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Gefangenensubkulturen | Strafvollzug | bpb.de

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Gefangenensubkulturen

Klaus Laubenthal

/ 14 Minuten zu lesen

Der Beitrag befasst sich mit Erscheinungsformen der Gefangenensubkulturen in den Justizvollzugsanstalten. Herausgearbeitet sind die dort Sicherheit und Ordnung beeinträchtigenden mit den Subkulturen verbundenen Problembereiche.

Einleitung

Als Reaktionen auf den Freiheitsentzug und zur Bewältigung der mit der Inhaftierung verbundenen Lebenssituation existieren in den Justizvollzugsanstalten (JVAen) subkulturelle Gegenordnungen mit spezifischen Normen, einer gewissen Organisation und besonderen Gebräuchen. Die Subkulturen stellen Teilsysteme innerhalb des umfassenderen Gesamtsystems einer Anstalt dar. In ihnen können die einzelnen Gefangenen verbotene Mittel anwenden, unerlaubte Ziele verfolgen, die Erwartungen des offiziellen Vollzugsstabs hinsichtlich ihrer Person umgehen und dadurch eine gewisse Freiheit in Unfreiheit erlangen.



Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen der Gefangenensubkulturen gehörten in Deutschland zu den eher vernachlässigten Bereichen der Strafvollzugswissenschaft. Vor allem Gewalttätigkeiten unter Inhaftierten wurden lange Zeit kaum öffentlich wahrgenommen und unter wissenschaftlichen Aspekten nur wenig thematisiert. Erst seit relativ kurzer Zeit beziehen sich auch bei uns vermehrt Forschungsprojekte auf subkulturelle Handlungsweisen von Gefangenen. Es waren im Wesentlichen die Ereignisse im Jugendstrafvollzug der JVA Siegburg in der Nacht vom 11. auf den 12. November 2006, die das Thema der Subkulturen im Strafvollzug ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit - insbesondere der Medienöffentlichkeit - rückten. In der nordrhein-westfälischen JVA waren zum fraglichen Zeitpunkt vier junge Gefangene in einem etwa 20 Quadratmeter großen Haftraum untergebracht. Ohne jeglichen äußeren Anlass misshandelten drei von ihnen über Stunden hinweg den vierten Gefangenen und missbrauchten ihn sexuell. Schließlich beschlossen sie, ihn zu töten. Nach vier misslungenen Versuchen mit diversen Elektrokabeln erhängten sie ihn mit einem aus Bettlaken gedrehten Strick. Die mediale Berichterstattung über diesen Fall führte zur "Entdeckung" der vollzuglichen Subkulturen und ihrer Erscheinungsformen.

Es kann ausgeschlossen werden, dass es eine ganz spezifische Anstaltsgesellschaft mit gänzlich übereinstimmenden formellen und informellen Normen und Werten gibt, in die Verurteilte sich im Verlauf ihres Anstaltsaufenthalts einem bestimmten Verhaltenstypus gemäß einfügen. Die Entzugssituation der Inhaftierung löst vielmehr individuell unterschiedliche Mechanismen aus, zu denen auch die Bildung informeller Subsysteme oder der Anschluss an solche gehört. Inwieweit eine Anpassung der einzelnen Inhaftierten an solche Systeme erfolgt, hängt auch von der jeweiligen Biographie ab. Die Vielfältigkeit der Ursachen des menschlichen Verhaltens - und auch das der Reaktionen auf Konflikt- und Stresssituationen - stellt modellhafte typische Rollenbeschreibungen von Strafgefangenen in Frage. Dennoch sind personenunabhängig und anstaltsübergreifend bestimmte Erscheinungsformen von Gefangenensubkulturen festzustellen. Vordergründig zeigt sich die Anstaltssubkultur etwa bei illegalen Kauf- und Tauschgeschäften in den Vollzugseinrichtungen. Dabei ist das Schwarzmarktgeschehen wiederum gekennzeichnet von subkulturellen Gegenleistungen (Übermittlung von Nachrichten, sexuelle Hingabe, Einschmuggeln verbotener Gegenstände), wobei das Eintreiben der illegalen Schulden von Gefangenen mit Nachdruck betrieben wird. Zu den offen erkennbaren Ausdrucksformen subkultureller Aktivitäten zählen ferner die knasttypischen Tätowierungen. Die Anstaltssubkultur zeigt sich ferner im Sprachgebrauch der Strafgefangenen. Die Inhaftierten bilden eine rund um die Uhr in der Einrichtung anwesende, von der Außenwelt mehr oder weniger abgeschottete Sprachgemeinschaft. Diese pflegt mit der Knastsprache einen eigenen Wortschatz, wobei ihr auch eine Einheit stiftende Funktion im Sinne eines Zusammengehörigkeitsgefühls zukommt. Bezogen auf die Sicherheit und Ordnung in den JVAen liegen die eigentlichen Problemfelder jedoch vor allem in der Herausbildung von Rangordnungen in den Einrichtungen. Hinzu kommen Gruppenbildungen. Geprägt sind die Aktivitäten auf der subkulturellen Ebene zudem ganz wesentlich durch die vollzugliche Suchtproblematik.

