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Obamas (versuchte) Gesundheitsreform | USA | bpb.de

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Obamas (versuchte) Gesundheitsreform

Christian Lammert

/ 15 Minuten zu lesen

Nach monatelangem Streit ist ein Beschluss der umstrittenen Gesundheitsreform inzwischen in greifbare Nähe gerückt. Obamas künftiger Handlungsspielraum hängt auch wesentlich vom Erfolg dieser Reform ab.

Einleitung

US-Präsident Barack Obama sagte in einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses am 9. September 2009: "Ich bin nicht der erste US-Präsident, der sich dem Problem der Reform der Krankenversicherung annimmt, aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein." Aus dieser Bemerkung wird nicht nur das historische Ausmaß der Reforminitiative im Gesundheitsbereich deutlich, sondern auch das Engagement und der Optimismus, mit dem Obama hinter seinem Vorschlag steht. Schon im Wahlkampf zwischen ihm und seinem republikanischen Konkurrenten John McCain stand die Reform des Krankenversicherungssystems ganz oben auf der politischen Prioritätenliste. Und trotz der massiven Wirtschaftskrise, den Kriegen im Irak und in Afghanistan und der daraus resultierenden desolaten Lage der öffentlichen Haushalte in den USA hat sich der 44. US-Präsident bereits in seinem ersten Amtsjahr an das umfassende Reformprojekt gesetzt, auch wissend, dass die Handlungsmacht eines Präsidenten im ersten Jahr am größten ist.



Obwohl das bestehende System von allen Seiten als zu teuer und ineffizient kritisiert wird, besteht keine Einigkeit über die notwendigen Schritte zur Reform des Systems. Verschärft wird die Situation durch die bestehende starke Polarisierung parteipolitischer Positionen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei, und die Kongresswahlen 2010 werfen bereits ihren Schatten voraus: Die momentan im Kongress als Minderheitenpartei agierenden Republikaner können es sich kaum erlauben, Obama und der Demokratischen Partei einen innenpolitischen Reformerfolg solchen Ausmaßes zuzugestehen. So spricht der republikanische Senator Jim DeMint sicher im Sinne seiner Partei, wenn er sagt: "Wenn wir in der Lage sind, Obama in dieser Sache zu stoppen, dann wird dies sein Waterloo. Daran wird er zerbrechen." Darüber hinaus versuchen auch mächtige Interessengruppen der Pharmaindustrie, der Ärztevertretungen und der Unternehmerverbände ihren Einfluss auf die Reform geltend zu machen. Auch wenn insgesamt der Widerstand dieser Interessengruppen in den USA gegen eine Änderung des Gesundheitssystems geringer geworden ist, so werden zentrale Elemente wie beispielsweise die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung doch von den meisten der genannten Interessengruppen abgelehnt.

Um den Reformprozess und die Pläne Obamas besser einordnen zu können, soll im Folgenden zuerst auf die akuten Probleme des Krankenversicherungssystems in den Vereinigten Staaten eingegangen werden. Auf dieser Grundlage sollen dann in einem zweiten Schritt die Reformüberlegungen der Obama-Administration vorgestellt werden, um anschließend den Fortgang des Reformprozesses im Kongress und die Diskussionen und Debatten in der Öffentlichkeit genauer zu betrachten.

Marodes und teures Krankenversicherungssystem

Insbesondere aus deutscher Perspektive wird immer wieder der defizitäre Charakter des US-amerikanischen Krankenversicherungsbereichs kritisiert. Als zentraler Indikator hierfür werden die 46,8 Millionen US-Bürgerinnen und -Bürger angeführt, die 2008 im Krankheitsfall über keinen Versicherungsschutz verfügten. Die hohe Zahl der Nicht-Versicherten lässt sich aus der Struktur des amerikanischen Krankenversicherungssystems erklären, in dem zum einen keine allgemeine Versicherungspflicht besteht und zum anderen der öffentliche Anteil am Versicherungsschutz im internationalen Vergleich nicht sehr ausgeprägt ist. Lediglich Rentner (Medicare) und Sozialhilfeempfänger (Medicaid) sind durch eine staatliche Versicherung gegen das Risiko einer Krankheit abgesichert, alle anderen müssen sich privat versichern, was zum Großteil über den Arbeitsplatz und den Arbeitgeber geschieht. Im Jahr 2008 waren etwa 62 Prozent der US-Bürger über ihren Arbeitsplatz krankenversichert, 6,5 Prozent konnten sich direkt eine sehr teure private Krankenversicherung leisten, knapp 20 Prozent waren öffentlich über die Programme Medicare und Medicaid abgesichert und über 17 Prozent verfügten über keine Krankenversicherung. Die Versicherung über den Arbeitsplatz ist damit die zentrale Säule der Krankenversicherung in den USA. Aber auch hier ist der Trend rückläufig: Während der Amtszeit von George W. Bush (2000-2008) ist die Zahl der US-Bürger, die über ihren Arbeitsplatz versichert waren, um über 3 Millionen zurückgegangen.

