Einleitung
Unter den Bedingungen der anhaltenden Quasi-Staatlichkeit in den Palästinensischen Gebieten kommt politischen Parteien für gesellschaftliche und diplomatische Prozesse eine Schlüsselrolle zu. In Abwesenheit funktionaler staatlicher Institutionen stellen diese eine der wenigen Möglichkeiten dar, politische Partizipation institutionalisiert sicherzustellen. Palästina ist angesichts der seit dem Jahr 2007 bestehenden Spaltung in Fatah-kontrollierte Westbank und Hamas-kontrollierten Gazastreifen grundsätzlich von einem bipolaren System geprägt.
Die dominierende Position beider Bewegungen zeigte sich deutlich bei den jüngsten Wahlen zum Palästinensischen Legislativrat (PLC) im Jahr 2006. Hier konnten Fatah und Hamas insgesamt 119 von 132 Sitzen auf sich vereinen. Die Hamas gewann mit 74 Sitzen eine Mehrheit. Die Bedeutung der beiden Bewegungen wird auch in aktuellen Meinungsumfragen bestätigt, die von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegeben wurden: Diesen zufolge liegt die Zustimmung zur Fatah derzeit bei rund 35 %, während die Hamas rund 18 % der Stimmen auf sich vereinen kann. Keine andere Bewegung erfährt Unterstützung von mehr als 3,7 % der Wahlbevölkerung.
Eine Analyse der Parteienlandschaft in den Palästinensischen Gebieten sollte sich daher zunächst auf die beiden Bewegungen Fatah und Hamas konzentrieren. Dabei ist schon eingangs darauf hinzuweisen, dass weder Fatah noch Hamas eindeutig als politische Parteien oder als politische Bewegungen zu verorten sind. Beide befinden sich in einem Wandlungsprozess und weisen sowohl Bewegungs- als auch Parteicharakteristika auf.
Traditionell stark: Die Fatah
In ihrem Selbstverständnis ist die "Bewegung der nationalen palästinensischen Befreiung", Fatah (Harakat al-Tahrir al-Watani al-Filastini), nach wie vor die einzige Organisation, die dem palästinensischen Volk zur Eigenstaatlichkeit verhelfen kann. Sie bezieht explizit Exilpalästinenser mit ein und kann in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. Dies nicht zuletzt, weil seit Beginn des Oslo-Prozesses der Chef der Fatah zugleich auch Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) ist. Diese stellt offiziell nach wie vor den einzigen legitimen Verhandlungspartner für Israel und die internationale Gemeinschaft dar.
Infolge der israelischen Besetzung des Gazastreifens und der Westbank im Jahr 1967 gewann die Fatah unter der Führung Jassir Arafats an breiter Unterstützung. Unter Arafat verfolgte die Fatah einen bewaffneten Kampf gegen Israel - lange Zeit mit dem erklärten Ziel, das gesamte historische Palästina zu "befreien". Stand die Fatah ursprünglich für gewaltsamen Kampf, so war sie in der Lage, mit der Teilnahme an den Friedensgesprächen in Madrid im Jahr 1991 die Zwei-Staaten-Lösung in der palästinensischen Bevölkerung konsensfähig zu machen. Seither präsentiert die Fatah sowohl die Bereitschaft, eine politische Kompromisslösung mit Israel auszuhandeln, als auch den ständigen Kampf, dieses Angebot gegen interne Kritiker aufrechtzuerhalten. Unter ihrem Vorsitzenden Mahmud Abbas ist sie von der Anwendung von Gewalt als politisches Instrument weitestgehend wenngleich nicht vollständig abgerückt.
Diese prinzipielle Festlegung der Fatah auf Verhandlungen hat der Bewegung zwar internationale Anerkennung eingebracht, ihr jedoch intern zugleich einen erheblichen komparativen Nachteil zur Hamas beschert. Zum einen haben ausbleibende Erfolge in den verschiedenen Friedensprozessen mit Israel den Grundansatz der Fatah zumindest partiell delegitimiert. Zum anderen haben die Staatsambitionen der Fatah die Entwicklung einer breiten politisch-programmatischen Identität der Partei deutlich erschwert. Bis heute steht die Fatah vor allem für nationale Befreiung durch Verhandlungen, nicht für Politikfeldkompetenz. Zwar ist sie assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Internationalen (SI); sie mittels klassischer rechts-links-Rhetorik im politischen Spektrum zu verorten, ist aber nahezu unmöglich.
