Einleitung
Wie die Politik kennt auch die Politikwissenschaft thematische Konjunkturen. Und nicht nur das: Sehr häufig besteht ein greifbarer Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Interessensbereiche der Politikwissenschaft und den thematischen Konjunkturzyklen der Politik. Wenn sich Politikwissenschaftler auch gelegentlich wünschen, größeren Einfluss auf das politische "Agenda-Setting" zu haben, so entspricht die insgesamt stärker nachvollziehende Rolle der Politikwissenschaft doch ihrem dominanten Bestreben, politische Prozesse zu erklären und verständlich zu machen.
"Political Leadership" - mit Blick auf die Regierung verstanden als das Dirigieren des gouvernementalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses und die Herstellung politischer Legitimität von Regierungsentscheidungen durch Spitzenrepräsentanten der politischen Exekutive
Grundrichtungen der Leadership-Forschung
Als dominante Ausprägung der Beschäftigung mit "Political Leadership" können Zugänge gelten, die nach den Bedingungen durchsetzungsstarker politischer Führung sowie gegebenenfalls nach Möglichkeiten der Optimierung politischer Führungsleistungen fragen.
Daneben gibt es verstreute Ansätze, die man unter die Überschrift einer demokratiewissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand stellen könnte. Die Bezeichnung "Demokratiewissenschaft" ist durchaus geläufig, aber gleichwohl nicht scharf definiert. Am bekanntesten ist gewiss jenes in der Frühphase der Bundesrepublik begründete Verständnis von Demokratiewissenschaft, das der Politikwissenschaft die Rolle zuwies, der Gesellschaft in erzieherischer Absicht politische Allgemeinbildung zukommen zu lassen. In Abgrenzung zu diesem Verständnis meint Demokratiewissenschaft hier eine professionelle politikwissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen der Demokratie, die durch eine Reihe weiterer Merkmale bestimmt ist. Dazu gehören "eine normative Pro-Einstellung zur Demokratie" und "das Bewusstsein einer reflexiven Beziehung von Politikwissenschaft und Demokratie".
Als zentrales Merkmal einer demokratiewissenschaftlichen Leadership-Forschung kann eine eher herrschaftskritische Grundeinstellung gegenüber "leadership" gelten. Positionen dieser Richtung blicken ebenfalls auf eine ansehnliche Tradition zurück, deren neuzeitliche Kapitel auf staatspolitischer Ebene mit dem amerikanischen Verfassungsgebungsprozess von 1787 beginnen. Den amerikanischen Verfassungsvätern ging es noch primär um eine institutionelle Einhegung der Exekutive als Teil eines komplexen Systems institutioneller Gewaltenkontrolle. In ihrer weiter demokratisierten Variante lautet die normative Maxime der demokratiewissenschaftlich inspirierten Leadership-Forschung dagegen in etwa: "so viel leadership wie nötig, so viel Demokratie wie möglich". "Representation from above"
Die Bewertungskriterien guter politischer Führung sind aus dieser Sicht deutlich weniger stark auf die Organisationsfähigkeit regierender Mehrheiten, die Durchsetzungsfähigkeit von Regierungen und das erzielte Maß an politischer Veränderung konzentriert. Es zählt nicht ausschließlich, "was am Ende herauskommt"; vielmehr werden Fragen nach der demokratischen Qualität des gouvernementalen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses als gleichberechtigt betrachtet. Eine in diesem Geiste operierende Leadership-Forschung muss nicht lange nach würdigen Gegenständen suchen. In ihrem Streben nach Begründung eines reflexiven Verhältnisses zur Demokratie kann sie Themen aufgreifen, die länderübergreifend einen Zuwachs an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit erfahren haben. Dazu gehören Fragen nach der angemessenen Repräsentation von Frauen in politischen Führungsämtern, das Kommunikationsverhalten von Regierungen sowie die Qualität demokratischer Kontrollmechanismen gegenüber Inhabern exekutiver Spitzenämter.
Repräsentation von Frauen in der Exekutive
Die Frage nach der Repräsentation von Frauen in politischen Leadership-Positionen ist, vor allem durch das damit angesprochene Kriterium der Gleichheit (als eine der beiden Grundnormen der liberalen Demokratie neben jener der Freiheit), für eine demokratiewissenschaftliche Leadership-Forschung von direkter Relevanz.
Wie steht es um die empirische Dimension? In den vergangenen zehn Jahren hat der Frauenanteil in europäischen Kabinetten deutlich zugenommen. In der EU-27 lag der Durchschnittswert in der Gruppe der Kabinettsminister Mitte 2009 bei 24 Prozent, mit allerdings außerordentlich großen Unterschieden zwischen Ländern bzw. Gruppen von Ländern. In den Ländern der alten EU-15 betrug der Durchschnittswert 31,2 Prozent, in der Gruppe der zwölf jüngeren Mitgliedstaaten lediglich 15 Prozent. Mit einem Frauenanteil von 60 und null Prozent verkörperten Finnland und Ungarn die Extreme. Aber auch innerhalb einer Ländergruppe gab es signifikante Unterschiede: In Finnland, Dänemark, Schweden, Deutschland und Spanien lagen die Werte bei jeweils über 40 Prozent; in Griechenland, Portugal und Großbritannien dagegen lediglich zwischen elf und 17 Prozent.