Ein zentrales Problem des Krankenversicherungssystems spiegelt sich in diesen Zahlen noch gar nicht wider: das der Unterversicherung. Als solche gelten US-Bürger, die im Falle einer medizinischen Behandlung trotz einer Krankenversicherung noch mehr als 10 Prozent ihres monatlichen Einkommens aus der privaten Tasche bezahlen müssen. Dieser Anteil ist in den USA seit dem Jahr 2000 von 15,6 Millionen auf über 25 Millionen Versicherte im Jahr 2007 angestiegen. Die hohen privaten Zuzahlungen resultieren daraus, dass die privaten Versicherungen zahlreiche Behandlungen bzw. Medikamente nicht erstatten, bzw. Vorerkrankungen (pre-existing medical conditions) durch die Krankenversicherung nicht abgedeckt sind. Immer mehr US-Bürger sagen, dass sie Probleme damit hätten, ihre medizinischen Rechnungen zu begleichen, sie müssten Schulden machen, um sie zu bezahlen, und oftmals werden notwendige medizinische Behandlungen aus Kostengründen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.

Dadurch, dass trotz abnehmender Absicherung in Krankheitsfällen die Kosten im US-Gesundheitssektor seit den 1980er Jahren geradezu explosionsartig angestiegen sind, hat sich der Handlungsdruck zusätzlich erhöht. In den vergangenen 30 Jahren gaben die USA pro Kopf deutlich mehr Geld für Gesundheit aus, als alle anderen OECD-Staaten (OECD = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). 2007 haben die USA rund 7290 US-Dollar pro US-Bürger im Gesundheitssektor ausgeben, im Jahr 2000 waren es noch 4705 US-Dollar. In Deutschland lagen die Pro-Kopf-Kosten im Jahr 2007 lediglich bei 3588 US-Dollar. Für 2009 werden die Gesundheitsausgaben in den USA Prognosen zufolge die 2,5 Billionen-Dollar-Grenze überschreiten, das wären dann rund 17,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Ohne eine Reform könnten die Kosten bis zum Jahr 2018 sogar auf 4,4 Billionen US-Dollar ansteigen. Die Kostenentwicklung spiegelt sich auch in den Versicherungsprämien wider, die für die Krankenversicherungen bezahlt werden müssen, die über den Arbeitsplatz angeboten werden. In den vergangenen zehn Jahren sind diese Versicherungsprämien um 131 Prozent gewachsen. Der Anteil, den der Arbeitnehmer zu bezahlen hat, ist in diesem Zeitraum im Schnitt von 1543 auf 3515 US-Dollar angestiegen. Diese Steigerung ist damit um das Vierfache höher als die Inflationsrate und die Lohnentwicklung im selben Zeitraum. Im Durchschnitt haben Familien im Jahr 2000 für einen beschäftigungsbezogenen Versicherungsplan rund 12 Prozent ihres Haushaltseinkommens ausgeben müssen. Dieser Anteil ist bereits auf 18 Prozent angestiegen, und ohne Reform und drastische Kostensenkung könnte er bis zum Jahr 2020 auf rund 25 Prozent steigen. Addiert man hier noch die sehr hohen privaten Zuzahlungen, welche die Versicherten trotz Versicherungsschutzes zu leisten haben, verwundert es kaum, dass mehr als 60 Prozent privater Haushaltsinsolvenzen in den USA auf die hohen Kosten medizinischer Versorgung zurückgeführt werden können. Insbesondere die Mittelklasse ist hiervon betroffen: Zwei Drittel der betroffenen Haushalte waren Hausbesitzer und mehr als die Hälfte besaß einen Hochschulabschluss.