Nach 20 Jahren: Der 6. Generalkongress
Deutlich wurde dies jüngst auf dem lange erwarteten und immer wieder verschobenen 6. Generalkongress der Fatah, der im August 2009 in Bethlehem stattfand. Obwohl die Bewegung in den Oslo-Folgejahren zunächst eine nahezu unangreifbare politische Dominanz in den Palästinensischen Gebieten genoss, verlor sie in den späten 1990er Jahren Legitimität und Unterstützung. Die undurchsichtige Verquickung von PA, PLO und Fatah ließ die Partei in Teilen der Bevölkerung als Synonym von Korruption und Vetternwirtschaft erscheinen. Über die PA mit Zugängen zu erheblichen Machtressourcen versehen, sträubten sich etablierte Entscheidungsträger gegen jedwede Veränderung des Status quo. Im Gleichschritt mit dem zum Erliegen gekommenen Friedensprozess verharrte die Fatah fortan in Stagnation. Parteigremien tagten nicht oder nur unregelmäßig. Inhaltliche Debatten fanden nicht statt.
Der institutionelle Stillstand der Fatah konnte weder durch den Tod Arafats im Jahr 2004 noch durch die Abhaltung von Präsidentschafts- und Legislativratswahlen in den Jahren 2005 und 2006 durchbrochen werden, in denen die Fatah massive Verluste hinnehmen musste. Möglicherweise als Vorleistung an die ambitionierten Friedenspläne des US-Präsidenten Barack Obama war es dann jedoch Mahmud Abbas, der überraschend führungsstark den Reformstau zu durchbrechen begann. Im vergangenen August rief er 2500 Delegierte zum 6. Generalkongress der Fatah nach Bethlehem und überraschte und verärgerte damit gestandene Parteigrößen vor allem im Exil.
Das wichtigste Ergebnis war eine personelle Erneuerung der Fatah. Zentralkomitee (ZK) und Revolutionsrat (RR) wurden neu besetzt. So konnten z.B. nur vier der 21 ZK-Mitglieder ihren Sitz im Exekutivorgan der Fatah verteidigen.
Inhaltlich-programmatisch setzte sich dabei eindeutig der pragmatische Flügel durch. Nahezu alle Mitglieder des ZK und RR waren bereits an Verhandlungen mit Israel beteiligt und stehen für den pragmatischen, ausgehandelten Zwei-Staaten-Ansatz. Die Vertreter des gewaltsamen Widerstands, häufig im Exil, wurden hingegen marginalisiert. Das formale Festhalten am Recht des bewaffneten Widerstands gegen die israelische Besatzung im verabschiedeten Programm des Parteitages ändert hieran - trotz teils heftiger Reaktionen aus dem Ausland und vor allem aus Israel - nur wenig. In ihrem Abschlussdokument spricht sich die Fatah eindeutig für Verhandlungen aus. Andere Taktiken gelten hier lediglich als Fallback-Optionen. "Wir haben ein Recht auf Widerstand, aber wir wählen den Frieden", verkündete Abbas.
Diese Aussagen zur Konfliktlösung waren zugleich die einzigen politisch gehaltvollen Aussagen auf dem Generalkongress. Hinweise zur politischen Vision der Fatah, gar zu einzelnen Politikfeldern, sucht man in allen Dokumenten vergeblich. Die schwierige Einordnung in Kategorien von Links und Rechts bleibt daher bestehen - und damit auch die Frage nach ihrer politisch-ideologischen Identität. Der schwierige zweite Schritt nach dem Kongress steht der Fatah erst noch bevor.
Siegeszug der Hamas
Die Islamische Widerstandsbewegung Hamas (Harakat al-Muqawamat al-Islamiyah) in einem Beitrag zur Parteienlandschaft der palästinensischen Gebiete zu behandeln, wirft eine Reihe von Widersprüchen auf. Ähnlich wie bei der Fatah wird die Kategorie Partei dem Phänomen Hamas konzeptionell kaum gerecht. Die Hamas versteht sich seit der Gründung durch Ahmed Jassin im Jahre 1987 grundsätzlich als "Palästinensischer Arm der Muslimbruderschaft", die von Ägypten ausgehend in zahlreichen Ländern der Region über bedeutenden Einfluss verfügt. So klar die Gründung der Bewegung vor dem Hintergrund der ersten Intifada zu definieren ist, so unscharf präsentiert sich die Hamas dagegen in der Gegenwart. Was ist die Hamas im Jahre 2010? Eine irrationale und antisemitische Terrororganisation, die sich die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamischen Kalifats im historischen Palästina zur Aufgabe gestellt hat? Eine sozio-kulturelle islamische Caritas, die durch Bereitstellung von Sozialdiensten Funktionen erfüllt, die der Quasi-Staat der PA nicht umzusetzen vermag? Eine staatstragende religiös-konservative politische Partei, die sich erfolgreich an Kommunal- und Parlamentswahlen beteiligt hat und heute nicht nur in zahlreichen Städten und Gemeinden, sondern auch im Gazastreifen die staatliche Verwaltung von rund einem Drittel aller Palästinenser umsetzt?
