Einleitung
Als Reaktionen auf den Freiheitsentzug und zur Bewältigung der mit der Inhaftierung verbundenen Lebenssituation existieren in den Justizvollzugsanstalten (JVAen) subkulturelle Gegenordnungen mit spezifischen Normen, einer gewissen Organisation und besonderen Gebräuchen.
Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen der Gefangenensubkulturen gehörten in Deutschland zu den eher vernachlässigten Bereichen der Strafvollzugswissenschaft. Vor allem Gewalttätigkeiten unter Inhaftierten wurden lange Zeit kaum öffentlich wahrgenommen und unter wissenschaftlichen Aspekten nur wenig thematisiert. Erst seit relativ kurzer Zeit beziehen sich auch bei uns vermehrt Forschungsprojekte auf subkulturelle Handlungsweisen von Gefangenen. Es waren im Wesentlichen die Ereignisse im Jugendstrafvollzug der JVA Siegburg in der Nacht vom 11. auf den 12. November 2006, die das Thema der Subkulturen im Strafvollzug ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit - insbesondere der Medienöffentlichkeit - rückten. In der nordrhein-westfälischen JVA waren zum fraglichen Zeitpunkt vier junge Gefangene in einem etwa 20 Quadratmeter großen Haftraum untergebracht. Ohne jeglichen äußeren Anlass misshandelten drei von ihnen über Stunden hinweg den vierten Gefangenen und missbrauchten ihn sexuell. Schließlich beschlossen sie, ihn zu töten. Nach vier misslungenen Versuchen mit diversen Elektrokabeln erhängten sie ihn mit einem aus Bettlaken gedrehten Strick. Die mediale Berichterstattung über diesen Fall führte zur "Entdeckung" der vollzuglichen Subkulturen und ihrer Erscheinungsformen.
Es kann ausgeschlossen werden, dass es eine ganz spezifische Anstaltsgesellschaft mit gänzlich übereinstimmenden formellen und informellen Normen und Werten gibt, in die Verurteilte sich im Verlauf ihres Anstaltsaufenthalts einem bestimmten Verhaltenstypus gemäß einfügen. Die Entzugssituation der Inhaftierung löst vielmehr individuell unterschiedliche Mechanismen aus, zu denen auch die Bildung informeller Subsysteme oder der Anschluss an solche gehört. Inwieweit eine Anpassung der einzelnen Inhaftierten an solche Systeme erfolgt, hängt auch von der jeweiligen Biographie ab. Die Vielfältigkeit der Ursachen des menschlichen Verhaltens - und auch das der Reaktionen auf Konflikt- und Stresssituationen - stellt modellhafte typische Rollenbeschreibungen von Strafgefangenen in Frage. Dennoch sind personenunabhängig und anstaltsübergreifend bestimmte Erscheinungsformen von Gefangenensubkulturen festzustellen. Vordergründig zeigt sich die Anstaltssubkultur etwa bei illegalen Kauf- und Tauschgeschäften in den Vollzugseinrichtungen. Dabei ist das Schwarzmarktgeschehen wiederum gekennzeichnet von subkulturellen Gegenleistungen (Übermittlung von Nachrichten, sexuelle Hingabe, Einschmuggeln verbotener Gegenstände), wobei das Eintreiben der illegalen Schulden von Gefangenen mit Nachdruck betrieben wird.
Rangordnungen unter den Gefangenen
Mit dem Haftantritt erfolgt für die Verurteilten eine Ausgliederung aus ihrer gewohnten sozialen Umwelt. Sie verlieren ihren bisherigen gesellschaftlichen Status und werden in ein neues, geschlossenes soziales System eingegliedert. Das Leben in einer Einrichtung des Justizvollzugs setzt die Insassen einer Vielzahl unerwünschter Situationen und Kontakte aus, ohne dass sie stets in der Lage wären, diesen auszuweichen. Die Inhaftierten erleben so einen Verlust an persönlicher Sicherheit. Über ein hohes Angstniveau unter Insassen berichten nicht nur nordamerikanische Strafvollzugsstudien. Ein angstbesetztes Klima in den Vollzugseinrichtungen ermittelten auch jüngere Untersuchungen im deutschen Strafvollzug.
