Einleitung
Der Strafvollzug in Deutschland
2009 ist eine weitere Baustelle abgearbeitet worden: Der Untersuchungshaftvollzug war bislang nur rudimentär in der Strafprozessordnung (StPO, § 119 Abs. 3) gesetzlich geregelt, und daher bestand auch hier die verfassungsrechtliche Verpflichtung einer umfassenden gesetzlichen Regelung. Die Materie ist insofern schwierig, als alle verfahrensrechtlichen Fragen in der Kompetenz des Bundes geblieben sind, der mit dem am 1.1. 2010 in Kraft getretenen Neufassung des § 119 StPO seine "Hausaufgaben" gemacht hat. Die Vollzugsfragen werden in den weitgehend zum gleichen Zeitpunkt in Kraft getretenen Untersuchungshaftvollzugsgesetzen der Länder geregelt. Auch hier zeigte sich im Übrigen, dass die Föderalismusreform an den Bedürfnissen der Praxis vorbeigeht: Nunmehr haben sich schon zwölf Bundesländer auf einen einheitlichen Gesetzentwurf verständigt. Lediglich Baden-Württemberg, Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen können sich eigene, wenngleich zumeist nicht bessere (vgl. Baden-Württemberg, Bayern) Gesetzgebungen leisten. Da - abgesehen von Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg und Niedersachsen - für den Erwachsenenvollzug noch keine landesgesetzliche Regelung vorliegt, gilt in weiten Teilen Deutschlands insoweit das Strafvollzugsgesetz (StVollzG) von 1977 weiter. Dies ist kein besonderes Manko, denn dieses hat sich in den 33 Jahren seiner Geltung und Anwendung bewährt. Dementsprechend werden sich die derzeit zu erarbeitenden Landesgesetze in Aufbau und Struktur an das bewährte StVollzG anlehnen.
Der gesetzgeberische "Wahnsinn" wird auch darin deutlich, dass das StVollzG in Teilen weitergilt und gelten wird, auch wenn die Länder eigene Vollzugsgesetze verabschiedet haben. Soweit nämlich verfahrens- bzw. gerichtsverfassungsrechtliche Fragen betroffen sind, ist die Kompetenz beim Bund geblieben. Deshalb sind die Vorschriften der §§ 109 - 121 StVollzG über Rechtsmittel von Gefangenen gegenüber Entscheidungen bzw. Maßnahmen der Vollzugsbehörden weiterhin gültiges Recht (im Jugendstrafvollzug ist zusätzlich § 92 JGG zu beachten). Alles in allem ist die neue "Unübersichtlichkeit" wenig geeignet, den betroffenen Gefangenen eine zuverlässige und vorhersehbare Rechtsposition zu vermitteln. In Anlehnung an den kritisch gemeinten Begriff der "justice by geography" kann man für den Strafvollzug mehr denn je feststellen, dass es vom Zufall des Wohnsitzes abhängt, ob der Gefangene bessere oder schlechtere Haftbedingungen vorfindet. Dementsprechend sind bereits Fälle bekannt, in denen noch auf freiem Fuß befindliche Straftäter beispielsweise in Berlin einen Wohnsitz anmelden, um ihre zu erwartende Strafe unmittelbar im offenen Vollzug verbüßen zu können, was in anderen, insbesondere süddeutschen Bundesländern nicht möglich ist.
Daten zur Strafvollzugspopulation
Am 31.3. 2009 waren 73 592 Gefangene in den 195 Gefängnissen in Deutschland inhaftiert, darunter 3926 (= 5,3 %) Frauen.
Gefangenenraten werden berechnet als Stichtagsbelegungszahlen (üblicherweise zum 31.3. eines Jahres) pro 100 000 der Wohnbevölkerung bzw. der entsprechenden Altersgruppe. Betrachtet man zunächst die Gefangenenraten in Deutschland im Längsschnittvergleich, so kann insgesamt gesehen für das Gebiet der alten Bundesländer eine relativ stabile Entwicklung mit allerdings phasenspezifischen Schwankungen festgestellt werden. Die Gefangenenrate in (West-) Deutschland ist nach der Strafrechtsreform von 1969, durch welche die kurze Freiheitsstrafe zugunsten der Geldstrafe wesentlich zurückgedrängt wurde, in den 1970er Jahren bis 1983 stark angestiegen und erreichte mit 104 Gefangenen pro 100 000 der Wohnbevölkerung ihren Höhepunkt. In den 1980er Jahren reduzierte sich die Gefangenenrate auf etwa 80, teilweise bedingt durch rückläufige Kriminalitätszahlen und durch den Ausbau von Alternativen, insbesondere der Strafaussetzung zur Bewährung. Danach ist im Gefolge der Wiedervereinigung und der allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, einschließlich Migrationsproblemen, die Gefängnisbelegung auf eine Rate von nahezu 100 angestiegen. Seit Ende der 1990er Jahre ist die Gesamtbelegung des Strafvollzugs allerdings stabil und seit 2005 erneut rückläufig. 2009 lag die Gefangenenrate für Gesamtdeutschland bei knapp 90 (vgl. Abbildung 1 der PDF-Version).
