Einleitung
US-Präsident Barack Obama sagte in einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses am 9. September 2009: "Ich bin nicht der erste US-Präsident, der sich dem Problem der Reform der Krankenversicherung annimmt, aber ich bin entschlossen, der letzte zu sein."
Obwohl das bestehende System von allen Seiten als zu teuer und ineffizient kritisiert wird, besteht keine Einigkeit über die notwendigen Schritte zur Reform des Systems. Verschärft wird die Situation durch die bestehende starke Polarisierung parteipolitischer Positionen zwischen der Demokratischen und der Republikanischen Partei, und die Kongresswahlen 2010 werfen bereits ihren Schatten voraus: Die momentan im Kongress als Minderheitenpartei agierenden Republikaner können es sich kaum erlauben, Obama und der Demokratischen Partei einen innenpolitischen Reformerfolg solchen Ausmaßes zuzugestehen. So spricht der republikanische Senator Jim DeMint sicher im Sinne seiner Partei, wenn er sagt: "Wenn wir in der Lage sind, Obama in dieser Sache zu stoppen, dann wird dies sein Waterloo. Daran wird er zerbrechen."
Um den Reformprozess und die Pläne Obamas besser einordnen zu können, soll im Folgenden zuerst auf die akuten Probleme des Krankenversicherungssystems in den Vereinigten Staaten eingegangen werden. Auf dieser Grundlage sollen dann in einem zweiten Schritt die Reformüberlegungen der Obama-Administration vorgestellt werden, um anschließend den Fortgang des Reformprozesses im Kongress und die Diskussionen und Debatten in der Öffentlichkeit genauer zu betrachten.
Marodes und teures Krankenversicherungssystem
Insbesondere aus deutscher Perspektive wird immer wieder der defizitäre Charakter des US-amerikanischen Krankenversicherungsbereichs kritisiert. Als zentraler Indikator hierfür werden die 46,8 Millionen US-Bürgerinnen und -Bürger angeführt, die 2008 im Krankheitsfall über keinen Versicherungsschutz verfügten.
Ein zentrales Problem des Krankenversicherungssystems spiegelt sich in diesen Zahlen noch gar nicht wider: das der Unterversicherung. Als solche gelten US-Bürger, die im Falle einer medizinischen Behandlung trotz einer Krankenversicherung noch mehr als 10 Prozent ihres monatlichen Einkommens aus der privaten Tasche bezahlen müssen. Dieser Anteil ist in den USA seit dem Jahr 2000 von 15,6 Millionen auf über 25 Millionen Versicherte im Jahr 2007 angestiegen.
Dadurch, dass trotz abnehmender Absicherung in Krankheitsfällen die Kosten im US-Gesundheitssektor seit den 1980er Jahren geradezu explosionsartig angestiegen sind, hat sich der Handlungsdruck zusätzlich erhöht. In den vergangenen 30 Jahren gaben die USA pro Kopf deutlich mehr Geld für Gesundheit aus, als alle anderen OECD-Staaten (OECD = Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). 2007 haben die USA rund 7290 US-Dollar pro US-Bürger im Gesundheitssektor ausgeben, im Jahr 2000 waren es noch 4705 US-Dollar. In Deutschland lagen die Pro-Kopf-Kosten im Jahr 2007 lediglich bei 3588 US-Dollar.
Nicht- und Unterversicherung sowie die Kostenexplosion im Gesundheitssektor haben einen Reformdruck erzeugt, der es der Obama-Administration in relativ kurzer Zeit ermöglichte, einen weitreichenden Reformprozess in Gang zu setzen. Der Erfolg (bzw. Misserfolg) bemisst sich jetzt in erster Linie an der Reichweite der Reform und an einigen zentralen Elementen, für die sich Obama besonders stark ausgesprochen hat. Der Ausgang des Prozesses ist zudem extrem wichtig für Obamas politischen Handlungsspielraum während der restlichen drei Jahre seiner ersten Amtszeit.
Obamas Reformkonzept
Bill Clinton war Mitte der 1990er Jahre der bislang letzte Präsident, der sich an einer umfassenden Reform des Krankenversicherungssystems versucht hatte und dabei grandios scheiterte. Die "Washington Post" sieht folgerichtig in Obamas Strategie zur Durchsetzung der Gesundheitsreform ein zentrales Prinzip: "Was immer Präsident Clinton bei seiner versuchten Gesundheitsreform 1993/94 gemacht hat, tue genau das Gegenteil."