Die Inhaftierten finden in der JVA hierarchische Statusdifferenzen unter den Mitgefangenen vor. Neuankömmlinge erfahren auf der zwischenmenschlichen Ebene, dass sie sich behaupten müssen. Sie sind gezwungen, in ihrem eigenen Interesse einen Platz in der Rangordnung zu finden. Neuinsassen sind zunächst besonders gefährdet, Opfer von Unterdrückung und Misshandlung zu werden. Sie stehen vor der Aufgabe, sich beweisen zu müssen. Sie erfahren, dass ein ganz wesentlicher Aspekt zur Statuserlangung physische Stärke darstellt. Wer Durchsetzungsvermögen besitzt, wer in der Lage ist, sich Respekt zu verschaffen, wer sich nichts gefallen lässt, der läuft weniger als andere Gefahr, Opfer zu werden oder zu bleiben. Männliche Inhaftierte testen aus, wie die eigene Männlichkeit unter den Augen der anderen Männer abschneidet.
In der vollzuglichen "Hackordnung" besitzen jedoch nicht nur Neuankömmlinge zunächst ein höheres Opferrisiko. Dies betrifft auch diejenigen, die durch körperliche Schwäche auffallen, denen es an Durchsetzungsvermögen fehlt oder die aus anderen Gründen nicht bereit sind, Gewalt anzudrohen oder auszuüben. Eine Ausgrenzung erfahren solche Tätergruppen, die aufgrund der Art ihrer Straftat von vornherein von einem Aufstieg ausgeschlossen bleiben. Das gilt für Sexualstraftäter im Männerstrafvollzug - vor allem solche des sexuellen Kindesmissbrauchs - sowie für wegen Kindestötung inhaftierte Mütter in den Fraueneinrichtungen; Gleiches betrifft auch transsexuelle Gefangene. Sie alle rangieren in der Gefangenenhierarchie auf niedrigster Stufe. Gewalt gegen sie dient nicht der Bestimmung eines Platzes in der "Hackordnung", sondern ist Ausgrenzungsgewalt. Zudem kommt es zu erniedrigenden Vorgehensweisen u.a. aus sadistischer Veranlagung heraus.
Gewaltandrohung und -ausübung stellen unter den Insassen von Vollzugseinrichtungen anerkannte Mittel dar, die Position der einzelnen Inhaftierten in der Gefangenenhierarchie zu bestimmen. Der Zwang, sich durchsetzen zu müssen, beherrscht aber nicht nur das Verhalten der Neuinhaftierten. Über die gesamte Haftzeit hinweg ist der Alltag von fortwährenden Anerkennungsritualen und Positionskämpfen in einer dynamischen Rangordnung geprägt. Präsentiert wird Aggressivität. Es kommt zu physischer Gewalt, wobei es nicht nur bei Körperverletzungen bleibt. Die Gewalttätigkeit unter Inhaftierten erfolgt nicht selten auch sexualbezogen. Ein spezifisches Problem in den Vollzugs-einrichtungen stellt der sexuelle Missbrauch von Mitgefangenen dar.
Zu den Formen des Gewalthandelns in den Vollzugseinrichtungen gehört ferner das Unterdrücken von Mitgefangenen. Insbesondere inhaftierten Jugendlichen dient das sogenannte Bullying, das systematische Schikanieren einer Person, als Durchsetzungsmittel zur Statuserlangung. Über einen längeren Zeitraum hinweg kommt es zu einem andauernden aggressiven und herabsetzenden Verhalten gegenüber einem Gefangenen durch einen oder mehrere Mitinhaftierte. Dabei existiert zwischen Opfer und Täter(n) ein Ungleichgewicht der Kräfte. Oftmals ist aber keine eindeutige Zuordnung zu Opfer- und Täterschaft möglich. Es gibt Inhaftierte, die sowohl Täter als auch Opfer des Bullying sind.
Verurteilte mit Migrationshintergrund
Statusfunktion in der Hierarchie kommt auch der Gruppenzugehörigkeit zu. Letztere wird in den JVAen vor allem durch soziale Kategorien bestimmt, wobei ethnische Merkmale (bestimmte ausländische Herkunft; Spätaussiedler) im Vordergrund stehen. In den bundesdeutschen JVAen war seit Mitte der 1980er Jahre eine fast kontinuierliche Zunahme der Anzahl von nichtdeutschen Inhaftierten zu verzeichnen.