Dabei ist zwischen den alten und den neuen Bundesländern zu unterscheiden: In Ostdeutschland waren die Gefängnisse infolge weit reichender Amnestien anfangs der 1990er Jahre nahezu leer,
Für die Dynamik der Entwicklung der Gefangenenraten in Westdeutschland Ende der 1970er, Anfang der 1980er und erneut Anfang der 1990er sowie 2000er Jahre war auch die Untersuchungshaft von Bedeutung.
Veränderungen der Insassenstruktur
Die Strafvollzugspopulation hat sich allerdings nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ in ihrer alters- und deliktsspezifischen Zusammensetzung verändert.
Betrachtet man zunächst die Deliktsstruktur der Strafgefangenen im Längsschnittvergleich, so wird deutlich, dass der Anteil von Eigentumsdelinquenten (ohne Gewalt, Diebstahl/Unterschlagung) beständig gesunken ist (von 47,5 % 1970 auf 20,5 % im Jahr 2008). Raub und Erpressung sind von 1970 bis 1990 zwar anteilsmäßig gestiegen (von 8,1 % auf 13,8 %), seither bleibt der Anteil mit 12 - 14 % jedoch stabil. Ebenfalls relativ konstant ist der Anteil von Sexualdelinquenten, die jeweils 6 - 8 % der Vollzugspopulation ausmachen, von Vermögensdelinquenten (Betrug/Untreue etc., jeweils etwa 10 - 13 %), von Tötungsdelinquenten (7 - 8 %) und von Straßenverkehrsdelinquenten (6 - 8 %; mit einem aktuellen Rückgang 2008 auf 4,5 %). Die wesentlichsten Veränderungen betreffen Körperverletzungs- und Drogendelikte. Der Anteil von wegen Körperverletzungsdelikten Verurteilten hat von weniger als 3 % anfangs der 1970er Jahre auf 11,9 % im Jahr 2008 zugenommen. Der Anteil von Betäubungsmitteldelinquenten ist von praktisch null Prozent im Jahr 1970 auf ca. 10 % im Jahr 1990 und etwa 15 % seit 2000 gestiegen (vgl. Abbildung 2 der PDF-Version). Bedenkt man, dass der Anteil in Ostdeutschland allenfalls 3 - 7 % beträgt, so wird verständlich, dass in einigen westdeutschen Bundesländern Anteile von 17 - 20 % erreicht werden (wie in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz). Bedenklich erscheint dabei, dass etwa 45 % der inhaftierten Drogentäter 2008 nur wegen leichter Verstöße gegen das BtMG verurteilt waren (d.h. Besitz und Handel von kleineren Mengen Drogen, § 29 Abs. 1 BtMG). Offensichtlich bezieht die Drogenkontrolle damit Drogenbesitzer und -konsumenten aus dem unteren Deliktsspektrum verstärkt mit ein.
Generell kann man einen deutlichen Unterschied zwischen den alten und neuen Bundesländern insoweit erkennen, als in den neuen Bundesländern die Anteile von Gewalttätern erhöht sind, dagegen sind wegen Drogendelikten Verurteilte deutlich unterrepräsentiert. Fasst man Tötungs-, Körperverletzungs-, Sexual- und Raubdelinquenten zusammen, so waren 2008 stichtagsbezogen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen etwa die Hälfte der Gefangenen wegen eines Gewalt- oder Sexualdelikts inhaftiert. In Bayern, Bremen und Hessen lag der entsprechende Anteil dagegen unter 40 %.
Gefangenenraten im Bundesländervergleich
Betrachtet man die Gefangenenraten in den Bundesländern im Querschnittsvergleich für das Jahr 2009, so werden die schon seit Jahren bekannten, zum Teil erheblichen Unterschiede deutlich.
Angesichts der relativ vergleichbaren Kriminalitätsbelastung beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern im Vergleich mit Schleswig-Holstein, die ihrerseits bedeutend über denjenigen in Bayern oder Baden-Württemberg liegen, wird deutlich, dass Gefangenenraten nicht Schicksal, sondern in erster Linie Ergebnis kriminalpolitischer Orientierungen und der justiziellen Entscheidungspraxis sind.