Rangordnungen unter den Gefangenen

Mit dem Haftantritt erfolgt für die Verurteilten eine Ausgliederung aus ihrer gewohnten sozialen Umwelt. Sie verlieren ihren bisherigen gesellschaftlichen Status und werden in ein neues, geschlossenes soziales System eingegliedert. Das Leben in einer Einrichtung des Justizvollzugs setzt die Insassen einer Vielzahl unerwünschter Situationen und Kontakte aus, ohne dass sie stets in der Lage wären, diesen auszuweichen. Die Inhaftierten erleben so einen Verlust an persönlicher Sicherheit. Über ein hohes Angstniveau unter Insassen berichten nicht nur nordamerikanische Strafvollzugsstudien. Ein angstbesetztes Klima in den Vollzugseinrichtungen ermittelten auch jüngere Untersuchungen im deutschen Strafvollzug.

Die Inhaftierten finden in der JVA hierarchische Statusdifferenzen unter den Mitgefangenen vor. Neuankömmlinge erfahren auf der zwischenmenschlichen Ebene, dass sie sich behaupten müssen. Sie sind gezwungen, in ihrem eigenen Interesse einen Platz in der Rangordnung zu finden. Neuinsassen sind zunächst besonders gefährdet, Opfer von Unterdrückung und Misshandlung zu werden. Sie stehen vor der Aufgabe, sich beweisen zu müssen. Sie erfahren, dass ein ganz wesentlicher Aspekt zur Statuserlangung physische Stärke darstellt. Wer Durchsetzungsvermögen besitzt, wer in der Lage ist, sich Respekt zu verschaffen, wer sich nichts gefallen lässt, der läuft weniger als andere Gefahr, Opfer zu werden oder zu bleiben. Männliche Inhaftierte testen aus, wie die eigene Männlichkeit unter den Augen der anderen Männer abschneidet. Statusfunktion kommt neben der physischen Stärke noch anderen Gesichtspunkten zu. Macht und Ansehen in der Gefangenengemeinschaft bedingen etwa die Deliktsebene (wie Mord), die Haftdauer sowie Hafterfahrung. Statusfunktion kommt sozialer und intellektueller Kompetenz zu. Von Bedeutung sind ferner Zugangsmöglichkeiten zu illegalen Gütern (vor allem zu Betäubungsmitteln), Kontakte zu einflussreichen Mitinhaftierten oder gute Rechtskenntnisse.