Doch nicht nur konzeptionell, auch geographisch ist die Hamas schwer zu fassen. Wo schlägt das Herz der Bewegung: in den Flüchtlingslagern der Westbank, in denen sich vom Oslo-Prozess enttäuschte Aktivisten fundamentalistischen Widerstandsphantasien hingeben? In israelischen Hochsicherheitsgefängnissen, in denen Hamas-Aktivisten ihre Zellen mit den eigentlich verfeindeten Fatah-Häftlingen teilen und von dort aus den öffentlichen Diskurs Palästinas immer wieder mit Zwischenrufen anreichern? Im syrischen Exil, in dem sich der "Chef des Politbüros" Khaled Mashal als politischer Vetospieler geriert? In Hinterzimmern des Regimes in Teheran, das der Hamas erhebliche Finanzmittel zukommen lässt? Oder doch im bescheidenen Wohnhaus des De-facto-Gaza-Ministerpräsidenten Ismail Haniyeh, der im dicht bevölkerten Küstenstreifen seit 2007 eine Gegenregierung zu Premierminister Salaam Fayyad unter Palästinenserpräsident Abbas im Westjordanland unterhält und nach wie vor international boykottiert wird?
Die Hamas ist derzeit am ehesten als eine Bewegung im Wandel zu begreifen, die prinzipiell zwischen den umrissenen Polen des bewaffneten Kampfes, der karitativ-sozialen Arbeit und der formalen Partizipation am politischen Prozess als Partei oszilliert. Hierbei hat die Hamas jüngst an zahlreichen neuralgischen Punkten erhebliche Veränderungen durchlaufen. Diese sind letztlich als Entwicklungstrend in Richtung realpolitischer Pragmatismus zu verstehen. Zum Teil sind diese Reformen politisch gewollt und bewusst vorangetrieben, zum Teil als Reaktion auf äußere Zwänge zu begreifen. So musste die Hamas ihre karitative Arbeit in der Westbank unter der von Premierminister Fayyad geleiteten PA mittlerweile fast vollständig einstellen, während sie seit Übernahme des Gazastreifens ihre politischen state-building-Ambitionen nunmehr offen umsetzen kann. Die Übernahme des Gazastreifens ist dabei ein einmaliger Vorgang, der auch regional einen Sonderfall darstellt und erheblichen Einfluss auf die Hamas als Bewegung ausübt.
Was will die Hamas?
Westliche Beobachter beziehen sich in ihrer Beurteilung der Hamas immer wieder auf die sogenannte "Hamas Charta" aus dem Jahr 1988, in der die Bewegung augenscheinlich ihre politische Programmatik und ihren Antisemitismus offen präsentiert. Die Charta wird dabei in der Regel als Gründungsdokument der Hamas bezeichnet, welche die "Befreiung" des gesamten historischen Palästinas durch bewaffneten Kampf als Ziel definiert, Verhandlungen als "Zeitverschwendung" zurückweist, Gesamtpalästina als niemals zu teilendes islamisches Erbe begreift und dem Staat Israel jede Daseinsberechtigung abspricht. In Bezug auf diese politische Agenda der Hamas Charta, aber auch auf die das Dokument durchziehenden antisemitischen Verschwörungstheorien, werden Versuche der kritischen Einbindung der Hamas immer wieder als illusorisch oder defätistisch zurückgewiesen. Obwohl eine solche Bewertung im Hinblick auf die Charta gerechtfertigt erscheinen mag, lässt sie bedeutende jüngere Entwicklungen außer Acht. Derzeit finden sich keinerlei aktuellen Erklärungen der Hamas, die auf die Charta verweisen oder politisches Handeln durch Verweis auf das Dokument rechtfertigen.
