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Nord-Süd-Beziehungen: Globale Ungleichheit im Wandel? | Entwicklungspolitik | bpb.de

Entwicklungspolitik Editorial Die Millenniumsentwicklungsziele - eine gemischte Bilanz Nord-Süd-Beziehungen: Globale Ungleichheit im Wandel? Entwicklung durch Handel? Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses Aufstrebende Mächte als Akteure der Entwicklungspolitik Mehr Kohärenz in der Entwicklungspolitik durch Geberkoordination? Wirkungsevaluierung in der Entwicklungszusammenarbeit

Nord-Süd-Beziehungen: Globale Ungleichheit im Wandel?

Tanja Ernst Ana María Isidoro Losada Tanja Ernst / Ana María Isidoro Losada

/ 13 Minuten zu lesen

Erklärt wird, was globale soziale Ungleichheiten sind. Obwohl strukturelle Asymmetrien fortbestehen, deutet der ökonomische Aufstieg und das neue politische Selbstbewusstsein einiger Schwellenländer auf einen Wandel.

Einleitung

Aus liberaler Perspektive, die sowohl die Massenmedien als auch internationale Finanzinstitutionen dominiert, befördert der in den vergangenen Jahrzehnten weltweit zu beobachtende politische und ökonomische Strukturwandel Entwicklung, Wachstum und steigenden Wohlstand. Das marktliberale Credo lautet, die weltweite Öffnung für Handel und Investitionen, die Steigerung der Exporte, Privatisierung, Deregulierung sowie Flexibilisierung von Arbeitsmärkten steigerten das Wirtschaftswachstum und den Lebensstandard aller. So werde mit der Anhebung des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens Armut reduziert und langfristig auch der ökonomische und soziale Aufstieg der unteren Einkommensgruppen erzielt.

Angenommen wird zudem, dass ärmere Länder, die ihre Märkte konsequent öffnen und ihre Nationalökonomien liberalisieren, aufgrund des niedrigen Ausgangsniveaus schneller wachsen, so dass sich die weltweit bestehenden Einkommensunterschiede mit der Zeit angleichen.

Der nachfolgende Beitrag versucht keine generalisierende Antwort auf die vereinfachende Frage zu geben, ob die ökonomischen und politischen Wandlungsprozesse, die allgemein unter dem Schlagwort Globalisierung diskutiert werden, "positiv" oder "negativ" zu bewerten sind, sondern rückt einen konkreten Aspekt des Strukturwandels, d.h. die soziale Ungleichheit und aktuelle Tendenzen globaler Ungleichheit, in den Blick. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, ob und welche Veränderungen weltweite Asymmetrien in den vergangenen Jahrzehnten erfahren haben.

Ungleichheit: eine begriffliche Annäherung

Soziale Ungleichheiten kennzeichnen alle Gesellschaften, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Es geht dabei nicht um körperliche Merkmale oder kulturelle Differenzen, sondern um die Verteilung von Lebenschancen und ungleiche Verfügungsrechte über materielle und immaterielle Güter, die innerhalb einer Gesellschaft als notwendig, wertvoll sowie erstrebenswert erachtet werden.

Ungleichheit ist kein Naturzustand, wie Jean-Jacques Rousseau bereits im Jahr 1754 schrieb, sondern ein gesellschaftlich produziertes und reproduziertes Phänomen, deren Legitimität stets umkämpft bleibt. Damit vertritt Rousseau, wie später Karl Marx, einen relationalen Ungleichheitsbegriff. Relational bedeutet, dass davon ausgegangen wird, dass die historische Entstehung von gesellschaftlichen Klassen und Ausbeutungsverhältnissen in einem direkten bzw. ursächlichen Zusammenhang mit der Durchsetzung von Arbeitsteilung und Privateigentum stehe.

Auch Kritikerinnen und Kritiker des Klassenkonzeptes bestreiten nicht, dass Ungleichheit gesellschaftlich produziert und reproduziert wird. Aber sozialstrukturelle Unterschiede sind aus ihrer Sicht die Voraussetzung für die Sicherung von Konkurrenz- und Leistungsprinzipien, welche als unverzichtbar für die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik betrachtet werden. In dieser als funktionalistisch bezeichneten Lesart stellen materielle (z.B. Einkommen) und immaterielle (z.B. Macht) Güter wichtige Anreize und Belohnungen für Leistungsträgerinnen und -träger dar.

