierung repräsentiert, kann dies den Entscheidungsprozess verlangsamen oder sogar zur öffentlichen Mobilisierung reizen und im schlimmsten Falle zu Abstimmungsniederlagen im Parlament führen. Daher findet im Regelfall frühzeitig der sachpolitische Austausch von Regierung und Ministerialbürokratie mit den spezialisierten Abgeordneten (und gelegentlich auch der Koalitionspartner untereinander) in den AGs statt.
Bei der Regierungsmehrheit fungieren zudem die Fraktionsführungen als Scharnier zwischen der Regierung und den sie tragenden (Koalitions-)Fraktionen. Dabei sind dieselben für die Regierung skizzierten Chancen und Risiken zu berücksichtigen, was im Großen und Ganzen auch für die Fraktionen der Opposition gilt. Bei ihnen entfällt lediglich die Notwendigkeit der Verzahnung und Abstimmung mit dem Regierungswillen. Ansonsten müssen ihre Führungen ebenso austarieren, wie viel inhaltlichen Spielraum sie ihren Abgeordneten im beschriebenen Spannungsfeld einräumen wollen: Wie viel Sachverstand wird benötigt, um die Funktionen der Kritik, Kontrolle und Alternative wahrzunehmen und der Wählerschaft überzeugend zu vermitteln? Wie viele Details müssen vorgegeben werden, um kohärente Politik anbieten zu können und zu verhindern, dass Abgeordnete "auf eigene Rechnung" handeln? Wie viele dürfen vorgegeben werden, ohne dass dysfunktionale Gegenreaktionen frustrierter Fraktionsmitglieder erfolgen?
Insbesondere die Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden leisten hier Koordination der inhaltlichen Arbeit; von ihnen hängt es ab, ob der Rahmen für sachpolitische Eigenständigkeit der Fraktionsexperten enger oder weiter gezogen ist. Für beides gibt es Beispiele in der Geschichte des Bundestags. So bot sich zum Ende der 12. Wahlperiode in der Unionsfraktion ein Bild der Entinstitutionalisierung von Entscheidungen: Weder der Kanzler noch der Vorsitzende hatte die Fraktion sicher im Griff, da sie die sachpolitische Orientierung nicht in der erforderlichen Klarheit und im gewünschten Ausmaß anboten; dadurch wurde die Fraktion immer schwieriger berechenbar. Nach der Bundestagswahl 1994 wurde die sachpolitische Initiative und Koordination professioneller gestaltet und eine strukturell ähnliche Organisation im Vorstand vorgesehen, wie sie der Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel 1983 in der SPD geschaffen hatte: Jeder Stellvertreter wurde für einen Arbeitsbereich "zuständig", der mehrere Arbeitsgruppen umfasste. So verengte sich der Spielraum für die Fraktionsexperten und wurde nur durch die Tatsache sehr knapper Mehrheitsverhältnisse etwas aufgewogen. In der SPD-Fraktion wurde die als "bürokratisiert" empfundene Fraktionsorganisation unter Vogel von seinem Nachfolger Hans-Ulrich Klose mit dem Ziel reformiert, die Eigenständigkeit der Fraktionsexperten zu stärken und ihnen zu ermöglichen, sich auch öffentlich mit ihrem jeweiligen Sachgebiet zu profilieren.
Im Alltagsgeschäft des Bundestags und seiner Fraktionen hat die funktional benötigte Arbeitsteilung bewirkt, dass den Fraktionsexperten im gesetzgeberischen "Normalbetrieb" die sachpolitische Lenkung im Detail zugewachsen ist. Sie bereiten die Entscheidung der Gesamtfraktion vor und prägen sie damit in den meisten Fällen. Dies geschieht in der Opposition wie in der Mehrheit. Letztere ist zwar weitgehend an Regierungsentwürfe gebunden, erstere an Richtungsentscheidungen ihrer Fraktionsführungen; in beiden Fällen muss aber - um den Preis des Erfolgs - der Fraktionswille antizipiert und immer wieder neu die Balance gefunden werden zwischen zuviel und zuwenig Vorgabe seitens der Führungen.
Hierarchisierung und richtungspolitische Führung
Arbeitsteilung erfordert Richtungsvorgaben, Koordination und Integration. Die Bedingungen der Parteiendemokratie bringen es mit sich, dass die Leitlinien der Partei hinreichend Berücksichtigung bei der parlamentarischen Willensbildung finden müssen, die Gesetzmäßigkeiten der Mediendemokratie, dass sichtbare Spitzenpolitiker die Positionen und Interessen der Fraktion der Öffentlichkeit präsentieren. Die aus diesen Funktionserfordernissen gut begründbare Notwendigkeit für eine gewisse Über- und Unterordnung brachte schon in den Anfangsjahren des Bundestags erste hierarchische Strukturen hervor. Deren Ausbau wurde durch die Vergrößerung der Fraktionen und deren rasch fortschreitende Arbeitsteilung nötig. Hinzu kam die Professionalisierung des Parlaments, seiner Abgeordneten und seiner Arbeitsbedingungen mitsamt der finanziellen Ausstattung. Auch das sich entwickelnde Selbstverständnis der Mitglieder des Bundestags und ihre Orientierung an effizienter Aufgabenerledigung trugen zu weiterer Hierarchisierung bei und setzten gelegentlich unternommenen Vorstößen, zu egalitäreren Strukturen oder unabhängigerer individueller Arbeitsgestaltung zu kommen, enge Grenzen.