Aufschlussreicher für die Gegenwart erscheinen aktuellere Politikkonzepte der Hamas, die entgegen verbreiteter Annahmen detailliert vorliegen. Zu verweisen ist hier etwa auf das Hamas Wahlprogramm aus dem Jahr 2005, den Programmentwurf für eine palästinensische Koalitionsregierung aus dem Jahr 2006 sowie das Grundlagenpapier des Hamas-Kabinetts vom März 2006. Eine Analyse dieser Politikentwürfe macht eine Weiterentwicklung der politischen Agenda der Hamas deutlich, die in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen ist. Während die Hamas Charta noch martialisch zum Kampf aufrief, bis "das Banner Allahs über jeden Zentimeter von Palästina aufgepflanzt wird", bezieht sich das rund 20-seitige Wahlprogramm von 2005 nur noch an zwei Stellen auf "militärische Aktionen" gegen Israel und das Konzept des bewaffneten "Widerstandes" (Artikel 1 und 8). 16 Absätze thematisieren dagegen bildungspolitische Fragen, Verwaltungsreformen und Bürgerrechte, legen zugleich jedoch auch fest, dass die "islamische Scharia die wichtigste Quelle der Gesetzgebung in Palästina sein" soll. Gemeinhin charakterisiert dieses Wahlprogramm eine erste Neuorientierung der Hamas in Richtung einer politischen Partei.
In der Praxis wurde dieser Wandlungsprozess mit der Entscheidung zur Teilnahme an den Wahlen zum PLC im Jahr 2005 untermauert. Noch im Jahr 1996 hatte die Hamas die Wahlen als faktische Anerkennung des Oslo-Prozesses boykottiert. Eine Fortsetzung fand diese programmatische Weiterentwicklung im Programmentwurf für eine Koalitionsregierung aus dem Jahr 2006. In diesem hatte sich die Hamas erfolglos bemüht, die unterlegene Fatah für eine gemeinsame Regierungsübernahme in den Palästinensergebieten zu gewinnen. In 40 Artikeln weitet der Entwurf inhaltlich durch Diskussion der "Rolle von Berufsgenossenschaften und Gewerkschaften" (Artikel 23) sowie der "Zivilgesellschaft" (Artikel 22) den politischen Horizont der Bewegung und verzichtet nahezu gänzlich auf kompromisslose Widerstandsrhetorik im Geiste der Charta. An diese inhaltlichen Entwicklungen anschließend präsentierte Ministerpräsident Haniyeh am 27. März 2006 schließlich ein Regierungsprogramm, das unter anderem ökonomische Fragestellungen freier Marktwirtschaft erörtert sowie "notwendige Anreize und Garantien für Auslandsinvestitionen" ankündigt, da diese eine "Kernsäule nachhaltiger Entwicklung" darstellen.
Der Rückgriff auf diese Politikentwürfe kann sicherlich nicht den Beweis dafür erbringen, dass die Hamas nunmehr den Entwicklungsprozess hin zu einer rein an Sachfragen interessierten demokratisch legitimierten Regierungspartei abschließend durchlaufen hat. Eine solche Einschätzung verhindert schon die mehr als gemischte Menschenrechtsbilanz in Gaza seit der Hamas-Machtübernahme.
Im Mai 2009 trat der Chef des Politbüros in Damaskus an die Öffentlichkeit und verkündete ein faktisches Umschwenken der Hamas auf die Errichtung eines Palästinenserstaates in der Westbank und im Gazastreifen. "Unsere Minimalforderung ist die Gründung eines palästinensischen Staates mit voller Souveränität in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt. Wir fordern eine Beseitigung aller Checkpoints und das Recht auf Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge", erklärte Khaled Mashal. Haniyeh hatte sich in Gaza kurz zuvor ähnlich positioniert. Anders als in früheren Erklärungen verzichteten Haniyeh und Mashal auf jeden Verweis darauf, dass die Etablierung eines Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967 lediglich Bestandteil der Befreiung Gesamtpalästinas "in Phasen" darstelle. Von Mashal wurde hierbei mittlerweile gar eine Waffenruhe (Hudna) von bis zu 100 Jahren in Aussicht gestellt.
Die hier zu beobachtende Neuorientierung in Richtung einer impliziten Koexistenz mit Israel wird auch dadurch offenbar, dass die Hamas mittlerweile von radikaleren Gruppen wegen ihrer angeblichen Kapitulation gegenüber dem "zionistischen Feind" kritisiert und auch militärisch bekämpft wird.
Die Kritik von radikaleren Gruppen ist ein Grund, weshalb von der Hamas auch in Zukunft eine formelle Akzeptanz des Existenzrechtes Israels nicht zu erwarten ist. Sie erklärt nicht zuletzt auch die Ansprache Haniyes in Gaza, in der er jüngst anlässlich des 22. Jahrestages der Hamas-Gründung einen politischen Anspruch auf "ganz Palästina" zumindest rhetorisch auf der Agenda hielt.
