Einleitung
In den Gefängnissen Europas sind Angehörige von Minoritäten drastisch überrepräsentiert;
Nun könnte man die Überrepräsentation von Minoritäten im Strafvollzug damit erklären wollen, dass sie eben häufiger Straftaten oder noch schwerere Delikte als Einheimische begehen. Diese Hypothese wird aber von nahezu allen Forschern verworfen. Schon die Entwicklung in den 1980er und 1990er Jahren von eher gemäßigten zu inzwischen sehr hohen Inhaftierungsraten der Ausländer widerspricht dieser Annahme, ebenso internationale Befunde. In Deutschland (nur alte Bundesländer) hatte zwischen 1990 und 1999 die Zahl der deutschen Strafgefangenen und Sicherungsverwahrten um 8,9 % zugenommen, die der Nichtdeutschen dagegen um 161,7 %.
Die vermutete Belastung mit schwereren Straftaten hätte sich nach der Logik der üblichen Strafzumessung an der Art und Zahl der Vorstrafen zeigen müssen. Eine in Niedersachsen und Schleswig-Holstein für die Jahre 1990/91 und 1997/98 durchgeführte Erhebung ergab jedoch das Gegenteil: Die Vorstrafenbelastung deutscher Angeklagter war durchweg erheblich höher als diejenige der Nichtdeutschen.
Aus noch zu erörternden Gründen spricht alles dafür, dass für Zuwanderer ein erhöhtes Kriminalisierungsrisiko besteht und dass sie strafrechtlich schärfer verfolgt werden als Deutsche.
Gründe für die überproportionale Inhaftierung von Minoritäten
Die Gründe für die überproportionale Inhaftierung der Angehörigen von Minoritäten könnten liegen
in ihrem unterschiedlichen (möglicherweise auch strafbaren) Verhalten sowie unterschiedlicher Lebenssituation,
in unterschiedlichem rechtlichen Status,
in unterschiedlicher tatsächlicher Behandlung durch die Gesellschaft und ihre Kontrollinstanzen einschließlich der Berichterstattung der Massenmedien.
Unterschiedliches Verhalten, unterschiedliche Lebenslagen
Nur vom Üblichen abweichendes Verhalten führt zu Auffälligkeit. Das Altgewohnte, "Normale", vermag unsere Aufmerksamkeit nicht zu erreichen. Abweichendes Verhalten stellt keineswegs immer, aber doch nicht selten auch einen Verstoß gegen Strafrechtsnormen dar. Es kann auf vielfältigen Bedingungen beruhen:
Aus einem anderen kulturellen Hintergrund folgen Verhaltensweisen, die, im Herkunftsland erlernt, dort vielleicht nicht abweichend, sondern üblich, funktional oder sogar lebensnotwendig waren, jedoch in einem hoch entwickelten und dicht besiedelten Land wie Deutschland auffällig sind. Zur Auffälligkeit führen kann das Tragen fremder Kleidung wie Kaftan oder Kopftuch, eine andere Religion oder Weltanschauung, ungewohnte Begrüßungs- und Umgangsformen, exotische Musik, andersartige Koch- und Essgewohnheiten, Konsum fremdartiger Rauschmittel usf.
Von großer Bedeutung dürfte die sozio-kulturelle Situation sein, in der sich die Migranten wiederfinden. Sie ist oft gekennzeichnet durch spärliche Kontakte zu Einheimischen und führt so nicht selten in Segregation oder Marginalisierung. Darüber hinaus haben viele Migranten in Deutschland Diskriminierung erlebt. Diese Erfahrung kann schon bei der Einreise oder im Umgang mit Behörden gemacht worden sein, erst recht im Alltag. Im Schulsystem besteht die Gefahr, dass sie die Erfahrung von strukturellem Rassismus machen und in der Vorstellung bestätigt werden, dass "Ausländern" ein unterer Rang in der Sozialordnung zukommt. Wer aber solche Ablehnung erfahren hat, wird geneigt sein, sich in vertrautere Umgebungen zurückzuziehen, statt auf Integration hinzuarbeiten. Manchmal genügt dazu bereits die Kenntnis der abwertenden Einschätzung der eigenen Gruppe in der Dominanzkultur. Im ungünstigen Fall kann solcher Rückzug in die eigene ethnische Gruppe zu einer Re-Ethnisierung und aggressivem Verhalten nach außen führen (z.B. "Muslim Fighters", "Russen").
Von Einwanderern wird eine sozio-kulturelle Integrationsleistung besonders schwieriger Art erwartet. Es sind nicht nur Defizite zu verkraften, die mit der Auswanderung einhergehen, also Verlust der vertrauten Umgebung, wichtiger Bezugspersonen, zuweilen auch von Haustieren oder lieb gewonnenen Objekten. Zur zu bewältigenden Fremdheit kommt hinzu, dass Immigranten meist ihren früheren beruflichen Status verlieren und sich durch den Stress des Umzugs und die ungünstige Wohnsituation in der Übergangszeit überlastet fühlen. Andererseits ist zu beobachten, dass junge männliche Migranten, die in der Pubertät eingewandert sind, ihre Desorientierung mit Alkohol- und Drogenkonsum oder Gewaltverhalten zu kompensieren suchen. Aus psychologischer Sicht wird Drogengebrauch bei Migranten ohnehin als eine Symptombildung verstanden, welche die migrationsspezifische Problematik par excellence symbolisiert.