Empirisch lässt sich das funktionalistische Argument rasch widerlegen. So lässt sich anhand verschiedener geschichtlicher Epochen und Kulturen zeigen, dass die Besetzung wichtiger Positionen keineswegs allein aufgrund von Kompetenz und Leistungsmerkmalen erfolgt, sondern diese häufig an Herkunft und sozialen Status gebunden sind. Das Glück der Geburt sowie höchst ungleich verteilte Förderungsmöglichkeiten und Zugangschancen dienen so der Sicherung und Fortführung von bestehenden Privilegien, Macht- und Besitzverhältnissen. Sozial und ökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen hingegen verfügen oft gar nicht über die Möglichkeiten, ihre Talente zu entdecken, zu entfalten und gesellschaftlich einzubringen. Strukturell betrachtet ist soziale Ungleichheit demnach relational, auch wenn sie, funktionalistisch betrachtet, Einzelnen über individuelle Leistungen soziale Mobilität und Aufstiegschancen eröffnen kann.

Soziale Ungleichheit spiegelt die Macht-, Herrschafts- und Besitzverhältnisse sowohl innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen den nationalstaatlich verfassten Gesellschaften wider. Die Ungleichheitsforschung unterscheidet zwischen vertikalen und horizontalen Ungleichheiten. Zu den vertikalen Ungleichheiten zählen sozioökonomische Benachteiligungen wie die Einkommens- und Vermögensverteilung und die Art der Besteuerung, der (fehlende) Zugang zu Land, Produktionsmitteln und Krediten, zum formalen Arbeitsmarkt oder auch staatlichen Leistungen der Daseinsfürsorge (Bildung, Gesundheit, Basisinfrastruktur und soziale Sicherungssysteme).

Diese Benachteiligungen sind mit horizontalen Ungleichheiten verschränkt. Diese umfassen eingeschränkte gesellschaftliche und politische Teilhabe oder verringerte Zugangschancen, die über symbolische sowie institutionalisierte Benachteiligungen und Ausschlüsse durchgesetzt werden, welche sich aus der Nationalität bzw. Staatsangehörigkeit, dem Geschlecht, der Hautfarbe, der Religionszugehörigkeit, der Kultur, dem Alter, Behinderungen, räumlichen Disparitäten oder negativen Klima- und Umweltbedingungen ergeben.

So zählen Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Klassenantagonismen bis heute zu den zentralen Achsen weltweiter Ungleichheit, die sich jedoch nicht automatisch addieren, sondern überlagern und wechselseitig verstärken oder auch abschwächen können.

Das heißt, obwohl lokale und nationale Faktoren eine wesentliche Rolle bei der Erklärung von Ungleichheit einnehmen, muss immer auch ihre globale Verfasstheit berücksichtigt werden. So beeinflussen globale Regime (wie das europäische Grenz- und Migrationsregime) sowohl direkt als auch indirekt die Lebenslage Einzelner und sind eng mit der Entwicklung sozialer und ökonomischer Disparitäten in den einzelnen Nationalstaaten verknüpft. Die globale Durchsetzung von Partikulinteressen der ökonomisch, politisch und militärisch einflussreichen Staaten lassen sich auch anhand protektionistischer Handels- und Subventionsmaßnahmen der Industrieländer und hier insbesondere im Kontext der massiven Agrarsubventionen veranschaulichen.

Wichtig ist also bei der Betrachtung der weltweiten Ungleichheit nicht nur ökonomische Daten heranzuziehen, sondern weitere Faktoren zu berücksichtigen. Das Privileg oder der Nachteil einer bestimmten Staatsbürgerschaft (Pass) und damit verbundener Rechte (wie Mobilität und Visa) oder eben auch die Rechtlosigkeit (illegalisierte Migration), die Auswirkungen der internationalen Arbeitsteilung (Rohstoffexporteur versus Fertigwaren- und Konsumgüterexporteur) sowie historische und aktuelle Dimensionen ihrer Durchsetzung (Kolonisierung, Imperialismus, Protektionismus und Subventionspolitiken, Neokolonialismus) üben einen entscheidenden Einfluss aus.