Nicht- und Unterversicherung sowie die Kostenexplosion im Gesundheitssektor haben einen Reformdruck erzeugt, der es der Obama-Administration in relativ kurzer Zeit ermöglichte, einen weitreichenden Reformprozess in Gang zu setzen. Der Erfolg (bzw. Misserfolg) bemisst sich jetzt in erster Linie an der Reichweite der Reform und an einigen zentralen Elementen, für die sich Obama besonders stark ausgesprochen hat. Der Ausgang des Prozesses ist zudem extrem wichtig für Obamas politischen Handlungsspielraum während der restlichen drei Jahre seiner ersten Amtszeit.

Obamas Reformkonzept

Bill Clinton war Mitte der 1990er Jahre der bislang letzte Präsident, der sich an einer umfassenden Reform des Krankenversicherungssystems versucht hatte und dabei grandios scheiterte. Die "Washington Post" sieht folgerichtig in Obamas Strategie zur Durchsetzung der Gesundheitsreform ein zentrales Prinzip: "Was immer Präsident Clinton bei seiner versuchten Gesundheitsreform 1993/94 gemacht hat, tue genau das Gegenteil." Während die Clinton-Administration die Reformgesetzgebung damals in erster Linie im Weißen Haus ausarbeitete, überlässt Obama diese Arbeit ausschließlich dem Kongress. Versuchte sich Clinton damals noch an einer umfassenden Rekonstruktion des gesamten Gesundheitssektors, so bemüht sich Obama um die Erhaltung zentraler Strukturmerkmale des Gesundheitssystems und versucht die Unterstützung wichtiger industrieller Interessengruppen zu gewinnen.

Der Reformrahmen und die damit verbundenen Zielsetzungen der Obama-Administration orientieren sich an den Erfahrungen früherer Reformversuche und an den Einstellungen in der US-Bevölkerung, insbesondere dem Misstrauen jener Bevölkerungsteile, die über eine Absicherung im Krankheitsfall verfügen und Angst davor haben, dass eine Reform die Kosten für ihre Versicherung in die Höhe treiben könnte. Obama betont aus diesem Grund immer wieder Stabilität und Sicherheit für diejenigen, die bereits eine Krankenversicherung haben. Hier soll die Reform Verbesserungen im Versicherungsschutz bieten, indem medizinische Vorerkrankungen nicht mehr dazu führen sollen, dass Versicherungen einen Patienten nicht versichern (Dies ist bislang gängige Praxis bei den privaten Versicherungsunternehmen in den USA). Außerdem soll eine Obergrenze für die Selbstbeteiligung eingeführt werden, um den finanziellen Ruin im Krankheitsfall zu vermeiden. Des Weiteren soll es Versicherungsgesellschaften untersagt werden, die Leistungen zu kürzen, wenn Menschen erkrankt sind. Zudem soll der Bereich der Präventionsmedizin ausgebaut und in den Leistungskatalog der Krankenversicherung integriert werden.

In der Öffentlichkeit und auch im Kongress werden allerdings insbesondere die Vorschläge Obamas heftig diskutiert, die das Ziel haben, die Anzahl der Nicht-Versicherten zu senken und zugleich die Kosten im System zu reduzieren. Obama sieht vor, einen neuen regulierten Markt für Versicherungen (exchange) zu schaffen, auf dem die Bürger, die über keinen Versicherungsschutz verfügen, und kleine Unternehmen zu moderaten Preisen einen Krankenversicherungsplan abschließen können. Zusätzlich sollen durch Steuerkredite Anreize für kleine Unternehmen gesetzt werden, ihren Angestellten eine Versicherung anzubieten. Teil des neu geschaffenen Versicherungsmarktes soll auch ein staatlicher Krankenversicherungsplan sein (public option), der zum einen den Wettbewerb stärken soll, aber zum anderen auch denjenigen die Möglichkeit eines Versicherungsschutzes bieten soll, die sich private Versicherungen nicht leisten können. Konkreter wurde Obama mit seinen Reformvorstellungen in der Öffentlichkeit nicht und er formulierte auch zur Finanzierung des Reformprojektes nur vage Vorgaben, wonach die Reform nicht mehr als 900 Milliarden US-Dollar kosten solle und eine Gegenfinanzierung vorgelegt werden müsse, so dass keine zusätzlichen Kosten auf den amerikanischen Haushalt zukämen.