In der vollzuglichen "Hackordnung" besitzen jedoch nicht nur Neuankömmlinge zunächst ein höheres Opferrisiko. Dies betrifft auch diejenigen, die durch körperliche Schwäche auffallen, denen es an Durchsetzungsvermögen fehlt oder die aus anderen Gründen nicht bereit sind, Gewalt anzudrohen oder auszuüben. Eine Ausgrenzung erfahren solche Tätergruppen, die aufgrund der Art ihrer Straftat von vornherein von einem Aufstieg ausgeschlossen bleiben. Das gilt für Sexualstraftäter im Männerstrafvollzug - vor allem solche des sexuellen Kindesmissbrauchs - sowie für wegen Kindestötung inhaftierte Mütter in den Fraueneinrichtungen; Gleiches betrifft auch transsexuelle Gefangene. Sie alle rangieren in der Gefangenenhierarchie auf niedrigster Stufe. Gewalt gegen sie dient nicht der Bestimmung eines Platzes in der "Hackordnung", sondern ist Ausgrenzungsgewalt. Zudem kommt es zu erniedrigenden Vorgehensweisen u.a. aus sadistischer Veranlagung heraus.

Gewaltandrohung und -ausübung stellen unter den Insassen von Vollzugseinrichtungen anerkannte Mittel dar, die Position der einzelnen Inhaftierten in der Gefangenenhierarchie zu bestimmen. Der Zwang, sich durchsetzen zu müssen, beherrscht aber nicht nur das Verhalten der Neuinhaftierten. Über die gesamte Haftzeit hinweg ist der Alltag von fortwährenden Anerkennungsritualen und Positionskämpfen in einer dynamischen Rangordnung geprägt. Präsentiert wird Aggressivität. Es kommt zu physischer Gewalt, wobei es nicht nur bei Körperverletzungen bleibt. Die Gewalttätigkeit unter Inhaftierten erfolgt nicht selten auch sexualbezogen. Ein spezifisches Problem in den Vollzugs-einrichtungen stellt der sexuelle Missbrauch von Mitgefangenen dar. Nordamerikanische empirische Untersuchungen gehen von einem Anteil von bis zu 20 Prozent der Inhaftierten aus, die während der Haft mindestens einmal Opfer von sexueller Nötigung oder Vergewaltigung durch andere Gefangene wurden. Sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt in Haftanstalten werden häufig aus Scham oder Angst vor Rache verschwiegen, und es existiert deshalb eine hohe Dunkelziffer. Dabei ist sexuelle Gewalt in Strafvollzugseinrichtungen für Männer offenbar stärker verbreitet als in Haftanstalten für Frauen. Dennoch kommt es auch unter weiblichen Gefangenen zu sexuellen Übergriffen.

Zu den Formen des Gewalthandelns in den Vollzugseinrichtungen gehört ferner das Unterdrücken von Mitgefangenen. Insbesondere inhaftierten Jugendlichen dient das sogenannte Bullying, das systematische Schikanieren einer Person, als Durchsetzungsmittel zur Statuserlangung. Über einen längeren Zeitraum hinweg kommt es zu einem andauernden aggressiven und herabsetzenden Verhalten gegenüber einem Gefangenen durch einen oder mehrere Mitinhaftierte. Dabei existiert zwischen Opfer und Täter(n) ein Ungleichgewicht der Kräfte. Oftmals ist aber keine eindeutige Zuordnung zu Opfer- und Täterschaft möglich. Es gibt Inhaftierte, die sowohl Täter als auch Opfer des Bullying sind.

Verurteilte mit Migrationshintergrund

Statusfunktion in der Hierarchie kommt auch der Gruppenzugehörigkeit zu. Letztere wird in den JVAen vor allem durch soziale Kategorien bestimmt, wobei ethnische Merkmale (bestimmte ausländische Herkunft; Spätaussiedler) im Vordergrund stehen. In den bundesdeutschen JVAen war seit Mitte der 1980er Jahre eine fast kontinuierliche Zunahme der Anzahl von nichtdeutschen Inhaftierten zu verzeichnen. Bewegte sich deren Quote lange im Bereich von zehn Prozent, wuchs sie seit Beginn der 1990er Jahre sprunghaft an. 1994 hatte bereits jede fünfte straffällig gewordene Person im Vollzug der Freiheitsstrafe keine deutsche Staatsbürgerschaft. Bis 1999 wuchs der Anteil auf 24,5 Prozent und lag am 31. März 2008 bei 22,2 Prozent. Der relativ hohe Anteil nichtdeutscher Inhaftierter stellt besondere Anforderungen an Justizverwaltung und Anstaltspersonal. Ein bedeutender Anteil der JVA-Insassen kommt aus Kultur- und Rechtskreisen, in denen ein anderes Normen- und Werteverständnis herrscht. Dies beeinträchtigt den Behandlungsprozess zur Erreichung des Vollzugsziels einer sozialen Reintegration.