Des Weiteren sind das Geschlecht, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnisch-kulturellen Gruppe oder auch räumliche Aspekte (Stadt-Land-Gefälle, Wachstumszentren und prosperierende Pole versus Hinterland und ökonomisch an Bedeutung verlierende Branchen und Regionen) von großer Bedeutung für die weltweit höchst ungleichen Lebenschancen, den Grad der sozialen und politischen Teilhabe sowie den Zugang zu materiellen Ressourcen.

Aus sozial-ökologischer Perspektive spielen zudem auch Konflikte um knapper werdende natürliche Ressourcen (wie Wasser oder fossile Energieträger) innerhalb und zwischen Gesellschaften eine immer wichtigere Rolle. So illustriert die aktuelle Diskussion um den Klimawandel die drastische internationale Ungleichverteilung von Nutzen und Kosten bzw. den höchst ungleichen Ressourcenverbrauch und das Konsum- und Wohlstandsgefälle zwischen dem Norden und Süden sowie die ungleichen technologischen und finanziellen Möglichkeiten von Individuen und Gesellschaften, um auf die klimatischen Umweltauswirkungen sowie vermehrt auftretenden Naturkatastrophen reagieren zu können.

Empirisches und theoretisches Nord-Süd-Gefälle

Die Soziologie bearbeitete die Fragen der sozialen Ungleichheit bisher überwiegend im nationalstaatlichen Bezugsrahmen. Weltweite sowie zwischenstaatliche Ungleichheiten wurden dagegen kaum in den Blick genommen. Während in den 1990er Jahren die internationalen Entwicklungs- und Finanzorganisationen den Diskurs um die Bekämpfung der weltweiten Armut zunehmend in den Mittelpunkt rückten, sind Zahlen und Fakten über die Entwicklung von Ungleichheit im Weltmaßstab erstaunlich selten. Dass dies kein Zufall ist, sondern durchaus politischen Motiven entspringen könnte, wird jüngst zunehmend kritisiert. So benennt Branko Milanovic ungewohnt deutlich, dass diese Forschungslücke augenscheinlich den Interessen der Eliten diene, da eine stärkere Thematisierung von Ungleichheit die Legitimität der bestehenden Reichtumsverteilung in Frage stellen könnte.

Statistische Fallstricke

Die Dominanz aggregierter, makroökonomischer Daten zur Illustration weltweiter Ungleichheit resultiert zum einen aus der Bedeutung, die (scheinbar) objektiven und quantitativ vergleichbaren Datenerhebungen beigemessen wird und ist zum anderen häufig alternativlos, da sie schlichten Gründen der Machbarkeit bzw. dem Aufwand statistischer Erfassbarkeit und Messbarkeit folgt.

Anstelle weiterer Kritik an dieser verkürzten Perspektive wird hier für einen pragmatischen und kritischen Umgang mit der internationalen Datenjonglage plädiert. Es gilt deutlich zu machen, dass Statistiken keinen Wahrheitsgehalt beanspruchen können und allen mathematischen Formeln und Feinheiten zum Trotz nicht neutral sind. Mit Blick auf das internationale Ungleichheitsgefälle erlauben sie, strukturelle ökonomische Asymmetrien und nationale sowie weltweite Entwicklungen und Trends, manchmal auch im historischen Vergleich, relativ verlässlich abzubilden - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Sie erklären weder Ursachen noch komplexe Zusammenhänge von Ungleichheit und sind nicht geeignet, um die real existierende Vielfalt, Verflechtung und die Dynamiken innergesellschaftlicher oder gar zwischenstaatlicher Ungleichheiten zu erfassen. Untersuchungen über Nord-Süd-Asymmetrien lassen sich also durchaus über Zahlen veranschaulichen, sollten aber nicht allein darauf reduziert werden.