Die Fraktionen haben aus diesen Zusammenhängen im Großen und Ganzen dieselben Schlüsse für die Organisation ihrer Führungsstrukturen gezogen. Die beiden großen wählen seit 1975 (SPD) bzw. 1980 (CDU/CSU) Geschäftsführende Vorstände, die aus einem Vorsitzenden, mittlerweile neun oder zehn Stellvertretenden Vorsitzenden und in der Regel fünf Parlamentarischen Geschäftsführern bestehen (in der Unionsfraktion zusätzlich zwei Justitiare und ein Sprecher der CDU-Landesgruppen).
Was genau "Führung" und "Leitung" - so die Begriffe in den Arbeitsordnungen der Fraktionen zur Beschreibung der Funktionen des Vorsitzenden - bedeuten, ist abhängig von den politischen Zielen, der Persönlichkeit und dem Führungsstil des jeweiligen Amtsinhabers. Außerdem kommt es wesentlich auf das Amtsverständnis des Vorsitzenden an: Versteht er sich - auf Seiten der Mehrheit - als Erfüllungsgehilfe seiner Regierung und Garant ihrer Handlungsfähigkeit, dem es vor allem obliegt, verlässlich parlamentarische Geschlossenheit zu gewährleisten (so Herbert Wehner), oder ist er innerparteilicher Rivale beziehungsweise prospektiver Nachfolger des amtierenden Kanzlers (wie Helmut Schmidt oder Wolfgang Schäuble)? In der Opposition wird ein Fraktionsvorsitzender, der den amtierenden Kanzler ablösen und selbst Regierungschef werden will (zum Beispiel Angela Merkel), anders agieren als jener, der sich als "Platzhalter" für einen Kanzlerkandidaten versteht (so Karl Carstens).
Die Stellvertretenden Vorsitzenden sind in beiden Fraktionen mittlerweile fest etabliert als gleichsam Ressortverantwortliche: Jeder ist für ein großes Sachgebiet "zuständig" und koordiniert, wie gezeigt, die auf diesem Gebiet angesiedelten AGs. Die Parlamentarischen Geschäftsführer sind als Mitglieder des Geschäftsführenden Vorstands natürlich auch in die inhaltliche Arbeit eingebunden, vor allem aber haben sie die Präsenz der Abgeordneten und die Geschlossenheit der Fraktion bei den Abstimmungen sicherzustellen; außerdem steuern sie den prozeduralen Teil des Bundestagsbetriebs, unter anderem durch ihre Mitgliedschaft im Ältestenrat.
Ungeachtet seines individuellen Amtsverständnisses und seines persönlichen Führungsstils ist es die Hauptaufgabe jedes Fraktionsvorsitzenden, die politische Richtung vorzugeben. Die "Politiker" unter den Amtsinhabern, jene mit Karriereambitionen, setzen dabei klare eigene Akzente, skizzieren (mindestens) den Rahmen für inhaltliche Veränderungen oder Richtungswechsel der Politik. Geschieht dies aus der Stellung als Oppositionsführer, der zudem noch Vorsitzender seiner Partei ist, fällt diese politische Führungsrolle besonders stark aus. Nur selten haben aber in der Geschichte der Bundesrepublik alle drei Positionen - Fraktionsvorsitz, Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur - in einer Hand gelegen. Bei den Sozialdemokraten war dies nur mit Erich Ollenhauer bei den Bundestagswahlen 1953 und 1957 der Fall, bei der Union 1972 mit Rainer Barzel. Helmut Kohl hatte zur Wahlzeit 1980 zwar den Fraktions- und Parteivorsitz inne, Franz Josef Strauß aber die Kanzlerkandidatur; Angela Merkel war somit 2005 erst die zweite Christdemokratin, die eine Bundestagswahl als Oppositionsführerin, Parteivorsitzende und Kanzlerkandidatin bestritt. Solche Personalunion lässt das Parlament zur bestens geeigneten Bühne werden, den politischen Führungsanspruch gegenüber der Öffentlichkeit anzumelden.
