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Die Millenniumsentwicklungsziele - eine gemischte Bilanz | Entwicklungspolitik | bpb.de

Entwicklungspolitik Editorial Die Millenniumsentwicklungsziele - eine gemischte Bilanz Nord-Süd-Beziehungen: Globale Ungleichheit im Wandel? Entwicklung durch Handel? Zur Kritik des Entwicklungsdiskurses Aufstrebende Mächte als Akteure der Entwicklungspolitik Mehr Kohärenz in der Entwicklungspolitik durch Geberkoordination? Wirkungsevaluierung in der Entwicklungszusammenarbeit

Die Millenniumsentwicklungsziele - eine gemischte Bilanz

Uwe Holtz

/ 15 Minuten zu lesen

Bei der Realisierung der Millenniumsziele, der defizitären Vision einer besseren Welt, gibt es Licht und Schatten. Verstärkte Anstrengungen für eine nachhaltige, menschenwürdige Entwicklung sind nötig.

Einleitung

Im September des Jahres 2000 versprachen 189 UN-Mitgliedstaaten in der "Millenniumserklärung", eine bessere Welt aufzubauen und keine Mühen zur Verwirklichung dieser Vision zu scheuen. Auf dieser Grundlage nahm ein Jahr später die UN-Generalversammlung den "Kompass" für die Umsetzung der Millenniumserklärung mit acht konkreten Millenniumsentwicklungszielen (MEZ) an. Diese bilden seitdem einen international anerkannten Rahmen für eine menschenzentrierte Entwicklung, eine humanere Globalisierung und die weltweite Entwicklungspolitik. Die MEZ beziehen sich auf Aspekte der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung und sehen vor: (1) die Beseitigung von extremer Armut und Hunger, (2) die Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung, (3) die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung von Macht und Einfluss der Frauen (empowerment), (4) die Senkung der Kindersterblichkeit, (5) die Verbesserung der Gesundheit von Müttern, (6) die Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten, (7) die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit und (8) den Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft.


Die Verständigung auf die acht MEZ war ein großer Schritt in Richtung eines "globalen Gemeinwillens", der das "Globalwohl" repräsentiert und auf der Gemeinsamkeit der Interessen von Industrie- und Entwicklungsländern beruht, von der schon im Jahr 1980 Willy Brandt und die Nord-Süd-Kommission in dem Bericht "Das Überleben sichern" sprachen. Die MEZ gelten mit ihren überprüfbaren inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben als Handlungsanleitung. Die meisten Ziele sollen bis zum Jahr 2015 realisiert werden, wobei das Jahr 1990 die Ausgangslage darstellt. Sie tragen dazu bei, die Entwicklungsakteure auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene zu mobilisieren, und sind Ausdruck einer zwischen den "entwickelten" und den "Entwicklungsländern" eingegangenen Verpflichtung, auf nationaler und internationaler Ebene ein Umfeld zu schaffen, das der Realisierung der MEZ förderlich ist. Als messbare Richtgrößen zur Bewertung der Entwicklungsanstrengungen bieten sie Orientierung für die Entwicklungsländer, die (Entwicklungs)Politiken der Industrieländer, die UN-Organisationen und internationalen Entwicklungsbanken sowie für Nichtregierungsorganisationen (NRO), private Akteure und die Wissenschaft. In der hier gebotenen Kürze sollen vier Fragen beantwortet werden: Wie sieht die Zwischenbilanz bei der Verwirklichung der Millenniumsziele aus? Warum gibt es Fortschritte und ein Zurückbleiben hinter den Erwartungen? Wurden die Kernherausforderungen berücksichtigt? Wo stehen wir im Jahr 2015, und was ist zu tun?

Bei der Bewertung ist zu berücksichtigen, dass eine Reihe von Daten zur Messung der Zielerreichung nur bis zum Jahr 2007 oder sogar 2005 reicht. Die kollektive Bilanz fällt gemischt aus: Es gibt Erfolge, Halberfolge und Rückschläge, Licht und Schatten. Viele Entwicklungsländer befinden sich auf Abwegen oder bestenfalls auf der Kriechspur zu den Millenniumszieltoren. Auch die Industrieländer haben zu wenig getan.