Es ist aber nicht die Zahl von Inhaftierten ohne deutschen Pass als solche, die zu vollzuglichen Belastungen führt. Schwierigkeiten in den Anstalten erwachsen vielmehr vor allem daraus, dass es sich bei den ausländischen Gefangenen gerade nicht um eine homogene Einheit handelt, sondern um eine Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit und Herkunft. Das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten mit jeweils eigenständigen kulturellen Vorstellungen, Lebensgewohnheiten und anderen Einstellungen zu körperlicher Integrität auf engstem Raum führt zu Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Insassengruppen. Diese werden auch mittels Gewalt ausgetragen. Erschwerend kommt beim Umgang mit nichtdeutschen Inhaftierten die Problematik der Sprachbarriere hinzu. Dieser Belastungsfaktor trifft jedoch nicht nur das Verhältnis zwischen Bediensteten und nichtdeutschen Gefangenen, sondern auch dasjenige der ausländischen zu den inländischen Inhaftierten sowie die Kommunikation der Nichtdeutschen untereinander. Bereits verbale Verständigungsschwierigkeiten bedingen Gruppenbildungen, die subkulturellen Charakter haben.

Die durch Gruppenhierarchien bedingten Konflikte in den Vollzugseinrichtungen werden verschärft durch die Gemeinschaft der häufig als behandlungsresistent geltenden inhaftierten Spätaussiedler im Männerstrafvollzug, bei denen aufgrund ihrer hergebrachten Einstellungen, Verhaltensweisen und sozialen Einbindungen gerade die Russlanddeutschen unter den Inhaftierten als besonders problematisch gelten. Diese sind Subkulturstrukturen sehr zugeneigt. Die Russlanddeutschen haben eine ausgeprägte Subkultur mit hierarchischen Rollendifferenzierungen gebildet sowie mit einem rigiden Unterdrückungs- und Erpressungssystem. Sie legen Wert auf ihre Andersartigkeit und kommunizieren untereinander ausschließlich in russischer Sprache. Probleme bereiten in der Vollzugspraxis Sprachdefizite, Behandlungsunwilligkeit sowie der Missbrauch gemeinschaftlicher Aktivitäten zur Festigung ihrer Subkultur. Vermutet wird zudem eine Verbindung vieler russlanddeutscher Inhaftierter zur organisierten Kriminalität.

Die subkulturelle Hierarchie in den Gruppen der Aussiedler in den Vollzugsanstalten teilt sich jeweils auf in drei Ebenen: der "Boss" mit seinen Gehilfen, die "Vollstrecker" und die "Opfer". Der "Boss" legt für seine Gruppe die Rollen- und Werteverteilung fest. Der Status entscheidet über Umfang und Verbindlichkeit der vom Einzelnen einzuhaltenden Regeln und dessen Einfluss in der Gruppe. Auch innerhalb dieser Gemeinschaften versucht das einzelne Mitglied, in der Hierarchie möglichst weit nach oben aufzusteigen, um Repressalien und Statusminderungen bei Verstößen gegen die internen Regeln zu entgehen. Statusniedrigere Gefangene bekommen risikoreichere Aufgaben zugeteilt. Werden sie dabei entdeckt, so erscheinen die eigentlichen Opfer als Täter - ohne das Subkultursystem zu gefährden. Verbreitete Repressalien innerhalb des subkulturellen Systems sind Demütigungen, Androhung oder Zufügung von Gewalt oder die Erteilung bestimmter Aufträge. Zum Teil erstrecken sich diese auch auf Verwandte und Bekannte des Betroffenen. Neuzugänge unterliegen besonderen Aufnahme- und Erprobungsritualen. Sie müssen etwa Mithäftlinge und Bedienstete bedrohen, angreifen oder beleidigen oder Aufgaben im Rahmen der Verteilung von Betäubungsmitteln übernehmen.

