Einleitung
Was für ein Projekt: Hunderte von Landwirtschaftsexpertinnen und -experten treffen sich vier Jahre lang, um Wissen, Kenntnisse und Erfahrungen aus der ganzen Welt zusammenzutragen und alle verfügbaren Daten zur Agrarkultur auszuwerten. Gemeinsam suchen sie nach einer Antwort auf die Frage: Wie soll die Welt in Zukunft ernährt werden? Welche Art von Landwirtschaft kann mehr als sieben Milliarden Menschen und mehr ernähren, ohne weitere ökologische Schäden anzurichten und die Bodenfruchtbarkeit zu zerstören? Wenn der Klimawandel die Ernten zerstört, wenn weniger landwirtschaftliche Nutzfläche für mehr Menschen zur Verfügung steht und in vielen Regionen das Wasser knapp wird? Wenn die neuen Mittelklassen der Schwellenländer den westlichen Ernährungsstil übernehmen und so viel Fleisch wie die Europäer und Nordamerikaner verzehren, was schon auf dem heutigen Niveau Umwelt und Klima über alle Maßen belastet?
Die Experten, die Antworten auf all diese Fragen gesucht haben, kommen aus allen Disziplinen und Branchen, die etwas zum Thema Landwirtschaft und Ernährung zu sagen haben. Unter ihnen sind Agrarwissenschaftler und Soziologen, Vertreter der Industrie, von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Verbraucherorganisationen und des traditionellen Wissens. Alle Perspektiven sollten berücksichtigt werden, von armen Ländern und von reichen, von Männern und Frauen, von Theoretikern und Praktikern. "Partizipative Wissenschaft" war das Ziel des Mammutprojekts Weltagrarbericht, der im englischen Original den sperrigen Namen International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology for Development, kurz IAASTD, trägt.
Sein Direktor Robert Watson war Chefwissenschaftler bei der Weltbank und zuständig für das Thema Nachhaltigkeit; er hat den Weltklimarat IPCC geleitet und dann den Weltagrarbericht auf den Weg gebracht. Der sollte ähnlich wie der Weltklimarat zu einer neuen, globalen Instanz für die globalen Ernährungsfragen werden. Denn Landwirtschaft ist in ihrer industrialisierten Variante längst ebenso globalisiert wie der Rest der Wirtschaft - und damit ebenso anfällig für Krisen. Der plötzliche Anstieg der Lebensmittelpreise im Jahr 2008 etwa, der Mais, Reis und Brot für viele in den Städten vor allem des Südens unbezahlbar machte und zahlreiche Hungerrevolten auslöste, hat die Verantwortlichen bis ins Mark erschüttert. Vielen wurde deutlich, dass Hunger zum Sicherheitsproblem werde könnte. Und dass sich schon allein deshalb etwas daran ändern muss an der Art und Weise, wie wir Landwirtschaft betreiben und vor allen Dingen, wie der Zugang zu Land, Wasser und Lebensmitteln in Zukunft organisiert wird.
61 Regierungen verabschiedeten den Weltagrarbericht - doch die Bundesregierung ist bisher nicht darunter. Kurz nach der Veröffentlichung 2008 wurde Ilse Aigner zur neuen Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ernannt, doch aus ihrem Ministerium kam kein Kommentar. Frustriert über das Schweigen der Bundesregierung entschied eine Gruppe von NGOs, die sich unter dem Namen "Freunde des IAASTD" zusammengeschlossen hatten, der Agrarministerin den Bericht öffentlich zu überreichen, auf der Grünen Woche in Berlin im Januar 2009. Ein Journalist fragte die Ministerin daraufhin nach ihrer Meinung. Lachend antwortete sie, der Bericht sei ihr doch gerade erst übergeben worden: "Insofern können Sie nicht erwarten, dass ich das alles schon gelesen habe. Aber ich habe es gerne entgegengenommen."
Aigner war kaum drei Monate im Amt, doch wenige Tage später eröffnete sie den 1. Berliner Agrarministergipfel, bei dem es um eben jenes Thema Welternährung ging.
Der Weltagrarbericht fordert, den Hunger nicht mit Nahrungsmittellieferungen von anderswo zu bekämpfen, sondern durch einen verbesserten Anbau direkt auf den Feldern der Kleinbauern. Denn sie - und nicht die großen Betriebe - sind das Rückgrat der Welternährung: Sie produzieren den größten Teil aller Lebensmittel - auf Höfen, die kleiner sind als zwei Fußballfelder. Die durchschnittliche Hofgröße in Asien liegt bei 1,6 Hektar, darüber staunten selbst Experten, die sich lange mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft auseinandergesetzt haben. Solche Höfe dürfen nicht mehr der direkten Konkurrenz von kapitalintensiven agrarindustriellen Betrieben ausgesetzt sein, die Arbeitskraft von Menschen und Tieren durch Maschinen, Kunstdünger und Pestizide ersetzen und die "seit Jahrzehnten politisch und wirtschaftlich so unterstützt wurden, dass sie in zunehmendem Maße von volumenbedingten Kosteneinsparungen durch Spezialisierung und zugleich von einer Externalisierung von sozialen und Umweltkosten profitieren konnten".