Es ist aber nicht die Zahl von Inhaftierten ohne deutschen Pass als solche, die zu vollzuglichen Belastungen führt. Schwierigkeiten in den Anstalten erwachsen vielmehr vor allem daraus, dass es sich bei den ausländischen Gefangenen gerade nicht um eine homogene Einheit handelt, sondern um eine Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeit und Herkunft. Das Zusammenleben unterschiedlicher Nationalitäten mit jeweils eigenständigen kulturellen Vorstellungen, Lebensgewohnheiten und anderen Einstellungen zu körperlicher Integrität auf engstem Raum führt zu Konflikten und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Insassengruppen. Diese werden auch mittels Gewalt ausgetragen. Erschwerend kommt beim Umgang mit nichtdeutschen Inhaftierten die Problematik der Sprachbarriere hinzu. Dieser Belastungsfaktor trifft jedoch nicht nur das Verhältnis zwischen Bediensteten und nichtdeutschen Gefangenen, sondern auch dasjenige der ausländischen zu den inländischen Inhaftierten sowie die Kommunikation der Nichtdeutschen untereinander. Bereits verbale Verständigungsschwierigkeiten bedingen Gruppenbildungen, die subkulturellen Charakter haben.
Die durch Gruppenhierarchien bedingten Konflikte in den Vollzugseinrichtungen werden verschärft durch die Gemeinschaft der häufig als behandlungsresistent geltenden inhaftierten Spätaussiedler im Männerstrafvollzug,
Die subkulturelle Hierarchie in den Gruppen der Aussiedler in den Vollzugsanstalten teilt sich jeweils auf in drei Ebenen: der "Boss" mit seinen Gehilfen, die "Vollstrecker" und die "Opfer". Der "Boss" legt für seine Gruppe die Rollen- und Werteverteilung fest. Der Status entscheidet über Umfang und Verbindlichkeit der vom Einzelnen einzuhaltenden Regeln und dessen Einfluss in der Gruppe. Auch innerhalb dieser Gemeinschaften versucht das einzelne Mitglied, in der Hierarchie möglichst weit nach oben aufzusteigen, um Repressalien und Statusminderungen bei Verstößen gegen die internen Regeln zu entgehen. Statusniedrigere Gefangene bekommen risikoreichere Aufgaben zugeteilt. Werden sie dabei entdeckt, so erscheinen die eigentlichen Opfer als Täter - ohne das Subkultursystem zu gefährden. Verbreitete Repressalien innerhalb des subkulturellen Systems sind Demütigungen, Androhung oder Zufügung von Gewalt oder die Erteilung bestimmter Aufträge. Zum Teil erstrecken sich diese auch auf Verwandte und Bekannte des Betroffenen. Neuzugänge unterliegen besonderen Aufnahme- und Erprobungsritualen. Sie müssen etwa Mithäftlinge und Bedienstete bedrohen, angreifen oder beleidigen oder Aufgaben im Rahmen der Verteilung von Betäubungsmitteln übernehmen.
Speziell unter den russlanddeutschen Inhaftierten findet sich eine besondere Art von Subkultur: die "Diebe im Gesetz" - eine Bewegung, die auch außerhalb der Vollzugseinrichtungen operiert.
Vollzugliches Drogenmilieu
Die Anstaltssubkultur wird nachhaltig durch die mit dem Einschmuggeln, dem Handel und dem Konsum von illegalen - d.h. nach dem Betäubungsmittelgesetz unerlaubten - Betäubungsmitteln verbundenen Aktivitäten bestimmt. Der Umgang mit drogenabhängigen Strafgefangenen und deren Therapie gehören zu den drängendsten Problemen der aktuellen Vollzugsgestaltung. So wie in Freiheit die Versorgung mit derartigen Stoffen auf keine nennenswerten faktischen Schwierigkeiten stößt, gilt dies auch in JVAen.
Von den am 31. März 2008 in Deutschland eine Freiheitsstrafe verbüßenden 55 343 Inhaftieren befanden sich 9 540 (= 17,2 Prozent) wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz im Vollzug; bei den weiblichen Strafgefangenen lag der Anteil bei 16,1 Prozent.
Eine in neun JVAen von Nordrhein-Westfalen durchgeführte empirische Untersuchung ergab, dass etwa die Hälfte der Gefangenen bereits vor der Inhaftierung als drogengefährdet galt. Ein Drittel zeigte bei Haftantritt Symptome akuter Drogenabhängigkeit. Das Ausmaß der Abhängigkeit ist bei Heranwachsenden und Jungerwachsenen, vor allem aber bei weiblichen Inhaftierten sehr groß.