Wer führt die Hamas?
Angesichts der anhaltenden internationalen Isolation und der Fortsetzung der sogenannten "targeted killings" Israels gegen Entscheidungsträger der Hamas erstaunt es nicht, dass die Hamas ihre Organisationsstruktur stets so intransparent wie möglich gehalten hat. In der Öffentlichkeit hat sich angesichts der spärlichen Informationen eine simplistische Wahrnehmung der Hamas-Führungsstruktur durchsetzen können, die der Realität kaum gerecht wird. Regelmäßig findet sich hier etwa die These einer Dichotomie zwischen "Exil-" und Inlands-Hamas, wobei letztere in der Regel als politisch "moderater" charakterisiert wird.
Da diese Entscheidungsstrukturen stetigen Änderungen unterworfen sind, stellt sich die Frage, an welcher Stelle das politische Momentum der Bewegung derzeit besonders groß ist. Angesichts der Etablierung der Hamas im Gazastreifen als De-facto-Staatspartei scheint besonderes Gewicht derzeit auf den Entscheidungsträgern in Gaza zu liegen. Dieser Trend würde der grundsätzlichen Entwicklung innerhalb palästinensischer Gruppen entsprechen, in denen die Exilführer langfristig gegenüber den Entscheidungsträgern vor Ort an Einfluss eingebüßt haben.
Ungewiss: Versöhnung zwischen Fatah und Hamas
Angesichts der Tatsache, dass die anhaltende Konfrontation zwischen Fatah und Hamas die internationale Verhandlungsposition der Palästinenser erheblich schwächt, bemühen sich beide Parteien seit langem - vor allem unter ägyptischer Ägide - ihre Differenzen zu begraben. Ziel ist, Gaza sowie die A- und B-Zonen der Westbank wieder unter die Kontrolle einer Einheitsregierung zu stellen, die von Fatah und der Hamas unterstützt oder zumindest toleriert wird. Eine solche "Nationale Versöhnung" wird dabei auch deshalb immer dringender, weil Fatah und Hamas ihre spätestens seit Januar 2010 abgelaufenen politischen Mandate durch Wahlen nur dann überzeugend erneuern können, wenn sie sich auf einen gemeinsamen Wahlablauf geeinigt haben. Trotz der Dringlichkeit ist mit einer raschen Überwindung der Spaltung nicht zu rechnen. Zwar hat die Fatah anders als die Hamas das vom ägyptischen Verhandlungsführer Omar Suleyman unterbreitete Versöhnungsdokument öffentlichkeitswirksam unterzeichnet, eine Umsetzung der vereinbarten Schritte wäre jedoch auch bei einem Einlenken der Hamas unwahrscheinlich. Denn dies würde von Hamas und Fatah die weitgehende Aufgabe ihrer jeweiligen Machtmonopole verlangen. Hierzu jedoch scheint keine der beiden Bewegungen derzeit bereit. Der die Gesamtregion durchziehende Konflikt islamischer Protestakteure mit nationalistisch-säkularen Staatsmächten dürfte auf die Palästinensischen Gebiete bezogen auf absehbare Zeit auch weiterhin in einer geographischen Spaltung münden.
Auf der Suche nach Alternativen
Die bestehende Dominanz von Fatah und Hamas hat die Entwicklung weiterer Parteien nicht ausgeschlossen. Zu erwähnen sind hier etwa die "linken" Parteien wie Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP), Partei des Palästinensischen Volkes (PPP) und die von der EU als Terrororganisation gelistete Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP). Obgleich institutionell in der PLO vertreten, ist das Potenzial dieser Gruppierungen begrenzt. Da sie in der Vergangenheit stets die Fatah unterstützten, werden sie zudem kaum als Alternative zum politischen Establishment wahrgenommen.
Unzufrieden mit Fatah und Hamas gründeten Intellektuelle wie Edward Said und Mustafa Barghouti im Jahr 2002 die Palästinensische Nationale Initiative (Al-Mubadara) als linksliberale Alternative. Obwohl inhaltlich ausdifferenziert, konnte Al-Mubadara die Erwartungen als Partei bislang nur teilweise erfüllen. Zwar konnte ihr Vorsitzender Barghouti bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen 19 % auf sich vereinen, schnitt bei den Parlamentswahlen jedoch bescheidener ab. Faktisch wirbt die Partei mit dem Konzept des gewaltlosen Widerstandes um Wähler, die sich weder für Hamas noch für Fatah aussprechen möchten und agiert in der Dichotomie zwischen Hamas und Fatah immer wieder auch als Vermittler.