Abweichendes Verhalten fördern können auch die unterschiedliche familiäre Situation und erlernte Rollenmuster. Es spricht vieles dafür, dass Migranten in der Familie häufiger Gewalterfahrungen gemacht haben, als dies in der hiesigen Gesellschaft der Fall ist.
Was allerdings am deutlichsten vom Durchschnitt der Bevölkerung abweicht, sind die sozio-ökonomischen Bedingungen, unter denen die Migranten leben. Hier sind zu nennen: erheblich schlechtere Einkommensverhältnisse, Arbeitslosigkeit, ungünstige Wohnverhältnisse, bei den Jugendlichen schlechtere Schul-, Bildungs- und Berufssituation. Migranten sind in Deutschland weitaus stärker von Armut betroffen als einheimische Deutsche.
Unterschiedliche rechtliche Regelungen und Maßstäbe
Für Einwanderer ohne deutschen Pass gelten eine große Zahl spezieller Rechtsvorschriften. Von besonderer Bedeutung sind das Ausländerrecht, das Asylverfahrensgesetz, das Haftrecht der Strafprozessordnung sowie die speziellen Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes. Zunächst besteht deshalb der banale, aber folgenreiche Tatbestand, dass Nichtdeutsche einer großen Anzahl strafbewehrter Pflichten unterliegen, gegen die Deutsche gar nicht verstoßen können. Die Wahrscheinlichkeit, in Untersuchungshaft genommen zu werden, ist für Migranten deutlich erhöht.
Besonders gefürchtet bei Nichtdeutschen ist die einer Verurteilung zu Freiheitsentzug oft folgende Ausweisung. Selbst wenn diese schwerste Rechtsfolge des Ausländerrechts nicht angeordnet wird, droht gleichwohl Doppelbestrafung, weil die Verurteilung auch dann regelmäßig zu einer Verschlechterung des aufenthaltsrechtlichen Status oder entsprechender Anwartschaften führt. Das Ausländerrecht ist deshalb als ein "rigides Additionsstrafrecht" bezeichnet worden.
Die Inanspruchnahme behördlicher und gerichtlicher Hilfe zur Rechtsdurchsetzung ist umso seltener, je weniger abgesichert der Rechtsstatus einer Person ist. Da Migranten bei Inanspruchnahme von Polizei und Justiz u.U. Ausweisung und Abschiebung zu befürchten haben, werden sie zu diesem Mittel oft nur im äußersten Notfall Zuflucht nehmen. Es ist daher damit zu rechnen, dass sie sich in Situationen rechtswidriger Übergriffe häufiger gezwungen sehen, diese hinzunehmen oder zu verbotener Selbsthilfe zu greifen.
Unterschiedliche tatsächliche Behandlung
Schon weil rund 90 % aller Straftaten der Polizei durch Anzeigen aus der Bevölkerung oder von Behörden bekannt werden, sind ethnische Selektionseffekte zu Gunsten der Deutschen und zu Lasten von Einwanderern nahe liegend. So wurde immer wieder ein erhöhtes Anzeigerisiko für die Angehörigen von Minoritätengruppen festgestellt. Schon 1992 ergab eine Studie eine große Zurückhaltung von Ausländern, zum Mittel der Anzeige zu greifen, aber eine sehr niedrige Schwelle bei den einheimischen Deutschen, auch Ereignisse mit geringer Gewaltintensität anzuzeigen.
Migranten leben in einer völlig anderen Kontrollrealität als Einheimische. Unter dem Gesichtspunkt der Kontrolle unterscheiden sich der hier geborene Türke mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis, der Bürgerkriegsflüchtling mit befristetem Bleiberecht oder der abgelehnte Asylbewerber, der seiner Abschiebung entgegensieht, zwar auch untereinander erheblich, aber doch noch sehr viel mehr von Einheimischen. Bisher kaum untersucht ist die Anzeigepraxis der Ausländerbehörden sowie der Arbeits- und Sozialämter. Von ihnen dürfte ein nicht geringer Teil der gegen Migranten erstatteten Strafanzeigen stammen. Die zur Erlangung zustehender Unterstützungsleistungen nötigen Behördengänge sehen auch Kontrollen durch die Behörden vor, indem diese die Voraussetzungen für die Leistungen zu prüfen haben. Nichtdeutsche zählen mittlerweile zu den als gefährlich angesehenen Teilen der Bevölkerung. Wolter spricht von einer "Dauersituation des Verdachts".