Der Reformrahmen und die damit verbundenen Zielsetzungen der Obama-Administration
In der Öffentlichkeit und auch im Kongress werden allerdings insbesondere die Vorschläge Obamas heftig diskutiert, die das Ziel haben, die Anzahl der Nicht-Versicherten zu senken und zugleich die Kosten im System zu reduzieren. Obama sieht vor, einen neuen regulierten Markt für Versicherungen (exchange) zu schaffen, auf dem die Bürger, die über keinen Versicherungsschutz verfügen, und kleine Unternehmen zu moderaten Preisen einen Krankenversicherungsplan abschließen können. Zusätzlich sollen durch Steuerkredite Anreize für kleine Unternehmen gesetzt werden, ihren Angestellten eine Versicherung anzubieten. Teil des neu geschaffenen Versicherungsmarktes soll auch ein staatlicher Krankenversicherungsplan sein (public option), der zum einen den Wettbewerb stärken soll, aber zum anderen auch denjenigen die Möglichkeit eines Versicherungsschutzes bieten soll, die sich private Versicherungen nicht leisten können. Konkreter wurde Obama mit seinen Reformvorstellungen in der Öffentlichkeit nicht und er formulierte auch zur Finanzierung des Reformprojektes nur vage Vorgaben, wonach die Reform nicht mehr als 900 Milliarden US-Dollar kosten solle und eine Gegenfinanzierung vorgelegt werden müsse, so dass keine zusätzlichen Kosten auf den amerikanischen Haushalt zukämen.
Die Reform im Kongress und in der Öffentlichkeit
Barack Obama hat seine Präsidentschaft mit dem Versprechen begonnen, die tiefe Spaltung des Landes zu überwinden und das Vertrauen der US-Bürger in den politischen Prozess und in die Politik Washingtons wiederherzustellen. Bereits sein erstes umfassendes Reformprojekt zeigt, welche Bürde der Präsident sich mit diesem Vorhaben selbst auferlegt hat. Obama ist mit einem großen Vertrauensvorschuss seitens der Bevölkerung in sein Amt gegangen. Im Februar lagen die Zustimmungsraten für seine Amtsführung noch bei 70 Prozent, im November 2009 waren nur noch 50 Prozent der US-Bürger mit seiner Arbeit zufrieden, 42 Prozent äußerten sich sogar explizit unzufrieden mit seiner Amtsführung.
Präsident Obama versucht sich hier also an einer Reform, über deren Notwendigkeit in der Öffentlichkeit kein Konsens besteht. Insgesamt äußern sich die Amerikaner sogar zufrieden mit dem existierenden Krankenversicherungssystem. Im November 2009 erklärten 38 Prozent der befragten US-Bürger, die Abdeckung der Krankenversicherung in den USA sei gut bzw. exzellent - der höchste Wert seit über neun Jahren.
In der politischen Auseinandersetzung mit dem Kongress und insbesondere der Opposition der Republikaner kann sich die Obama-Administration also nur bedingt auf die Unterstützung der Öffentlichkeit beziehen. Allerdings verschoben sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress durch die Wahlen im November 2008 so zugunsten der Demokraten, dass sich damit die Erwartung verband, der Reformprozess würde zügig und weitgehend innerhalb des von Obama festgelegten Reformrahmens verlaufen. Diesem Optimismus folgend, hoffte Obama darauf, noch im Sommer 2009 ein Reformgesetz unterzeichnen zu können. Doch der geschlossene Widerstand der Republikaner und die Uneinigkeit der Demokraten im Kongress haben den Prozess verlangsamt und geschwächt. In beiden Kammern des Kongresses, Senat und Repräsentantenhaus, konnten erst im November 2009 wichtige Hürden genommen werden. Das Repräsentantenhaus verabschiedete einen gemeinsamen Gesetzentwurf mit einer - gemessen an der deutlichen Mehrheit der Demokraten von 257 der insgesamt 435 Sitze - doch recht knappen Mehrheit von 220 zu 215 Stimmen. Aus den Reihen der Demokraten stimmten 39 Abgeordnete gegen den Entwurf. Die Abweichler aus der Demokratischen Fraktion gehörten fast ausschließlich zu den sogenannten Blue Dog Democrats, ein Zusammenschluss fiskal-konservativer Demokraten, die insbesondere Vorbehalte gegenüber den hohen Kosten einer umfassenden Gesundheitsreform haben. Die meisten dieser Abgeordneten kommen zudem aus Wahlbezirken, die eher konservativ ausgerichtet sind und in denen bei der Präsidentschaftswahl mehrheitlich für den republikanischen Kandidaten John McCain gestimmt wurde. Bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Unterstützung der Reforminitiative Obamas spielten also auch die Wiederwahlinteressen der einzelnen Abgeordneten bei den Kongresswahlen im November 2010 eine große Rolle.