Speziell unter den russlanddeutschen Inhaftierten findet sich eine besondere Art von Subkultur: die "Diebe im Gesetz" - eine Bewegung, die auch außerhalb der Vollzugseinrichtungen operiert. Diese verfügt über einen eigenen Kodex, einen eigenen Sprachgebrauch sowie eine Zeichensprache. In den Anstalten des Justizvollzugs trifft ein ausdifferenziertes Tätowiersystem Aussagen über Straftat, Strafdauer, Anzahl von Verurteilungen und den Rang des Trägers. Ein internes Strafensystem dient der Sanktionierung von Abweichlern und der Maßregelung von sogenannten unehrenhaften Gefangenen (wie Sexualstraftätern). Aus einer Art Solidarkasse, in die jeder Inhaftierte einzubezahlen hat, werden Anschaffungen von Genuss- bis hin zu Suchtmitteln finanziert. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Gesetze der Bewegung sich unter den inhaftierten russlanddeutschen Spätaussiedlern immer stärker ausbreiten und sie den Status allgemein verbindlicher Regelungen zu beanspruchen versuchen. Die Vereinigung der "Diebe im Gesetz" ist ferner gekennzeichnet durch eine Zwangsmitgliedschaft jedes inhaftierten Landsmanns. Der Statusbestimmung dient zunächst die "Kasjak"-Prozedur. Neuankömmlinge werden auf persönliche Einstellungen und ihre kriminelle Karriere überprüft. Auf Regelverstöße oder statusreduzierende Delikte folgen Repressalien wie Demütigungen, Bedrohung oder Einschüchterung. Das interne Bestrafungssystem wird bedingungslos akzeptiert. Des Weiteren ist jeder Landsmann zur Teilnahme am gemeinsamen Versorgungssystem verpflichtet. "Abschtschjak", die aus "freiwilligen" Spenden und Erpressungsgeldern gebildete gemeinsame Kasse, hält die russisch sprechende Subkultur zusammen. Neben der Funktion als Bank ist sie eine Art Anlaufstelle für Rat suchende Loyale und zugleich Kontroll- bzw. Repressionsinstanz gegenüber Illoyalen. Der "heilige Abschtschjak" ist im Bewusstsein der Kriminellen eine nicht zu hinterfragende Instanz. Vorgegeben ist auch ein absolutes Aussageverbot gegenüber staatlichen Organen bis hin zur Übernahme von Verantwortung für von anderen begangene Delikte.

Vollzugliches Drogenmilieu

Die Anstaltssubkultur wird nachhaltig durch die mit dem Einschmuggeln, dem Handel und dem Konsum von illegalen - d.h. nach dem Betäubungsmittelgesetz unerlaubten - Betäubungsmitteln verbundenen Aktivitäten bestimmt. Der Umgang mit drogenabhängigen Strafgefangenen und deren Therapie gehören zu den drängendsten Problemen der aktuellen Vollzugsgestaltung. So wie in Freiheit die Versorgung mit derartigen Stoffen auf keine nennenswerten faktischen Schwierigkeiten stößt, gilt dies auch in JVAen.