Während Ministerinnen in vielen Ländern zum selbstverständlichen Erscheinungsbild gehören, bleiben die Positionen des Regierungschefs bzw. des Staatsoberhaupts, von Ausnahmen abgesehen, Männern vorbehalten. In der Gruppe der G-8-Staaten gab es während der vergangenen Jahrzehnte lediglich vier Regierungschefinnen: Margaret Thatcher (Großbritannien, 1979 - 1990), Édith Cresson (Frankreich, 1991 - 1992), Kim Campbell (Kanada, 1993) und Angela Merkel (Deutschland, seit 2005). Ein differenziertes Bild zeichnet Farida Jalalzai in ihrer bahnbrechenden empirischen Studie über Frauen in exekutiven Spitzenämtern von 1960 bis 2007.
Die jüngere Leadership-Forschung greift über die Analyse genderbezogener Repräsentationsmuster hinaus und fragt danach, welchen Unterschied die Präsenz von Frauen in Führungsämtern auf den politischen Führungs- und Entscheidungsprozess macht. Dabei geht es um das Verhältnis zwischen "deskriptiver Repräsentation" und "substantieller Repräsentation".
Ein progressives Urteil über diese Entwicklungen setzt kein "feministisches Glaubensbekenntnis" voraus. Eine angemessene Repräsentation von Frauen in politischen Führungsämtern bliebe selbst dann eine legitime Forderung und ein erstrebenswertes Ziel, wenn sich die Hinweise auf spezifische Führungsstile oder gar besondere Führungsqualitäten von Frauen nicht erhärten lassen sollten. Schließlich gibt es keinen guten Grund, die Privilegien hoher politischer Ämter allein dem männlichen Teil der Bevölkerung vorzubehalten. Abgesehen davon konnte die jüngere Forschung zeigen, dass die Repräsentationsstärke von Frauen in politischen Ämtern (zumindest auf der Ebene des Parlaments) in einem positiven Zusammenhang mit der Anerkennungswürdigkeit eines demokratischen Systems auch in den Augen männlicher Bürger steht.
Politische Kommunikation in der "Mediendemokratie"
Die Kommunikation politischer Vorhaben und das öffentliche Werben um demokratische Zustimmung gehörten schon immer zu den zentralen Anforderungen an politische Führung in der Demokratie. Seit den Anfängen des modernen Parlamentarismus haben sich die Bedingungen und Ausprägungen von Regierungskommunikation jedoch nachhaltig verändert. Parlamentsbasierte Regierungskommunikation hat an Bedeutung eingebüßt, selbst bzw. gerade in Großbritannien, wo Pressekonferenzen des Premierministers jahrzehntelang nicht nur als unvereinbar mit dem angestammten Recht des Parlaments auf politische Erstinformation, sondern geradezu als verfassungswidrig betrachtet wurden.
Parallel zu der faktischen "Entparlamentarisierung" der Regierungskommunikation haben sich die Anforderungen an "public leadership" länderübergreifend deutlich erhöht. Dabei geht es nicht nur um jene zahlreichen Aspekte, die heute verbreitet unter dem Stichwort "media management" zusammengefasst werden, und womit so unterschiedliche Aktivitäten wie die Gewährleistung der "Medientauglichkeit" der maßgeblichen Entscheidungsträger, die strategische Lancierung von Informationen an die Medien oder die Einstellung des Regierungsapparates auf den Umgang mit einem dramatisch intensivierten Zeitdruck durch die kommerzialisierten Massenmedien gemeint sind.
Aus demokratiewissenschaftlicher Perspektive wäre zu fordern, dass die Leadership-Forschung nicht ausschließlich die Schwierigkeiten einer machtpolitisch relevanten Ausschöpfung von Kommunikations- und Überzeugungspotentialen von Regierungen als Problem begreift, sondern auch Fragen der demokratischen Qualität von Kommunikationsprozessen berücksichtigt. Bereits vor annähernd zwei Jahrzehnten entlarvten Beobachter viele Formen politischer Führung über die Medien und mit den Medien treffend als "scheinplebiszitär".
Demokratische Kontrolle von Regierungen
Zur politischen Kultur reifer Demokratien gehört die normative Erwartung, dass Inhaber politischer Führungsämter ein "Amtsethos" entwickeln.