In den Vollzugseinrichtungen, die auch die Aufgabe zu erfüllen haben, Straftaten während der Inhaftierung zu verhindern, kommt es mit steigender Tendenz auf der subkulturellen Ebene - und im Dunkelfeld verbleibend - zu Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz ebenso wie zu anderen strafbaren Handlungen im Zusammenhang mit dem Konsum illegaler Drogen durch die Gefangenen. Die Drogenkonsumenten sind zum einen solche, die in der Vollzugseinrichtung ihren schon in Freiheit begonnenen Betäubungsmittelmissbrauch aufgrund der vorhandenen Abhängigkeit fortsetzen. Zum anderen kann bei zahlreichen Gefangenen, die in Freiheit nur gelegentlich oder gar nicht Drogen konsumierten, bei einer wenig betreuungs- und ereignisintensiven Vollzugsgestaltung die Droge zum strukturierenden Element des Alltags werden.
In der Alltagsrealität des Strafvollzugs spiegeln sich beim Drogenmissbrauch die gleichen individuellen Notlagen und sozialen Problemfelder Drogenabhängiger wie außerhalb der Einrichtungen wider. Hinzu kommen zum anderen vollzugsspezifische Probleme. Drogen sind in den Hafteinrichtungen knapper als außerhalb der Anstaltsmauern. Teilweise bleiben sie minderwertiger, was zum Konsum gestreckter und verunreinigter Stoffe mit den damit verbundenen gesundheitlichen Risiken und Folgen führt. Da die Droge der Wahl nicht immer zur Verfügung steht, kommt es entweder zu einem starken Wechsel von Konsum- und Entzugsphasen, oder es erfolgt die Einnahme von Substanzen mit mehreren Wirkgruppen nebeneinander. Dabei sind sich die Inhaftierten der zum Teil riskanten gesundheitlichen Folgen des Mischkonsums von sich wechselseitig beeinflussenden Substanzen ganz überwiegend nicht bewusst.
Die Finanzierung der Sucht kann in den Justizvollzugseinrichtungen vom geringen Arbeitsverdienst oder Taschengeld nicht erfolgen. Dies begünstigt die Ausbildung subkultureller Abhängigkeiten. Die Suchtkranken nehmen Wucherdarlehen auf, oder es müssen Dienstleistungen gegenüber Mitinhaftierten erbracht werden. Solche Tätigkeiten können insbesondere wiederum im Einschmuggeln von Drogen in die Anstalt oder in deren Verteilung an die Konsumenten bestehen. Es kommt zu Erpressungen nicht zahlungsfähiger Schuldner und zur Anwendung von Gewalt. Verfügt eine Anstalt sowohl über geschlossene als auch über offene Abteilungen, werden Freigänger, die tagsüber den Vollzug verlassen dürfen, genötigt, bei der Rückkehr Drogen einzuschmuggeln. Ferner kommt es zu Gewaltandrohung oder -anwendung gegen Mitgefangene, damit diese Familienangehörige und andere Kontaktpersonen veranlassen, bei Anstaltsbesuchen Betäubungsmittel mitzubringen. Vereinzelt existieren in den Anstalten sogar sogenannte Schuldenburgen, das heißt von den übrigen Inhaftierten abgetrennte Stationen zum Schutz solcher Gefangener, die bei ihren anstaltsinternen Gläubigern die Schulden nicht mehr begleichen können und deshalb mit gesundheits- oder lebensgefährdenden Angriffen zu rechnen haben.
Ein drogenbezogener Auslösefaktor von Gewalthandlungen in den JVAen sind zudem Macht- und Verteilungskämpfe unter den Beteiligten des Drogenhandels. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein maßgeblicher Dealer aus dem Vollzug entlassen oder in eine andere Einrichtung verlegt wird. Der illegale Drogenhandel liegt in den Haftanstalten vor allem in der Hand inhaftierter Ausländer bzw. von anderen Gefangenen mit Migrationshintergrund. Eine besondere Stellung nehmen dabei wiederum die russlanddeutschen Inhaftierten ein. Sowohl hinsichtlich der Beschaffung als auch des Konsums sind sie bereit, jedes Risiko einzugehen. Bei ihnen kommt der Gruppe bei der Organisation der erforderlichen finanziellen Mittel, der Aufteilung der Drogen und dem gemeinsamen Konsum große Bedeutung zu. Bezüglich der Beschaffung von Betäubungsmitteln für die Insassen in den Vollzugseinrichtungen muss heute von einer Vernetzung der verschiedenen Strafanstalten ausgegangen werden.