Von den am 31. März 2008 in Deutschland eine Freiheitsstrafe verbüßenden 55 343 Inhaftieren befanden sich 9 540 (= 17,2 Prozent) wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz im Vollzug; bei den weiblichen Strafgefangenen lag der Anteil bei 16,1 Prozent. Sind zwar nicht alle von ihnen selbst Konsumenten, so ist dennoch davon auszugehen, dass die Anzahl der tatsächlich drogenabhängigen bzw. -gefährdeten Inhaftierten sogar deutlich höher liegt und ein Teil von ihnen wegen anderer deliktischer Handlungen - vor allem im Rahmen der suchtbedingten Beschaffungskriminalität - abgeurteilt wurde. Angenommen wird, dass sich insbesondere bei den wegen Diebstahlsdelikten und Raub- bzw. Erpressungsstraftaten Inhaftierten eine große Anzahl von Drogenkonsumenten wiederfindet. Obwohl Kriterien und Verfahren der Feststellung entsprechend belasteter Gefangener von der Wissenschaft teilweise kritisch betrachtet werden (partiell basiert die Zuordnung nur auf den Feststellungen des Strafurteils), muss heute als sicher gelten: Der Vollzugsalltag wird in hohem Maße von der Suchtproblematik der Inhaftierten geprägt.

Eine in neun JVAen von Nordrhein-Westfalen durchgeführte empirische Untersuchung ergab, dass etwa die Hälfte der Gefangenen bereits vor der Inhaftierung als drogengefährdet galt. Ein Drittel zeigte bei Haftantritt Symptome akuter Drogenabhängigkeit. Das Ausmaß der Abhängigkeit ist bei Heranwachsenden und Jungerwachsenen, vor allem aber bei weiblichen Inhaftierten sehr groß. Sowohl im Jugend- als auch im Erwachsenenstrafvollzug befinden sich besonders viele therapiebedürftige Rauschgiftkonsumenten in der Gruppe der russlanddeutschen Gefangenen. Nach einer in bayerischen JVAen vorgenommenen Erhebung lag der Anteil der russlanddeutschen Gefangenen mit Kontakten zur Drogenszene bei 60,3 Prozent, während die Quote unter der Gesamtzahl der Inhaftierten 35,6 Prozent betrug. Dass diese überwiegend selbst Drogenkonsumenten waren, zeigt die ermittelte Quote der Ausbreitung des Hepatitis-Virus unter den Spätaussiedlern. Der Vermerk "Blutkontakt meiden" in der Gefangenenakte tauchte bei 38,2 Prozent der inhaftierten Russlanddeutschen auf - gegenüber 14,3 Prozent bei der untersuchten Gesamtpopulation.

In den Vollzugseinrichtungen, die auch die Aufgabe zu erfüllen haben, Straftaten während der Inhaftierung zu verhindern, kommt es mit steigender Tendenz auf der subkulturellen Ebene - und im Dunkelfeld verbleibend - zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ebenso wie zu anderen strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler Drogen durch die Gefangenen. Die Drogenkonsumenten sind zum einen solche, die in der Vollzugseinrichtung ihren schon in Freiheit begonnenen Betäubungsmittelmissbrauch aufgrund der vorhandenen Abhängigkeit fortsetzen. Zum anderen kann bei zahlreichen Gefangenen, die in Freiheit nur gelegentlich oder gar nicht Drogen konsumierten, bei einer wenig betreuungs- und ereignisintensiven Vollzugsgestaltung die Droge zum strukturierenden Element des Alltags werden. Konstante Bemühungen zur Drogenbeschaffung sowie der Betäubungsmittelmissbrauch selbst werden zu Strategien, um die Langeweile in der Haft zu ertragen, persönliche Grenzen zu überwinden und einer allgemeinen Lebensangst oder der anstaltsbedingten Furcht vor körperlichen Angriffen durch Mitgefangene zu entfliehen.

In der Alltagsrealität des Strafvollzugs spiegeln sich beim Drogenmissbrauch die gleichen individuellen Notlagen und sozialen Problemfelder Drogenabhängiger wie außerhalb der Einrichtungen wider. Hinzu kommen zum anderen vollzugsspezifische Probleme. Drogen sind in den Hafteinrichtungen knapper als außerhalb der Anstaltsmauern. Teilweise bleiben sie minderwertiger, was zum Konsum gestreckter und verunreinigter Stoffe mit den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Folgen führt. Da die Droge der Wahl nicht immer zur Verfügung steht, kommt es entweder zu einem starken Wechsel von Konsum- und Entzugsphasen, oder es erfolgt die Einnahme von Substanzen mit mehreren Wirkgruppen nebeneinander. Dabei sind sich die Inhaftierten der zum Teil riskanten gesundheitlichen Folgen des Mischkonsums von sich wechselseitig beeinflussenden Substanzen ganz überwiegend nicht bewusst.