Der Gesetzentwurf des Repräsentantenhauses
In der zweiten Kammer des Kongresses, dem Senat, stößt die Reform auf größeren Widerstand, weil hier die prozeduralen Regeln der Gesetzgebung weit schwieriger sind und der Senat insgesamt als konservativer gilt. Auch hier haben die Demokraten eine deutliche Mehrheit. Ihrer Fraktion gehören 60 von insgesamt 100 Senatoren an, 58 Demokraten und zwei Unabhängige. Die Zahl 60 ist hier besonders hervorzuheben, da dies genau die notwendige Mehrheit ist, um einen sogenannten Filibuster zu beenden. Unter einem Filibuster versteht man - vereinfacht gesagt - die Möglichkeit der Senatsminderheit, durch Dauerreden die Beschlussfassung durch die Mehrheit zu verhindern. Die Demokraten haben im Senat also trotz der deutlichen Mehrheit gerade ausreichend Senatoren, um ein Gesetz gegen die Republikaner durchzubringen. Sie dürfen dabei aber keinen ihrer Senatoren verlieren. Da die Senatoren in den USA im Gegensatz zu den deutschen Bundestagsabgeordneten weit weniger an ihre Fraktion gebunden sind, ist dies eine äußerst dünne Mehrheit, wie sich im Reformprozess gezeigt hat.
Zwei Wochen nach der Verabschiedung des Gesetzentwurfs im Repräsentantenhaus hat der Senat mit exakt diesen notwendigen 60 Stimmen beschlossen, einen von den Demokraten ausgearbeiteten Gesetzentwurf zu debattieren. Dabei haben aber mehrere demokratische Senatoren gleich deutlich gemacht, dass ihre Zustimmung in dieser primär prozeduralen Abstimmung nicht bedeute, dass sie dem zu debattierenden Gesetzentwurf zustimmen würden. Ganz im Gegenteil: Insbesondere der unabhängige Senator Joe Lieberman betonte immer wieder, dass er keinem Gesetzentwurf zustimmen würde, der eine staatliche Krankenversicherung beinhalte.
Der Senatsentwurf
Anfang Dezember 2009 deutete sich an, dass der Gesetzentwurf in dieser Form nicht die notwendige Mehrheit im Senat erreichen wÜrde. Insbesondere die EinfÜhrung einer staatlichen Krankenversicherung stieß auf erheblichen Widerstand. An Heiligabend einigte sich der Senat dann auf einen gemeinsamen Entwurf ohne public option. Dieser sieht eine allgemeine Versicherungspflicht vor. Zudem hätten etwa 15 Millionen Menschen zusätzlich Anspruch auf Medicare, die Krankenversicherung für Bedürftige. Bürger mit niedrigen und mittleren Einkommen sollen finanzielle Unterstützung vom Staat erhalten, um sich privat zu versichern. Die Kosten dafür belaufen sich nach Berechnungen des Congressional Budget Office (CBO) auf 871 Milliarden Dollar Über die nächsten zehn Jahre.
Die beiden Kongresskammern müssen nun in einem Vermittlungsverfahren ihre Entwürfe zu einem gemeinsamen Gesetzentwurf zusammenfassen. Mehrere Konfliktpunkte zeichnen sich bereits ab: An erster Stelle ist dabei die staatliche Krankenversicherung zu nennen, die im Entwurf des Repräsentantenhauses noch enthalten ist. Auch die Finanzierung der Reform ist noch umstritten. Zudem wird die Debatte von einem Konflikt um Finanzierungsmöglichkeiten von Abtreibungen überlagert.
Fazit und Ausblick
Die Gesundheitsreform ist das zentrale Reformprojekt in Obamas erstem Amtsjahr. Mit der Einigung im Senat ist ein Erfolg in greifbare NÄhe gerÜckt. WÜrde sie jetzt noch am Widerstand progressiver Demokraten scheitern, so wÄre dies ein Desaster fÜr Obama und seine gesamte Partei, gerade mit Blick auf die Zwischenwahlen im November 2010. Eines hat der Reformprozess jedoch schon gezeigt: Sein Ziel, die tiefe parteipolitische Polarisierung in den USA zu Überwinden, hat Obama nicht erreicht. Dies wird auch Einfluss auf seinen Handlungsspielraum nach den Zwischenwahlen haben: Verlieren die Demokraten dort auch nur einen Senatssitz an die Republikaner, kÖnnen diese alle Gesetzesinitiativen blockieren. Obama wird die Gesundheitsreform also mit einem weinenden und einem lachenden Auge sehen: Trotz des mÖglichen Erfolges hat sie zugleich den begrenzten politischen Spielraum seiner Administration verdeutlicht.