Die Reform im Kongress und in der Öffentlichkeit

Barack Obama hat seine Präsidentschaft mit dem Versprechen begonnen, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden und das Vertrauen der US-Bürger in den politischen Prozess und in die Politik Washingtons wiederherzustellen. Bereits sein erstes umfassendes Reformprojekt zeigt, welche Bürde der Präsident sich mit diesem Vorhaben selbst auferlegt hat. Obama ist mit einem großen Vertrauensvorschuss seitens der Bevölkerung in sein Amt gegangen. Im Februar lagen die Zustimmungsraten für seine Amtsführung noch bei 70 Prozent, im November 2009 waren nur noch 50 Prozent der US-Bürger mit seiner Arbeit zufrieden, 42 Prozent äußerten sich sogar explizit unzufrieden mit seiner Amtsführung. Offenbar hat Obama in relativ kurzer Zeit viel an politischem Kapital verspielt. Das spiegelt sich auch in der Einstellung der Bevölkerung zur Gesundheitsreform wider. Aus den Umfragen lässt sich kein eindeutiges Mandat für eine Reform ablesen. Die Bevölkerung zeigt sich gespalten bei der Frage, ob die Reform zu einer Verbesserung oder Verschlechterung im Gesundheitssektor führen würde, und eine deutliche Mehrheit befürchtet durch sie sogar eine Verschlechterung der persönlichen Versicherungssituation. Es verwundert also nicht, dass sich in einer Umfrage vom November 2009 49 Prozent der Befragten gegen eine Reform aussprachen und nur 44 Prozent dafür.

Präsident Obama versucht sich hier also an einer Reform, über deren Notwendigkeit in der Öffentlichkeit kein Konsens besteht. Insgesamt äußern sich die Amerikaner sogar zufrieden mit dem existierenden Krankenversicherungssystem. Im November 2009 erklärten 38 Prozent der befragten US-Bürger, die Abdeckung der Krankenversicherung in den USA sei gut bzw. exzellent - der höchste Wert seit über neun Jahren. Einziger Trost für Obama: Im Reformprozess vertraut ihm die Bevölkerung mehr als dem Kongress und insbesondere den Republikanern.

In der politischen Auseinandersetzung mit dem Kongress und insbesondere der Opposition der Republikaner kann sich die Obama-Administration also nur bedingt auf die Unterstützung der Öffentlichkeit beziehen. Allerdings verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress durch die Wahlen im November 2008 so zugunsten der Demokraten, dass sich damit die Erwartung verband, der Reformprozess würde zügig und weitgehend innerhalb des von Obama festgelegten Reformrahmens verlaufen. Diesem Optimismus folgend, hoffte Obama darauf, noch im Sommer 2009 ein Reformgesetz unterzeichnen zu können. Doch der geschlossene Widerstand der Republikaner und die Uneinigkeit der Demokraten im Kongress haben den Prozess verlangsamt und geschwächt. In beiden Kammern des Kongresses, Senat und Repräsentantenhaus, konnten erst im November 2009 wichtige Hürden genommen werden. Das Repräsentantenhaus verabschiedete einen gemeinsamen Gesetzentwurf mit einer - gemessen an der deutlichen Mehrheit der Demokraten von 257 der insgesamt 435 Sitze - doch recht knappen Mehrheit von 220 zu 215 Stimmen. Aus den Reihen der Demokraten stimmten 39 Abgeordnete gegen den Entwurf. Die Abweichler aus der Demokratischen Fraktion gehörten fast ausschließlich zu den sogenannten Blue Dog Democrats, ein Zusammenschluss fiskal-konservativer Demokraten, die insbesondere Vorbehalte gegenüber den hohen Kosten einer umfassenden Gesundheitsreform haben. Die meisten dieser Abgeordneten kommen zudem aus Wahlbezirken, die eher konservativ ausgerichtet sind und in denen bei der Präsidentschaftswahl mehrheitlich für den republikanischen Kandidaten John McCain gestimmt wurde. Bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Unterstützung der Reforminitiative Obamas spielten also auch die Wiederwahlinteressen der einzelnen Abgeordneten bei den Kongresswahlen im November 2010 eine große Rolle.