Voraussetzung für den Erfolg ist der Rückhalt in der Fraktion. Dieser muss gewonnen und erhalten werden. Dazu muss der Vorsitzende die Positionen und Präferenzen der Abgeordneten berücksichtigen, seine Politikangebote als geeignete Problemlösungen und als mehrheitsfähig bei der Wählerschaft begründen, kurz: die Fraktion von seinen inhaltlichen Vorstellungen überzeugen. Ziel dieses Prozesses muss das geschlossene Auftreten der Fraktion sein. Nur so gelingt der Nachweis der Handlungs- und Alternativfähigkeit im Parlament wie in der Öffentlichkeit. Deshalb muss die Unterstützung seitens der Fraktion auch die erste Priorität von Fraktionsvorsitzenden der Opposition sein, die nicht den amtierenden Kanzler herausfordern wollen (oder können, weil ein anderer - im deutschen Bundesstaat vor allem Ministerpräsidenten - als Kanzlerkandidat für geeigneter gehalten wurde). Allerdings wird ein Fraktionsvorsitzender in dieser Stellung weniger eigenständig in der inhaltlich-politischen Führung agieren (können) und eher als parlamentarischer Arm des externen Herausforderers handeln (müssen).
Vorsitzende der Mehrheitsfraktionen sind noch stärker auf das Ziel der Herstellung von Geschlossenheit verpflichtet. Gemäß der Logik des Parlamentarismus haben sie als erste dafür Sorge zu tragen, dass die Regierung stets über die erforderliche Mehrheit im Parlament verfügt, um ihr Gesetzgebungsprogramm zu realisieren und letztlich auch, um überhaupt im Amt zu bleiben. Dabei ist der richtungspolitische Spielraum von Vorsitzenden der die Regierung tragenden Fraktionen begrenzter, denn die politisch-inhaltliche Initiative liegt - strukturbedingt und politisch gewollt - bei der Regierung, und insofern ist deren Dominanz im Binnenverhältnis wie auch in der Außendarstellung anerkannt.
Innerfraktionelle Geschlossenheit ist aber nicht durch Zwang oder "Druck von oben" zu erreichen. Dies verbieten die dargelegten Funktionsprinzipien des Parlamentarismus und die Rechtsgleichheit der Abgeordneten ebenso wie die Praxis der Arbeitsteilung und das Selbstverständnis der Abgeordneten im Bundestag. Vielmehr bedarf es zu ihrer Herstellung ständiger Kommunikation, der gegenseitigen Beeinflussung und Kontrolle. Wenn viele Rechte im Bundestag nicht mehr einzelnen Abgeordneten, sondern nur noch Fraktionen zustehen, wenn von Parlamentariern gefordert wird, Fragen über die Parlamentarischen Geschäftsführer einzureichen oder diese zu unterrichten, wenn sie Einzelaktionen planen oder von der Fraktionslinie abweichen wollen, so kann dies als hierarchische Einengung, im Einzelfall auch als Sanktion erscheinen. In der Realität des Bundestags sind solche Regelungen aber vielmehr darauf gerichtet, alle politischen Anliegen den internen Überzeugungs- und Abstimmungsnotwendigkeiten zu unterziehen, um die Bündelung von Fraktionspositionen und -aktivitäten im Sinne optimaler parlamentarischer Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu erreichen und die Arbeitsabläufe möglichst reibungslos zu gestalten.
Wenn Abgeordnete sich dem unterwerfen, so geschieht dies nicht aus Zwang, sondern aus der Einsicht, dass das gemeinsame Ziel der Mehrheitserhaltung oder des Mehrheitserwerbs nur zusammen erreicht werden kann, aus Gruppenloyalität und der Verpflichtung auf gemeinsam ausgeprägte Gruppennormen. Die Kosten, Konflikte und Kompromisse, die ein solches Verhalten verursacht, werden in Kauf genommen, weil sie die Wirkung individueller wie kollektiver Gestaltungschancen in der Regel verbessern und nicht das Ergebnis eines Diktats sind, sondern am Ende eines Prozesses stehen, in dem die Fraktionsführungen (und die Regierung) - bei Strafe des Misserfolgs - darauf angewiesen sind, ihre Richtungsvorgaben ständig zu begründen und abzustimmen. Nur dann wird auch der Ausnahmefall hierarchisch-autoritärer Führung toleriert. Allerdings liegt in der starken Betonung der Arbeitsteilung im Bundestag, der Orientierung der Abgeordneten an effizienter Aufgabenerledigung und der Herausbildung bürokratischer Organisationsstrukturen in den Fraktionen die Gefahr, dass eigenständige Innovationskraft und Kreativität im Parlament nachlassen.
Die Fraktionen als "Resonanzboden des politisch Zumutbaren" (Winfried Steffani) bezeichnet ein kompliziertes Verhältnis zwischen Führung und Folgebereitschaft. Schreitet die Führung voran, ohne sich ihrer Gefolgschaft zu versichern, wird sie unter den Funktionsbedingungen des Parlamentarismus auf Dauer versagen. Bleiben die Fraktions- und Regierungsspitzen Führung schuldig, geht politische Konsistenz und Handlungsfähigkeit ebenso verloren. Für die Kunst demokratischer Führung im Parlament kommt es darauf an, immer wieder sorgfältig und sensibel die Positionen und Interessen der Geführten zu antizipieren und mit den erkannten Entscheidungsnotwendigkeiten abzugleichen.