Die Finanzierung der Sucht kann in den Justizvollzugseinrichtungen vom geringen Arbeitsverdienst oder Taschengeld nicht erfolgen. Dies begünstigt die Ausbildung subkultureller Abhängigkeiten. Die Suchtkranken nehmen Wucherdarlehen auf, oder es müssen Dienstleistungen gegenüber Mitinhaftierten erbracht werden. Solche Tätigkeiten können insbesondere wiederum im Einschmuggeln von Drogen in die Anstalt oder in deren Verteilung an die Konsumenten bestehen. Es kommt zu Erpressungen nicht zahlungsfähiger Schuldner und zur Anwendung von Gewalt. Verfügt eine Anstalt sowohl über geschlossene als auch über offene Abteilungen, werden Freigänger, die tagsüber den Vollzug verlassen dürfen, genötigt, bei der Rückkehr Drogen einzuschmuggeln. Ferner kommt es zu Gewaltandrohung oder -anwendung gegen Mitgefangene, damit diese Familienangehörige und andere Kontaktpersonen veranlassen, bei Anstaltsbesuchen Betäubungsmittel mitzubringen. Vereinzelt existieren in den Anstalten sogar sogenannte Schuldenburgen, das heißt von den übrigen Inhaftierten abgetrennte Stationen zum Schutz solcher Gefangener, die bei ihren anstaltsinternen Gläubigern die Schulden nicht mehr begleichen können und deshalb mit gesundheits- oder lebensgefährdenden Angriffen zu rechnen haben. Die Entwicklung subkultureller Strukturen wird allerdings auch dadurch indirekt verstärkt, dass in den meisten Anstalten keine besonderen Abteilungen für drogenabhängige Gefangene existieren.

Ein drogenbezogener Auslösefaktor von Gewalthandlungen in den JVAen sind zudem Macht- und Verteilungskämpfe unter den Beteiligten des Drogenhandels. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein maßgeblicher Dealer aus dem Vollzug entlassen oder in eine andere Einrichtung verlegt wird. Der illegale Drogenhandel liegt in den Haftanstalten vor allem in der Hand inhaftierter Ausländer bzw. von anderen Gefangenen mit Migrationshintergrund. Eine besondere Stellung nehmen dabei wiederum die russlanddeutschen Inhaftierten ein. Sowohl hinsichtlich der Beschaffung als auch des Konsums sind sie bereit, jedes Risiko einzugehen. Bei ihnen kommt der Gruppe bei der Organisation der erforderlichen finanziellen Mittel, der Aufteilung der Drogen und dem gemeinsamen Konsum große Bedeutung zu. Bezüglich der Beschaffung von Betäubungsmitteln für die Insassen in den Vollzugseinrichtungen muss heute von einer Vernetzung der verschiedenen Strafanstalten ausgegangen werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dazu Klaus Laubenthal, Erscheinungsformen subkultureller Gegenordnungen im Strafvollzug, in: Thomas Feltes/Christian Pfeiffer/Gernot Steinhilper (Hrsg.), Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen. Festschrift für Hans-Dieter Schwind, Heidelberg 2006, S. 593-602.

  2. Vgl. Ralf Kölbel, Strafgefangene als Eigentümer und Vertragspartner, in: Strafverteidiger, 19 (1999) 9, S. 498-507.

  3. Vgl. Klaus Pichler, Tätowieren als Element der Gefängniskultur, in: Kai Bammann/Heino Stöver (Hrsg.), Tätowierungen im Strafvollzug, Oldenburg 2006, S. 145-159.