Der Gesetzentwurf des Repräsentantenhauses sieht vor, dass rund 96 Prozent der US-Bürger unter 65 Jahren eine Krankenversicherung erhalten sollen. Damit blieben rund 18 Millionen US-Bürger weiterhin ohne Versicherung, ein Drittel davon illegale Immigranten, die von der Versicherung ausgenommen werden sollen. Das Congressional Budget Office bezifferte die Kosten einer solchen Reform auf 1,05 Billionen US-Dollar, durch die geplante Gegenfinanzierung würde die Reform aber über die nächsten zehn Jahre das Haushaltsdefizit um 109 Milliarden US-Dollar verringern. Finanziert werden soll die Reform in erster Linie durch eine sogenannte Reichensteuer, die bei einem Einkommen von über 500 000 US-Dollar für Alleinstehende und eine Million US-Dollar für Verheiratete gezahlt werden muss. Zusätzlich sollen die Kosten der öffentlichen Krankenversicherungen Medicare und Medicaid um rund 400 Milliarden US-Dollar reduziert werden. Hinzu kommen verschiedene kleinere Gebühren und Sonderabgaben. Der Gesetzentwurf sieht eine Versicherungspflicht für US-Bürger vor: Wer sich nicht versichert, muss ein Strafe zahlen. Auch Arbeitgeber sind verpflichtet, ihren Angestellten einen Versicherungsplan anzubieten, auch hier sind Strafen bei Nicht-Befolgung vorgesehen. Als zentrales Element der Kostenkontrolle sieht der Entwurf die Schaffung eines staatlichen Versicherungsprogramms in einem neu geschaffenen und regulierten Versicherungsmarkt vor. Die Bundesstaaten können eigene Versicherungsmärkte einführen, solange diese nach den bundesweiten Regeln ausgestaltet sind.

In der zweiten Kammer des Kongresses, dem Senat, stößt die Reform auf größeren Widerstand, weil hier die prozeduralen Regeln der Gesetzgebung weit schwieriger sind und der Senat insgesamt als konservativer gilt. Auch hier haben die Demokraten eine deutliche Mehrheit. Ihrer Fraktion gehören 60 von insgesamt 100 Senatoren an, 58 Demokraten und zwei Unabhängige. Die Zahl 60 ist hier besonders hervorzuheben, da dies genau die notwendige Mehrheit ist, um einen sogenannten Filibuster zu beenden. Unter einem Filibuster versteht man - vereinfacht gesagt - die Möglichkeit der Senatsminderheit, durch Dauerreden die Beschlussfassung durch die Mehrheit zu verhindern. Die Demokraten haben im Senat also trotz der deutlichen Mehrheit gerade ausreichend Senatoren, um ein Gesetz gegen die Republikaner durchzubringen. Sie dürfen dabei aber keinen ihrer Senatoren verlieren. Da die Senatoren in den USA im Gegensatz zu den deutschen Bundestagsabgeordneten weit weniger an ihre Fraktion gebunden sind, ist dies eine äußerst dünne Mehrheit, wie sich im Reformprozess gezeigt hat.

Zwei Wochen nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Repräsentantenhaus hat der Senat mit exakt diesen notwendigen 60 Stimmen beschlossen, einen von den Demokraten ausgearbeiteten Gesetzentwurf zu debattieren. Dabei haben aber mehrere demokratische Senatoren gleich deutlich gemacht, dass ihre Zustimmung in dieser primär prozeduralen Abstimmung nicht bedeute, dass sie dem zu debattierenden Gesetzentwurf zustimmen würden. Ganz im Gegenteil: Insbesondere der unabhängige Senator Joe Lieberman betonte immer wieder, dass er keinem Gesetzentwurf zustimmen würde, der eine staatliche Krankenversicherung beinhalte.

Der Senatsentwurf unterscheidet sich insbesondere bei der staatlichen Krankenversicherung vom Entwurf des Repräsentantenhauses. Zwar ist auch hier eine public option in einem neu zu schaffenden Versicherungsmarkt enthalten, allerdings in einer sehr abgeschwächten Form, in der die Bundesstaaten ein opting-out-Recht haben, das heißt, sie können entscheiden, ob sie in ihrem Staat eine staatliche Krankenversicherung anbieten wollen oder nicht. In elf Bundesstaaten haben die Gesetzgeber schon die notwendigen legislativen Maßnahmen auf den Weg gebracht, um Teile der Gesundheitsreform in ihren Staaten zu blockieren. Neben einer public option ist im Senatsentwurf alternativ die Einsetzung von sogenannten Gesundheitskooperativen vorgesehen, die keinen Eigengewinn anstreben und in einen Wettbewerb mit den privaten Anbietern treten sollen. Eine Versicherungspflicht ist ebenfalls vorgesehen - so sollen in etwa 94 Prozent der US-Bürger eine Krankenversicherung erhalten. Ausgeschlossen sind auch hier die illegalen Immigranten. Mit 848 Milliarden US-Dollar werden im Entwurf des Senats deutlich weniger Kosten für die Reform veranschlagt als im Entwurf des Repräsentantenhauses. Diese sollen finanziert werden durch eine neue Steuer auf high-premium-Versicherungspläne, Kürzungen bei Medicare und Medicaid und zusätzliche Abgaben für Versicherungsgesellschaften und Pharmaunternehmen.