Interessant sind die Veränderungen der Gefangenenraten im Bundesländervergleich im Zeitraum seit 1995. Dieser Beobachtungszeitraum wurde gewählt, weil sich seit Mitte der 1990er Jahre die Kriminalitätsraten vor allem in den neuen Bundesländern stabilisiert haben, zum Teil sogar rückläufig sind. Der Anstieg der Gefangenenrate in diesem Zeitraum von 39 % in den neuen und knapp 4 % in den alten Bundesländern hat also weniger mit der Kriminalitätsentwicklung als mit anderen Faktoren zu tun. Abgesehen von regionaltypischen Sanktionsstilen
Bemerkenswert sind die Unterschiede bei der Entwicklung der Zuwachsraten im Bundesländervergleich, wobei man hier phasenspezifisch differenzieren muss. In den neuen Bundesländern hat sich die Gefangenenrate in den 1990er Jahren drastisch erhöht und an das "Westniveau" angeglichen oder es sogar überschritten. Seit der Jahrtausendwende sind allerdings stabile Verhältnisse und neuerdings rückläufige Zahlen in fast allen Bundesländern zu verzeichnen (vgl. Abbildung 3 der PDF-Version).
Wenn man den Jugendstrafvollzug isoliert betrachtet, so ergeben sich gleichfalls erhebliche Länderdifferenzen bei den Gefangenenraten für 2009 und im Entwicklungsverlauf seit 1995. Bemerkenswert sind hier die sehr stark gestiegenen Jugendstrafgefangenenraten in Ostdeutschland in den 1990er Jahren, die aber, wie erwähnt, inzwischen ebenfalls stark rückläufig sind. Auch weisen die Stadtstaaten Bremen und Hamburg (im Gegensatz zu Berlin) ebenso wie Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein unterdurchschnittliche Raten auf, was auf eine spezifische Strafverfolgungs- und Sanktionspraxis hinweist.
Vollzugslockerungen und Hafturlaub
Im Rahmen der Entlassungsvorbereitung sind der offene Vollzug und Vollzugslockerungen sowie Hafturlaub von herausragender Bedeutung. Zwar wird man die resozialisierungsfördernde Wirkung derartiger Maßnahmen nicht isoliert evaluieren und einschätzen können, jedoch sprechen die empirischen Forschungen zur Straftäterbehandlung dafür, dass ein integriertes Programm von Lockerungen, bedingter Entlassung und Nachsorge bessere rückfallvermeidende Erfolge aufweist als der traditionelle Verwahrvollzug.
Mit der Föderalismusreform, aber auch schon zuvor sind vollzugsöffnende Maßnahmen allerdings zum Spielball einer "restaurativen" Vollzugspolitik geworden.
Probleme der Unterbringung und Überbelegung
Trotz der in den vergangenen Jahren spürbaren Entlastung und eines deutlichen Belegungsrückgangs (siehe Abb. 1 und 3) gibt es in Deutschland im geschlossenen Vollzug nach wie vor Probleme der Überbelegung, wenn man - nach den Erfahrungen der Vollzugspraxis - eine Vollbelegung bei einer 85-prozentigen Auslastung annimmt. Nach diesem Kriterium wäre nur in Brandenburg, Bremen und Hamburg keine Überbelegung gegeben.
Abgesehen von den erwähnten Zahlen zur Überbelegung anhand der Auslastung der Haftplatzkapazitäten gibt es zusätzlich noch eine Art "verdeckter" Überbelegung, wenn man die Anteile gemeinschaftlicher Unterbringung von Gefangenen in die Analyse einbezieht. So waren am 31.3. 2009 in Gesamtdeutschland 35 % der Gefangenen im geschlossenen Vollzug entgegen § 18 Abs. 1 StVollzG gemeinschaftlich untergebracht (ohne Bremen, das hierzu keine Zahlen angibt). Diesbezüglich sind die neuen Bundesländer, vor allem Sachsen-Anhalt und Thüringen mit 58 % bzw. 57 % von gemeinschaftlicher Unterbringung besonders betroffen. In den alten Bundesländern sind die Bedingungen insoweit in Baden-Württemberg (52 %) und Bayern (42 %) am ungünstigsten. Demgegenüber werden in Hamburg während der Ruhezeit mehr als 90 %, in Berlin und im Saarland 85 % der Gefangenen im geschlossenen Vollzug einzeln untergebracht.