Milanovic hat im Jahr 2009 die überschaubare Anzahl an weltweiten Langzeituntersuchungen zur Entwicklung von Einkommensungleichheiten verglichen und erneut überarbeitet. Er kommt zum Schluss, dass die globale Ungleichheit bzw. der weltweite Gini-Koeffizient (ein statistisches Maß zur Bestimmung von Einkommensverteilungen) kontinuierlich zugenommen haben. Hervorzuheben ist dabei, dass sich vor allem die Zusammensetzung der globalen Einkommensungleichheit verändert habe. War globale Ungleichheit lange durch klassenbasierte Unterschiede innerhalb der Länder gekennzeichnet, werde sie heute vor allem von dem Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern bestimmt.

Letzteres wird von anderen Untersuchungen bestätigt. So hat sich, obwohl das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der Weltbevölkerung kontinuierlich gestiegen ist, das Wohlstandsgefälle innerhalb - aber vor allem zwischen den armen und den reichen Ländern - beständig vergrößert. Die große Mehrheit der Untersuchungen nehmen zudem eine deutliche Verschärfung der zwischenstaatlichen sowie innerstaatlichen Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen an. Kreckel zufolge gehen die neueren Untersuchungen davon aus, dass ca. 75 % der weltweiten Ungleichheit international und nur 25 % national erklärbar seien.

Entscheidend für eine eher optimistische oder pessimistische Einschätzung der weltweiten Ungleichheits- bzw. Armutsentwicklung sind vor allem die jüngsten ökonomischen Wachstums- und Entwicklungserfolge in den bevölkerungsreichen Staaten China und Indien. Ohne die Berücksichtigung Chinas müssten auch vehemente Globalisierungsbefürworterinnen und -befürworter die Vertiefung der weltweiten Einkommensungleichheit bestätigen. Doch das Aggregationsniveau der Daten verzerrt nicht nur den allgemeinen Trend der globalen Ungleichheitsentwicklung und die weltweit zu beobachtende Polarisierung von Einkommens- und Vermögenskonzentrationen, sondern versperrt auch den Blick auf die innerstaatlichen Disparitäten. So hat das Wirtschaftswachstum sowohl im Falle Chinas als auch Indiens zu einer Verringerung der zwischenstaatlichen Ungleichheit geführt, zeitgleich hat sich aber die nationale Ungleichverteilung der Einkommen insbesondere in China verschlechtert.

Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) bestätigt einen Anstieg der weltweiten Ungleichheit. Demzufolge sei die Ungleichheit in den ökonomisch prosperierenden Ländern Asiens, in den neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, in Lateinamerika, den Schwellenländern sowie den Industriestaaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten gestiegen, während sie in einigen Ländern Subsahara-Afrikas leicht zurück gegangen sei. In den Industriestaaten des Nordens sei die Ungleichheit nur in Frankreich zurückgegangen, während sich das Bild der aufstrebenden Schwellenländer deutlich differenzierter darstelle: sinkende Ungleichheit in Brasilien, wenig Veränderungen in Indien und eine signifikante Zunahme der Ungleichheit in China.

Ökonomische und politische Emanzipation des Südens?

Den hier genannten Zahlen zum Trotz ließen sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrtausends bemerkenswerte Machtverschiebungen sowohl in der Weltwirtschaft als auch auf dem internationalen politischen Parkett beobachten.

Zahlreiche Schwellen- und vereinzelt auch Entwicklungsländer verzeichneten nach der Finanzkrise 2001/2002 ein markantes BIP-Wachstum von über 6 %, während die Industrieländer lediglich mit 2,5 % aufwarten konnten. Insbesondere rohstoffexportierende Länder wie Venezuela, Bolivien, Chile, Russland, aber auch einzelne Länder Subsahara-Afrikas profitieren von dem anhaltenden Ressourcenbedarf Chinas und der weltweit hohen Nachfrage nach Erdgas und Erdöl.

Grundsätzlich gelang es zahlreichen Schuldnerländern Lateinamerikas über den exponentiellen Anstieg der Rohstoffpreise sowie die parallele Neuverhandlung von Förder- und Abbaukonzessionen bzw. Abgaberegelungen für ausländische Investoren, die Dramatik der Schuldenfalle deutlich zu entschärfen. Diese makroökonomischen Entwicklungen gehen mit der politischen Emanzipation und verstärkten Süd-Süd-Kooperationen einzelner Länder und Regionen, insbesondere Ostasiens und Indiens, aber auch einiger Länder Südamerikas einher.