Anfang Dezember 2009 deutete sich an, dass der Gesetzentwurf in dieser Form nicht die notwendige Mehrheit im Senat erreichen wÜrde. Insbesondere die EinfÜhrung einer staatlichen Krankenversicherung stieß auf erheblichen Widerstand. An Heiligabend einigte sich der Senat dann auf einen gemeinsamen Entwurf ohne public option. Dieser sieht eine allgemeine Versicherungspflicht vor. Zudem hätten etwa 15 Millionen Menschen zusätzlich Anspruch auf Medicare, die Krankenversicherung für Bedürftige. Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen sollen finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten, um sich privat zu versichern. Die Kosten dafür belaufen sich nach Berechnungen des Congressional Budget Office (CBO) auf 871 Milliarden Dollar Über die nächsten zehn Jahre. Insgesamt würden durch die Reform etwa 31 Millionen mehr Bürger einen Versicherungsschutz erhalten.

Die beiden Kongresskammern müssen nun in einem Vermittlungsverfahren ihre Entwürfe zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf zusammenfassen. Mehrere Konfliktpunkte zeichnen sich bereits ab: An erster Stelle ist dabei die staatliche Krankenversicherung zu nennen, die im Entwurf des Repräsentantenhauses noch enthalten ist. Auch die Finanzierung der Reform ist noch umstritten. Zudem wird die Debatte von einem Konflikt um Finanzierungsmöglichkeiten von Abtreibungen überlagert.

Fazit und Ausblick

Die Gesundheitsreform ist das zentrale Reformprojekt in Obamas erstem Amtsjahr. Mit der Einigung im Senat ist ein Erfolg in greifbare NÄhe gerÜckt. WÜrde sie jetzt noch am Widerstand progressiver Demokraten scheitern, so wÄre dies ein Desaster fÜr Obama und seine gesamte Partei, gerade mit Blick auf die Zwischenwahlen im November 2010. Eines hat der Reformprozess jedoch schon gezeigt: Sein Ziel, die tiefe parteipolitische Polarisierung in den USA zu Überwinden, hat Obama nicht erreicht. Dies wird auch Einfluss auf seinen Handlungsspielraum nach den Zwischenwahlen haben: Verlieren die Demokraten dort auch nur einen Senatssitz an die Republikaner, kÖnnen diese alle Gesetzesinitiativen blockieren. Obama wird die Gesundheitsreform also mit einem weinenden und einem lachenden Auge sehen: Trotz des mÖglichen Erfolges hat sie zugleich den begrenzten politischen Spielraum seiner Administration verdeutlicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Video und Transkript der Rede online: www.white house.gov/issues/health-care (20. 10. 2009).

  2. Zit. nach: Mort Kondracke, GOP Has Health Care Ideas But Prefers Attacks on Obama, 13. 8. 2009, in: www.realclearpolitics.com/articles/2009/08/13/gop_has _health_care_ideas_but_prefers_ attacks_ on_ obama__ 97880.html (18. 11. 2009).

  3. Vgl. US Census Bureau, Income, Poverty, and Health Care Insurance Coverage in the United States: 2008, Washington, DC 2009, online: www.census.gov/prod/2009pubs/p60 - 236.pdf S. 20. (12. 11. 2009).

  4. Vgl. Elise Gould, Employer-Sponsored Health Care Insurance Erosion Continues (Economic Policy Institute Briefing Paper Nr. 247), Washington, DC 2009, S. 3.

  5. Vgl. ebd. S. 19.

  6. Sara R. Collins u.a., Losing Ground: How the Loss of Adequate Health Insurance is Burdening Working Families, New York 2009, online: www.common wealthfund.org/~/media/Files/Surveys/2007/2007 CommonwealthFundBiennialHealthInsuranceSurvey/ SurveyPg_Collins_losing_ground_biennial_survey_ 200 pdf.pdf (3. 12. 2009).