Kurz: Die Kleinbauern ernähren die Welt, ohne dabei die langfristigen Grundlagen der Agrarkultur zu zerstören. Sie brauchen Zugang zu Land und zu den regionalen Märkten. Und sie müssen vor unfairem und umweltschädlichem Wettbewerb der Agroindustrie geschützt werden. Denn der größte Teil der agrarindustriellen Betriebe wirtschaftet auf Kosten der Umwelt und der Zukunft. "Wenn wir darauf bestehen, weiter zu machen wie bisher, lässt sich die Bevölkerung der Welt in den nächsten 50 Jahren nicht mehr ernähren. Die Umweltzerstörung wird zunehmen, und die Kluft zwischen Reich und Arm wird größer werden", warnt Robert Watson.
Man kann das sehr lange ignorieren, weil die bedrohlichen Veränderungen zunächst unsichtbar sind: die Auswirkungen des Klimawandels, der schleichende Verlust der Bodenfruchtbarkeit und die schwindende Biodiversität. Die industrialisierte Landwirtschaft hat die Artenvielfalt so reduziert, dass genetische Armut droht. Nur fünfzehn Pflanzenarten liefern 90 Prozent der Energie für unsere Lebensmittel, aber diese Hochleistungspflanzen sind sehr anfällig, ebenso wie die Turbotiere in den Agrarfabriken.
Das System der agrarindustriellen Landwirtschaft ist auch deshalb gefährdet, weil es auf einem hohen Einsatz von Rohstoffen beruht, deren Verfügbarkeit bald zu Ende geht. "Wir haben ein Lebensmittelsystem, das sich bei einem Ölpreis von 15 Dollar pro Barrel entwickelt hat", sagt Paul Roberts, der in seinem Buch "The End of Food" den Kollaps der Agrarindustrie voraussagt: "Wenn der Preis auf 150 bis 200 steigt, haben wir ein Nachhaltigkeitsproblem. 40 Prozent der weltweit erzeugten Kalorien beruhen auf künstlich hergestelltem Stickstoff-Dünger. Die Vorstellung, dass dieser Dünger in den nächsten 50 Jahren vier und fünf und sechs Mal so teuer sein wird, ist atemberaubend."
Atemberaubend ist ein freundliches Wort für das, was Roberts beschreibt: Die Welternährungsindustrie ist von Inputs abhängig, die vor der Erschöpfung stehen: Öl, Wasser, Boden, Dünger. Hans Herren vom Millennium Institute in Arlington, Virginia, Ko-Präsident des Weltagrarberichts, bringt es so auf den Punkt: "Die industrialisierte Landwirtschaft ist bankrott, sie braucht mehr Energie, als sie produziert. Mit dem Auslaufen von fossiler Energie, der Basis für Kunstdünger und Agro-Chemikalien, wird sie in fünfzig bis hundert Jahren absterben."
Aber was ist mit den beeindruckenden Erfolgen der Grünen Revolution? Hat sie mit ihren unglaublichen Produktivitätssteigerungen durch Kunstdünger und besseres Saatgut nicht Millionen Menschen das Leben gerettet? Das hat sie ohne Zweifel - nur eben in einem System, das sich als nicht nachhaltig erwiesen hat. Es hat vor allem daran gearbeitet, rein mengenmäßig den Ertrag pro Hektar oder Vieheinheit zu steigern, ohne nach rechts und links zu schauen: 110 Doppelzentner Weizen pro Hektar - mit dem Einsatz von Kunstdünger, bei dessen Gewinnung (nach dem Haber-Bosch-Verfahren) riesige Mengen fossiler Energien verbraucht werden. Oder Kühe mit einer Jahresbestleistung von 11 000 Litern Milch, aber einer durchschnittlichen Lebenserwartung von fünf Jahren. Oder ein in 35 Tagen schlachtreif gemästetes Turbohähnchen - gefüttert mit Sojaschrot aus brasilianischen oder argentinischen Monokulturen. Soja ist ein gutes Beispiel für die Schwächen einer globalisierten Landwirtschaft: Ohne dieses billige Eiweißfutter würde unsere industrialisierte Tierhaltung nicht funktionieren. In Europa werden immer größere Ställe für immer mehr Tiere gebaut, obwohl Milch- und Fleischprodukte längst im Übermaß vorhanden sind. Deshalb bemüht sich das Bundeslandwirtschaftsministerium darum, Exportmärkte für deutsches Fleisch in Asien zu erschließen.
Die Berliner Agrarwissenschaftlerin Christina Schuler hat ausgerechnet, wie groß die Soja-Anbaufläche allein für die Tierproduktion in Deutschland ist: 28 000 Quadratkilometer, eine Fläche größer als Mecklenburg-Vorpommern und das Saarland zusammen.
Das Zauberwort des Weltagrarberichts gegen solche Entwicklungen heißt Multifunktionalität der Landwirtschaft: Alle Agrarpolitik und -forschung muss zukünftig im Blick haben, dass Landwirtschaft nicht allein ökonomische Aufgaben zu erfüllen hat, sondern auch ökologische und gesellschaftliche. Es geht nicht allein um die Erträge auf den Feldern, sondern auch darum, dass die Bauern von ihrer Arbeit in Zukunft leben können. Dass sie nicht weiter verelenden, wie derzeit die Milchbauern in Europa; dass sie nicht zur Landflucht gezwungen werden, wie in vielen Teilen Afrikas und Südamerikas. Und es geht um den Erhalt unsere Landschaften und Ökosysteme, die nicht einer Roundup-Ready-Sojabohnen-Monokultur im argentinischen Maßstab weichen sollte.
April 2010 erscheint: Tanja Busse, Die Ernährungsdiktatur. Warum wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt. Blessing Verlag, München.