Rolle der BRIC-Staaten

Die bis dato führende Rolle der USA als größter Außenhandelspartner zahlreicher Schwellen- und Entwicklungsländer wird seit einigen Jahren insbesondere durch die sogenannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) in Frage gestellt. So löste beispielweise die Volksrepublik China im Jahr 2009 die USA als bedeutendsten Außenhandelspartner Brasiliens ab. Zudem zählt das Land der Mitte seit dem Jahr 2008 angesichts seiner immensen Devisenreserven nicht mehr zu den Schuldnerländern, sondern zu den zentralen Gläubigernationen: China fällt mittlerweile nicht nur auf dem afrikanischen und lateinamerikanischen Kontinent eine exponierte Rolle als umworbener Geldgeber zu, sondern es tritt auch als größter Gläubiger der USA auf.

Bereits im Zuge der Auswirkungen der Finanzkrise 1997/1999 identifizierten Arrighi u.a. eine globale Zweiteilung zwischen den USA und Ostasien, welche auf der einen Seite den USA weiterhin die uneingeschränkte militärische Vormachtstellung attestierte, während auf der anderen Seite Ostasien sich auf dem finanziellen und wirtschaftlichen Sektor immer mehr Terrain und Einfluss zu sichern vermochte.

Nach den wiederholten Finanz- und Währungskrisen seit Ende der 1990er Jahre, welche das Scheitern des Patentrezeptes neoliberaler Strukturanpassungsmaßnahmen offenbarten, sah sich der IWF mit einer rapide zunehmenden politischen Delegitimation und sinkenden Nachfrage nach Krediten konfrontiert. Boris und Schmalz weisen darauf hin, dass sowohl die Chiang Mai-Initiative in Ostasien als neuem alternativen regionalen Liquiditätsfonds als auch die Gründung der Bank des Südens (Banco del Sur) in Lateinamerika zudem auf eine Diversifizierung der ehemals von OECD-Ländern dominierten Gläubigerinstitutionen hindeuten.

Die Abnahme finanzieller Abhängigkeiten und die Möglichkeit alternativer Finanzquellen erlaubte vielfach die Aufkündigung der von Seiten des IWFs und der Weltbank implementierten wirtschafts- und ordnungspolitischen Konditionalitäten und stärkte das Auftreten der Schuldnerländer.

Die im Jahr 2008 ausgebrochene Finanzkrise beschleunigte diese Neukonfiguration der politischen und wirtschaftlichen Machtkonstellationen. Auch wenn sich der IWF als Kreditvergabeinstanz insbesondere für die in die Krise geratenen osteuropäischen Staaten neu konsolidieren konnte, zeichnen sich seither weitere Veränderungen ab. Länder und Regionen wie Ostasien, Russland und Südamerika bewältigten die Krise entweder durch Eigenmittel oder über bilaterale Hilfe und verzichteten auf die Unterstützung durch den IWF.

Angesichts seines Bedeutungsverlustes reagierte der IWF im Jahr 2007 mit ersten zaghaften Reformangeboten. Doch die seit langem von Entwicklungsländern geforderte Stimmrechtsreform erfolgte erst im vergangenen Jahr und nur im Zuge der Auswirkungen der massiven Finanzkrise sowie dem konzertierten Druck der BRIC-Staaten. Auch hier blieb sie hinter den Forderungen und Erwartungen zurück, hob das Stimmgewicht der Schwellen- und Entwicklungsländer allerdings um 5 % der Stimmen an.

Die G20 konnten sich innerhalb der internationalen politischen Aushandlungsarenen, so im Kontext der vergangenen Finanzgipfel, erkennbar als zentrales Forum etablieren und haben zukünftig jährlich stattfindende Treffen vereinbart. Auch in anderen auf der internationalen Ebene etablierten Politik- und Machtforen zeichnen sich Veränderungen ab: Die Kritik am Demokratiedefizit und der mangelnden Legitimität der G8 machten Reformen und die Öffnung der G8 für China und einige der neuen Regionalmächte möglich. Allem politischen Druck zum Trotz wurde Brasilien, China, Indien und Südafrika aber lediglich ein Beobachterstatus eingeräumt.