Es gibt aber auch Indikatoren für eine differente Behandlung von Migranten durch die Polizei. Trotz des Legalitätsprinzips verfügt sie über einen erheblichen Spielraum in der Steuerung ihrer Ressourcen, indem sie bei ihren Ermittlungen deren Ausmaß und Intensität bestimmt. Ethnische Identifizierbarkeit, wie über Aussehen und Sprache, erlaubt nun eine beträchtliche Vereinfachung der Steuerung. Beispielsweise wird der Bereich, in dem der Verdächtige zu suchen ist, durch die Beschreibung "arabischer Typus" oder "russisch sprechend" viel enger und die Erfolgsaussicht für die Polizei größer. "Die Überprüfung eines Anfangsverdachts gestaltet sich bei Menschen mit einer geringeren Beschwerdemacht wesentlich unproblematischer. Die Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Leibesvisitation wird ein beispielsweise aus Nigeria oder Togo stammender Asylbewerber kaum artikulieren (können), auch wenn er polizeilich nicht in Erscheinung getreten ist und der Anfangsverdacht lediglich darin besteht, dass die betroffene Person schwarz ist."
Bei der statistischen Registrierung der Straftaten hat die Polizei einen gewissen Definitions- und Interpretationsspielraum. Wie dieser genutzt wird, hängt u.a. von der Einstellung des Sachbearbeiters, aber auch von dem erwarteten Nutzen für die Institution ab. Im Verteilungskampf um Haushaltsmittel bietet sich offensives Registrierungsverhalten zu Lasten ohnehin nicht beliebter und wenig beschwerdemächtiger Angehöriger von Minoritäten an, zumal in Zeiten der "belastungsbezogenen Kräfteverteilung". Sogar Vorurteile gegenüber Fremden wird man bei der Polizei so wenig wie bei den Bürgern ausschließen können.
Dass Richter und Staatsanwälte "in Schwierigkeiten der Verständigung und des Verstehens" eher zu härteren als einen Freiheitsentzug vermeidenden Sanktionen greifen,
Für die große Mehrheit der Bürger sind in Sachen Kriminalität Massenmedien die wichtigste Informationsquelle. Allerdings sind Medien weniger Spiegel als Interpreten der Wirklichkeit. Das von ihnen gezeichnete Bild der Kriminalität und der "Täter" beruht auf eigenen Gesetzmäßigkeiten.
Auch auf Polizisten, Staatsanwälte und Richter werden Mediendarstellungen Auswirkungen haben. Selbst wenn ihnen in ihrem Berufsfeld Primärerfahrungen mit Kriminalität und Straftätern zugänglich sind, sind Berichte in den Medien keine vernachlässigenswerte Quelle ihres Wissens über Kriminalität. Damit findet die medial verzerrte Darstellung des Kriminalitätsgeschehens Eingang auch in den politischen und fachlichen Diskurs. Über diesen berichten die Medien erneut: "Es entsteht ein politisch-publizistischer Verstärkerkreislauf, der die Kriminalität zum allumfassenden Problem und zur ubiquitären Bedrohung werden lässt..."
Lässt man abschließend die multiplen zusätzlichen Belastungs- und Verzerrungsfaktoren, ob sie nun ihre Gründe im Verhalten und der Lebenslage der Migranten, im Recht oder in ihrer gesellschaftlichen Behandlung haben, noch einmal Revue passieren, erscheint Schüler-Springorums Aussage
Ausblick
Wenn die Entscheidung über die Inhaftierung einer Person (auch) davon abhinge, dass diese einer Minorität angehört, wäre dies rechtsstaatlich unerträglich. Recht und Politik müssen etwaigen Fehleinschätzungen der Bürger und Institutionen entgegenwirken. Um herauszufinden, wie die Überrepräsentation von Minoritäten im Strafvollzug zu Stande kommt, sind deshalb die möglichen Gründe näher zu erforschen, namentlich
die Belastung von Zuwanderern mit Anpassungs- und Integrationsproblemen,
ob, unter welchen Umständen und ggf. weshalb sie häufiger von den Bürgern und Institutionen angezeigt werden,
wie bei registriertem abweichendem Verhalten die zuständigen Stellen der Strafverfolgung mit ihnen verfahren.
Dabei ist es wichtig zu ermitteln, unter welchen Umständen die Überrepräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund in den verschiedenen Stadien des Verfahrens (Verdachtsschöpfung, Anzeigenaufnahme durch die Polizei, Vorlage an die Staatsanwaltschaft, Anordnung von Untersuchungshaft, Anklage bzw. Verfahrenseinstellung, Verurteilung, Vollstreckung und Vollzug, vorzeitige Entlassung) gleichbleibt, sinkt oder steigt; ob und ggf. weshalb Unterschiede bei der Anordnung der Untersuchungshaft, dem Strafmaß und der Verweildauer in Haft gegenüber einheimischen Straftätern festzustellen sind. Methodisch wäre darauf zu achten, dass die Untersuchungen für jede der genannten Ebenen gesondert ausgewertet werden, weil in diesen Fällen Datenaggregation geeignet ist, auf einer der Ebenen feststellbare unterschiedliche Behandlung der Angehörigen von Minoritäten "verschwinden" zu lassen.
Diesen Aufsatz widme ich meinem Freund Prof. Kálmán Irmai.