  4. Vgl. Klaus Laubenthal, Lexikon der Knastsprache, Berlin 2001.

  5. Vgl. Helmut Kury/Ursula Smartt, Gewalt an Strafgefangenen, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 51 (2002) 6, S. 323-339; Eckart Werthebach/Hubert Fluhr/Klaus Koepsel/Johannes Latz/Klaus Laubenthal, Kommission Gewaltprävention im Strafvollzug - Nordrhein-Westfalen. Ergebnis der Überprüfung des Jugend- und Erwachsenenstrafvollzuges, Bonn 2007.

  6. Vgl. Mechthild Bereswill, The Society of Captives - Formierungen von Männlichkeit im Gefängnis, in: Kriminologisches Journal, 36 (2004) 2, S. 92-108; siehe auch Wolfgang Kühnel, Gruppen und Gruppenkonflikte im Jugendstrafvollzug, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 89 (2006) 4, S. 276-290.

  7. Siehe H. Kury/U. Smartt (Anm. 5), S. 323-339.

  8. Vgl. Nicola Döring, Sexualität im Gefängnis, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 19 (2006) 4, S. 315-333; siehe auch Gerlinda Smaus, Die ultimative Erniedrigung - Was die Vergewaltigung von Männern durch Männer in Gefängnissen bedeutet, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2.11. 2007, S. 29.

  9. Vgl. Eduard Matt, Gewalthandeln und Kontext: Das Beispiel Bullying, in: Bewährungshilfe, 53 (2006) 4, S. 339-348.

  10. Zur vollzuglichen Ausländerproblematik vgl. Anja Rieder-Kaiser, Vollzugliche Ausländerproblematik und Internationalisierung der Strafverbüßung, Frankfurt/M. 2004, S. 38ff.

  11. Statistisches Bundesamt, Strafvollzug - Demographische und kriminologische Merkmale der Strafgefangenen, Wiesbaden 2008, S. 14.

  12. Dazu Klaus Laubenthal, Migration und Justizvollzug, in: Vierteljahresschrift für Flüchtlingsfragen (AWR-Bulletin), 42 (2004) 3, S. 33-46.

  13. Zur vollzuglichen Aussiedlerproblematik vgl. Bayerisches Staatsministerium der Justiz, Bericht zur Situation Jugendlicher und junger erwachsener Gefangener aus der ehemaligen UdSSR, München 1999; Gabriele Dolde, Spätaussiedler - "Russlanddeutsche" - ein Integrationsproblem, in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 51 (2002) 3, S. 146-151; Simone Kleespies, Kriminalität von Spätaussiedlern, Frankfurt/M. 2006, S. 170ff.

  14. Vgl. Hans-Dieter Schwind, Kriminologie, Heidelberg 200919, S. 537.

  15. Siehe zu dieser Bewegung Peter Skoblikow, Vermögensstreitigkeiten und Schattenjustiz im postsowjetischen Russland, in: Kriminalistik, 59 (2005) 1, S. 19-25; H.-D. Schwind (Anm. 14), S. 625.

  16. Statistisches Bundesamt (Anm. 11), S. 22.

  17. Vgl. Wolfgang Wirth, Das Drogenproblem im Justizvollzug, in: Bewährungshilfe, 49 (2002) 1, S. 104-122.

  18. Vgl. Bericht der Arbeitsgruppe Bayerischer Justizvollzugsanstalten, Handlungsstrategien im Umgang mit russlanddeutschen Gefangenen, Kaisheim 2004, S. 18.

  19. Vgl. Eduard Boetticher/Heino Stöver, in: Johannes Feest (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Neuwied 20065, S. 320.

  20. Vgl. Klaus Laubenthal, Strafvollzug, Berlin-Heidelberg 20085, S. 110.

  21. Vgl. S. Kleespies (Anm. 13), S. 169; H.-D. Schwind (Anm. 14), S. 536f.

Prof. Dr., geb. 1954; Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht an der Universität Würzburg; im zweiten Hauptamt Richter am Oberlandesgericht Bamberg; Arbeitsschwerpunkte u.a. Straftaten gegen Personen, Jugendstrafrecht, Strafvollzug.
E-Mail: E-Mail Link: laubenthal@jura.uni-wuerzburg.de