Weder American Empire noch Global Governance

Der jüngste ökonomische Aufstieg von Ländern wie China, Indien und anderen Schwellenländern sowie die Projekte einer verstärkten Süd-Süd-Kooperation und regionaler Integrationsversuche (oft nach dem Vorbild der EU) gingen mit dem gewachsenen politischen Selbstbewusstsein einiger Länder des Südens in den internationalen Arenen der Entscheidungsfindung einher.

Darüber hinaus gewinnen global agierende nichtstaatliche Akteure wie transnationale Unternehmen, Medienanstalten, private Sicherheitsagenturen, Lobbygruppen, Nichtregierungsorganisationen oder soziale Bewegungen politisch zunehmend an Bedeutung. All diese Entwicklungen stellen die Hegemonieansprüche der USA, Europas und Japans und die Vorstellung einer Welt, in welcher der "Norden" dominiert und der Rest der Welt ökonomisch, politisch und ideologisch einfach subsumiert wird, immer stärker in Frage.

Diese dichotome Perspektive wird der weltweiten sowie innerstaatlich enormen Heterogenität und Komplexität bestehender Macht- und Herrschaftsverhältnisse einschließlich ihrer vielfachen Verflechtungen nicht gerecht. Doch trotz dieser eher unerwarteten Verschiebungen im weltweiten Geflecht ökonomischer und politischer Beziehungen bleibt festzuhalten, dass strukturelle sozioökonomische Ungleichheiten, Abhängigkeiten und Dominanzen nach wie vor Bestand haben und (neo)liberale Politiken weit(er)hin dominieren.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Martin Wolf, Why Globalization Works, New Haven-London 2004; David Dollar, Globalization, Poverty and Inequality since 1980, in: David Held/Ayse Kaya (eds.), Global Inequality, Cambridge 2007, S. 73 - 103.

  2. Vgl. Nicole Burzan, Soziale Ungleichheit: Eine Einführung in die zentralen Theorien, Wiesbaden 2007, S. 7; Reinhard Kreckel, Politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/M. 2004, S. 17.

  3. Vgl. Thomas W. Pogge, Why Inequalities Matters, in: D. Held/A. Kaya (Anm. 1), S. 132 - 147.

  4. Branko Milanovic, Hauptverantwortlicher der Weltbank für das Thema Armut, Einkommensverteilung und Ungleichheit, unterscheidet zwischen internationaler und globaler Ungleichheit. Während erstere Ungleichheit auf der Basis von durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen zwischen einzelnen Staaten fokussiert, bezieht sich letztere auf die Ungleichheit zwischen Individuen weltweit, wobei sowohl Einkommensungleichheiten zwischen den Ländern als auch innerstaatliche Ungleichheiten berücksichtigt werden.

  5. Vgl. Branko Milanovic, Why We All Do Care About Inequality (but are loath to admit it), online: http://129.3.20.41/eps/hew/papers/0404/0404001.pdf (20.1. 2010).

  6. So können global betrachtet meist nur die nationalen Durchschnittswerte, wie das Bruttsozialprodukt (BSP) pro Kopf, mit dem kaufkraftbereinigten durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen anderer Länder verglichen werden. Die Ungleichverteilung des BSP innerhalb der einzelnen Länder wird dabei nicht berücksichtigt. Das heißt, über die Lebenschancen des/der Einzelnen sagen diese Daten nichts aus. Esping-Andersen u.a. weisen zudem darauf hin, dass statistische Momentaufnahmen, wie die Messung von Gini-Koeffizienten oder Armutsraten, zwar Aussagen über den durchschnittlichen Betroffenheitsgrad erlauben, aber Dynamiken von Ungleichheit nicht zu erfassen vermögen. So lassen diese Daten auch keinerlei Rückschlüsse zu, ob es sich um vorübergehende oder chronische Formen der Einkommensarmut handelt; vgl. G?sta Esping-Andersen, More Inequality and Fewer Opportunities? Structural Determinants and Human Agency in the Dynamics of Income Distribution, in: ebd., S. 216 - 251; Bob Sutcliffe, The Unequalled and Unequal Twentieth Century, in: ebd., S. 50 - 72; Sylvia Walby, Globalization & Inequalities, London 2009.