Nicht alle Kontrollmechanismen verdienen es, im engeren Sinne als "demokratisch" bezeichnet zu werden. Das gilt auch für einige Ausprägungen der Kontrolle, die zweifelsohne im Dienste der Demokratie stehen, ohne selbst deren Mechanismen unterworfen zu sein, wie insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit. Die wichtigste Form demokratischer Kontrolle in der repräsentativen Demokratie während der Legislaturperiode bildet die Regierungskontrolle durch das Parlament. Anders als vor allem rechtswissenschaftliche Beobachter argumentieren, die in der Praxis des Parlamentarismus die klare Trennung zwischen Regierung und Parlament vermissen, läuft diese Form der Regierungskontrolle in parlamentarischen Demokratien keineswegs leer. Kontrollleistungen müssen freilich im Kontext der "neuen" Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit einerseits und parlamentarischer Opposition andererseits betrachtet werden. Die parlamentarische Opposition ist zwar in aller Regel der deutlich sichtbarere - und vielfach in der Tat ein relativ machtloser - Kontrolleur der Regierung auf parlamentarischem Parkett, nicht aber der einzige. Hinzu kommt die den Augen der Öffentlichkeit weitgehend entzogene Regierungskontrolle durch die Mehrheitsfraktionen, die im Ergebnis jedoch umso effektiver ist. Gerade Regierungskontrolle durch die parlamentarische Mehrheit erlaubt nicht nur nachträgliche, sondern zugleich begleitende oder gar vorgreifende Kontrolle.
Die schärfste Waffe zur politischen Sanktionierung von "poor leadership" in der repräsentativen Demokratie bleibt die Abwahl von Regierungen. Empirische Studien belegen, dass die Bedingungen hierfür in vielen Ländern Westeuropas weit hinter den normativen Erwartungen an die kompetitive Parteiendemokratie zurückbleiben. Eine Abwahl regierender Mehrheiten ist in der Mehrzahl europäischer Koalitionsdemokratien nicht ohne weiteres möglich. Die Verbesserungen oder Verschlechterungen von Parteien gegenüber ihrem letzten Wahlergebnis geben kaum zuverlässige Hinweise darauf, welche Parteien an der nächsten Regierung beteiligt sein werden. Als entscheidender erweist sich die "Koalitionsfähigkeit" potentiell in Frage kommender Akteure; sie wird üblicherweise im Rahmen nicht-öffentlicher Sondierungsgespräche im Anschluss an Wahlen ergründet.
Nicht alle Instrumente und Verfahren, denen in der öffentlichen Diskussion bereitwillig das Prädikat "direkte Demokratie" zuerkannt wird, sind geeignet, das Kontrollpotential der Gesellschaft gegenüber politischen Führungseliten zu befördern. Entsprechendes gilt nur für Initiativen oder Referenden, die unmittelbar von einer bestimmten Anzahl von Bürgern, "von unten", ausgelöst werden können. Plebiszite, bei denen die Auslösungskompetenz (mit Blick auf terminliche wie inhaltliche Belange) bei Regierungen und parlamentarischen Mehrheiten liegt, erscheinen dagegen eher als Machtinstrument in den Händen von Regierungsmehrheiten, wenn auch der Ausgang von Plebisziten ungewiss bleibt.
Aufgaben einer demokratiewissenschaftlichen Leadership-Forschung
Herrschaftskritische Ansätze der Leadership-Forschung sehen sich in Zeiten erhöhten Problemlösungsbedarfs mit dem Vorwurf konfrontiert, sich mit "Luxusargumenten" gegen die notwendige Steigerung von Effektivität und Effizienz politischer Führung zu stellen. Solche Vorbehalte sind nicht gerechtfertigt. Für politische Führung in der Demokratie darf das Streben nach maximaler gesellschaftlicher Anerkennungswürdigkeit nicht lediglich als wünschenswerte Zusatzleistung betrachtet werden.
Ebenso wenig genügt es, sich bei der Formulierung von Standards "guter politischer Führung" allein auf die "output"-bezogene Dimension der politischen Legitimation von "leadership" zu konzentrieren. Zu den Aufgaben der praxisbezogenen Leadership-Forschung gehört neben der gezielten Suche nach technischen oder strategischen Optimierungspotentialen politischer Führung auch die Beteiligung an Diskussionen über Felder übergreifende Entwürfe für die Demokratie der Zukunft.
In der jüngeren Vergangenheit haben vor allem Konzepte "deliberativer Demokratie" von sich Reden gemacht. Deliberation steht im demokratischen Prozess zwischen der öffentlichen Meinungsbildung und dem Regierungshandeln, wurde aber gleichwohl gelegentlich gezielt auf seine Qualitäten als "neuer Regierungsstil" befragt.
Mit dem Selbstverständnis einer Teildisziplin der Demokratiewissenschaft ausgestattet, darf sich die Leadership-Forschung nicht darauf beschränken, nach Möglichkeiten der Demokratisierung von "leadership" im Kontext konsolidierter liberaler Demokratien zu fragen.