  7. Vgl. ebd.

  8. Vgl. OECD Health Data 2009: Statistics and Indicators for 30 Countries, Paris 2009.

  9. Andrea Sisko u.a., Health Spending Projections through 2018. Recession Effects Add Uncertainty to the Outlook, in: Health Affairs, 28 (2009) 2, S. 346 - 357.

  10. Vgl. The Henry J. Kaiser Family Foundation u.a., Employer Health Benefits. 2009 Annual Survey, Menlo Park-Chicago 2009.

  11. Vgl. Karen Davis, Why Health Reform Must Counter the Rising Costs of Health Insurance Premiums, 18. 8. 2009, in: www.commonwealthfund.org/ ~/media/Files/Publications/Blog/Davis_Blog_August _ 09_ rev.pdf, S. 2 (3. 12. 2009).

  12. Vgl. David E, Himmelstein u.a., Medical Bankruptcy in the United States, 2007: Results of a National Study, in: American Journal of Medicine, 122 (2009) 8, S. 741 - 746, S. 743.

  13. Ezra Klein, The Ghosts of Clintoncare, in: The Washington Post vom 26. 7. 2009, online: www.wa shingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2009/07/ 24/ AR2009072401876.html (3. 12. 2009).

  14. Vgl. zur Reform 1993/94: Jacob S. Hacker, The Road to Nowhere. The Genesis of President Clinton's Plan for Health Security, Princeton 1997.

  15. Am pointiertesten findet sich der Reformrahmen in der Rede Obamas vor den beiden Kammern des Kongresses am 9. September 2009 (Anm. 1).

  16. Vgl. Gallup Daily, Obama Job Approval Rates, in: www.gallup.com/poll/113980/Gallup-Daily-Obama- Job-Approval.aspx (19. 11. 2009).

  17. Vgl. Frank Newport, No Clear Mandate From Americans on Health care Reform, 9. 11. 2009, online: www.gallup.com/poll/124202/No-Clear-Mandate- Americans-Healthcare-Reform.aspx (19. 11. 2009).

  18. Vgl. Jeffrey M. Jones, Americans Still Leaning against Health Care Reform, 30. 11. 2009, online: www.gallup.com/poll/124496/Americans-Leaning- Against-Healthcare-Legislation.aspx (30.11. 2009).

  19. Vgl. ders., Greater Optimism About U.S. Health System Coverage, Costs, 19. 11. 2009, online: www.gall up.com/poll/124415/Greater-Optimism-U.S.-Health- System-Coverage-Costs.aspx (19. 11. 2009).

  20. Vgl. Lydia Saad, On Healthcare, Americans Trust Obama More Than Congress, 28. 10. 2009, online: www.gallup.com/poll/123917/On-Healthcare-Ameri cans-Trust-Obama-More-Than-Congress.aspx (19. 11. 2009).

  21. Vgl. House of Representatives, Affordable Health Care for America Act, 29. 10. 2009, online: http://docs.house.gov/rules/health/111_ ahcaa.pdf (3. 12. 2009).

  22. Vgl. Ezra Klein, Liebermann will filibuster health care reform, in: The Washington Post vom 9. 11.2009, online: http://voices.washingtonpost.com/ezra-klein/2009/11/lieberman_will_filibuster_heal.html (30.11. 2009).

  23. Vgl. U.S. Senate, Affordable Health Choices Act, online: http://help.senate.gov/BAI09A84_xml.pdf. (3. 12. 2009).

  24. Vgl. Kevin Sack, "Opt-Out" Proposal Puts State Leaders to the Test, in: The New York Times vom 10.11.2009, online: www.nytimes.com/2009/11/11/health/policy/ 11optout.html (3. 12. 2009).

  25. Vgl. Robert Pear, Senate Passes Health Care Overhaul On Party-Line Vote, in: The New York Times vom 25. 12. 2009, online: www.nytimes.com/2009/12/25/health/policy/25health.html (5. 1. 2010).

Dr. phil., geb. 1969; "Research Associate" am Zentrum für Nordamerika-Forschung (ZENAF) der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Gastprofessor für die Politik Nordamerikas am John F. Kennedy-Institut der Freien Universität Berlin, Lansstraße 7-9, 14195 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: clammert@zedat.fu-berlin.de