Zu den Hauptrisikofaktoren für Gefangene, durch Mitgefangene drangsaliert, erpresst, sexuell missbraucht oder körperlich verletzt zu werden, was (wie einige gravierende Fälle der Tötung von Gefangenen durch Mitgefangene, beispielsweise in Ichtershausen/Thüringen 2001 und Siegburg/NRW 2006, exemplarisch zeigen) immer noch weit verbreitet ist, gehören die gemeinschaftliche Unterbringung während der Ruhezeit und lange Einschlusszeiten ohne sinnvolle Freizeitangebote, insbesondere an Wochenenden. Diese Zahlen sind trotz eines in den vergangenen Jahren zu beobachtenden Rückgangs der Gemeinschaftsbelegung immer noch besorgniserregend.
Zusammenfassung und Schlussbemerkungen
Der Strafvollzug in Deutschland zeigt bei Betrachtung einiger statistischer Parameter überraschende und kaum erwartete Veränderungen. Die Gefangenenrate insgesamt ist nach einem Anstieg in den 1990er Jahren seit 2003 rückläufig. Rückläufige Gefangenenraten verzeichnen die meisten Bundesländer, einen besonders drastischen Hamburg (seit 2003: -39 %). Erfreulich ist auch, dass die Untersuchungshaftzahlen seit 1994 um die Hälfte zurückgegangen sind. Deutschland gehört damit im europäischen Vergleich nach den skandinavischen Ländern zur Gruppe der Länder mit den niedrigsten Gefangenen- und Untersuchungshaftraten. Allerdings bleibt der "föderale Flickenteppich" nicht nur bezüglich der rechtlichen Regelungen, sondern auch in rechtstatsächlicher Sicht bestehen. Die Gefangenenraten variieren stark zwischen der extrem niedrigen Rate von 52 in Schleswig-Holstein (2009) und 151 in Berlin. Zugleich hat sich die Insassenstruktur aber verändert. Mehr Gewalt- und Drogentäter, weniger Eigentumstäter ohne Gewaltausübung (Diebstahl) bevölkern die Gefängnisse. Damit wird deutlich, dass ein gesteigerter Behandlungs- und Betreuungsbedarf besteht. Die Reduzierung von Personalstellen - etwa unter dem Eindruck der durch die Finanzkrise gestiegenen Schuldenbelastung der Länder - wäre demgemäß das falsche Signal. Vielmehr verdeutlicht die Zunahme von Gefangenen mit langen (inklusive lebenslangen) Freiheitsstrafen sowie von Sicherungsverwahrten die Notwendigkeit, einen qualitativ hochwertigen Resozialisierungsvollzug zu entwickeln. Die Sozialtherapie darf nicht nur auf Sexualtäter beschränkt werden, sondern muss sich den schwierigen Fällen aus anderen Deliktsbereichen stärker öffnen. Der geschlossene Regelvollzug könnte angesichts rückläufiger Zahlen die Behandlungsangebote erweitern und intensivieren. Mehr Qualität muss auch im Übergang vom Strafvollzug in die Entlassung erreicht werden. Der offene Vollzug und entlassungsvorbereitende Lockerungen bzw. Hafturlaub fristen in einigen Ländern ein Schattendasein. So haben Länder wie Hamburg und Hessen drastische Einschränkungen vorgenommen.
Ein guter Schutz von Gefangenen vor Übergriffen von Mitgefangenen ist die Realisierung der Einzelbelegung während der Ruhezeit (vgl. § 18 Abs. 1 StVollzG und die Jugendstrafvollzugsgesetze der Länder). Auch hier haben einzelne Bundesländer (z.B. Berlin, Hamburg, Schleswig-Holstein) vorbildliche Bedingungen geschaffen, während andere von diesem auch im europäischen Maßstab gültigen Standard noch weit entfernt sind.
Dieser Beitrag zeigt, dass die empirische Bestandsaufnahme von grundlegenden Daten des Strafvollzugs eine permanente Aufgabe ist, die für die Fortentwicklung des Strafvollzugs hilfreich sein kann. Sie ist umso mehr geboten, als die Länder mit der Föderalismusreform freiwillig in den Wettbewerb um eine bestmögliche Praxis eingetreten sind. Der ursprünglich befürchtete "Wettbewerb der Schäbigkeit" ist bislang nicht eingetreten, vielmehr haben einige Länder erhebliche Investitionen vor allem im Bereich des Jugendstrafvollzugs und der Sozialtherapie getätigt. Durch umfassende empirische Bestandsaufnahmen könnten diese Veränderungsprozesse auch in ihrer Wirksamkeit für das Resozialisierungsziel transparent gemacht werden. Die teils sehr unterschiedlichen Strukturen in den Ländern werden sich letztlich daran messen lassen müssen, inwieweit sie einerseits menschenrechtliche Standards beachten und andererseits zugleich das verfassungsrechtliche Gebot der Resozialisierung erreichen oder zumindest dazu beitragen können.