  7. Milanovic geht von rund 43 bis 45 Punkten im Jahr 1820, von 61,6 Punkten im Jahr 1929, von 63,5 Punkten im Jahr 1960, von 65,7 Punkten im Jahr 1980 und von 70,7 Punkten für das Jahr 2002 aus; vgl. Branko Milanovic, Global Inequality and the Global Inequality Extraction Ratio. The Story of the Past Two Centuries, Policy Research Working Paper, Nr. 5044, World Bank, Washington 2009, S. 5 ff.

  8. Ebd.

  9. Vgl. Reinhard Kreckel, Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext. Der Hallesche Graureiher, Forschungsberichte des Instituts für Soziologie an der MLU Halle-Wittenberg, (2006) 4. Vorsichtigere Schätzungen gehen von 60 % bis 90 % bzw. 10 % bis 40 % aus.

  10. Vgl. Robert Hunter Wade, Should We Worry about Income Inequality since 1980?, in: D. Held/A. Kaya (Anm. 1), S. 104 - 131.

  11. Vgl. Florence Jaumotte/Subir Lall/Chris Papageorgiou, Rising Income Inequality: Technology, or Trade and Financial Globalization?, IMF, Working Paper, WP/08/185, (2008), S. 6.

  12. Vgl. Boike Rehbein, Aspekte der globalen Sozialstruktur, in: Hans-Jürgen Burchardt (Hrsg.), Nord-Süd-Beziehungen im Umbruch. Neue Perspektiven auf Staat und Demokratie in der Weltpolitik, Frankfurt/M.-New York 2009, S. 303 - 333; Dieter Boris/Stefan Schmalz, Eine Krise des Übergangs: Machtverschiebungen in der Weltwirtschaft, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 39 (2009), S. 625 - 643; Dana de la Fontaine/Jurek Seifert, Die Afrikapolitik Brasiliens: Was steckt hinter der Süd-Süd-Kooperation?, in: Helmut Asche u.a. (Hrsg.), Afrika und externe Akteure - Partner auf Augenhöhe?, Baden-Baden 2010 (i.E.).

  13. Vgl. D. Boris/S. Schmalz (Anm. 12), S. 629.

  14. Vgl. Helmut Sangmeister, "Gemeinsam sind wir (nicht) stärker!" Perzeptionen, Illusionen und Visionen in den sino-lateinamerikanischen Wirtschaftsbeziehungen, Vortrag im Rahmen der Tagung "Lateinamerikas neue außenpolitische Orientierungen" in der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 7./8. Mai 2009; Helmut Reisen, Wer hat Angst vor China in Afrika?, in: Internationale Politik, (2007) 5, S. 98f.

  15. Giovanni Arrighi/Beverly Silver (eds.), Chaos and Governance in the Modern World System, Minneapolis-London 1999.

  16. Vgl. D. Boris/S. Schmalz (Anm. 12), S. 637.

  17. Vgl. IWF Fact sheet: IMF Quota, online: www.imf. org/external/np/exr/facts/quotas.htm (20.1. 2010).

  18. Die G20 gründeten sich im Jahr 1999 und sind mittlerweile zu einem in den globalen Verhandlungsarenen nicht mehr zu hintergehenden politischen Zusammenschluss avanciert. Zu den Kernstaaten zählen: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei, die USA und die EU.

  19. Vgl. D. Boris/S. Schmalz (Anm. 12), S. 637ff.

  20. Vgl. Michael Zürn, Institutionalisierte Ungleichheit in der Weltpolitik. Jenseits der Alternative "Global Governance" versus "American Empire", in: Politische Vierteljahresschrift, 4 (2007), S. 680 - 704.

Dipl.-Ing., geb. 1973; Promovendin der Politikwissenschaft an der Universität Kassel; Gesellschaftswissenschaften, Nora-Platiel-Straße 1, 34127 Kassel.
E-Mail: E-Mail Link: Tanja.Ernst@gmx.net

Dipl.-Ing., geb. 1973; Promovendin der Politikwissenschaft an der Universität Kassel (s.o.).
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