Geringe Fortschritte bei den ökonomischen und sozialen Zielen

Am bedeutendsten ist das erste Millenniumsziel mit ursprünglich zwei Zielvorgaben: zwischen den Jahren 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, deren Einkommen weniger als 1 US-Dollar pro Tag beträgt (seit der Neuberechnung im Jahr 2008 liegt die Grenze bei 1,25 US-Dollar); zwischen den Jahren 1990 und 2015 den Anteil der Menschen halbieren, die Hunger leiden. Im Jahr 2008 wurde noch eine dritte Zielvorgabe aufgenommen: die Verwirklichung produktiver Vollbeschäftigung und menschenwürdiger Arbeit für alle.

Dem UN-Fortschrittsbericht 2009 zufolge hat sich die Zahl der in extremer Armut Lebenden von 1,8 Milliarden im Jahr 1990 auf 1,4 Milliarden im Jahr 2005 (davon 70 % Frauen) reduziert. Dies klingt nicht sehr erfolgreich, kann sich aber angesichts des Anstiegs der Weltbevölkerung von 5,3 auf 6,5 Milliarden sehen lassen: Der Anteil der extrem Armen fiel von rund 40 auf 25 %. Die Situation hat sich besonders in Ostasien bzw. Südostasien verbessert, wo der Anteil der Armen von 60 auf 16 bzw. von 39 auf 19 % fiel und das für das Jahr 2015 anvisierte Halbierungsziel erreicht scheint. Die zahlenmäßig größten Erfolge konnten dabei in China und Indien erzielt werden, wo 37 % der Weltbevölkerung und 43 % der Menschen in Entwicklungsländern leben. Von Halberfolgen kann man in Lateinamerika und der Karibik sowie in Nordafrika sprechen, die aber bereits vor dem Jahr 1990 zu den wesentlich besser gestellten Regionen gehörten und wo im Jahr 2005 noch 8 bzw. 3 % der Bevölkerung in extremer Armut lebten und das Halbierungsziel erreichbar scheint. Unbefriedigend ist die Situation vor allem in Subsahara-Afrika, wo der Anteil von 57 auf lediglich 51 % gefallen ist. Dass sich die im UN-Fortschrittsbericht 2009 verwendeten aggregierten Zahlen auf die Gesamtbewertung der Regionen beziehen und die Situation einzelner Länder innerhalb einer bestimmten Region erheblich von den gesamtregionalen Werten abweichen kann, zeigt das Beispiel Uganda, wo das Halbierungsziel nahezu erreicht werden konnte.

Bei der Hungerbeseitigung konnten seit dem Jahr 1990 - global gesprochen - nur geringe Fortschritte verzeichnen werden; in einzelnen Ländern wie Brasilien waren aber erstaunliche Erfolge im Kampf gegen den Hunger zu verzeichnen. Der leichte Abwärtstrend wurde durch die Nahrungskrise und die jüngste globale Wirtschaftskrise gestoppt, zum Teil umgekehrt. Die Zahl der weltweit Hungernden und Unterernährten ist auf über eine Milliarde im Jahr 2009 und damit einen Rekordwert hochgeschnellt.

Eine Schlüsselaufgabe der Armutsbekämpfung ist es, allen Menschen den Zugang zu menschenwürdiger und angemessen bezahlter Arbeit zu ermöglichen. Verlässliche Daten zur Beschäftigung und Arbeitslosigkeit in Entwicklungsländern sind immer noch Mangelware. In einer Reihe von Entwicklungsländern konnten viele Arbeitsplätze mit höherer Arbeitsproduktivität geschaffen werden - an erster Stelle in China, der Werkbank der Welt. Der UN-Fortschrittsbericht prognostiziert wegen der hohen Energiepreise und der Wirtschaftsturbulenzen düstere Aussichten im Bereich Erwerbsarmut, die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und eine andauernde, vergleichsweise niedrige Arbeitsproduktivität in den Entwicklungsregionen, insbesondere in Subsahara-Afrika.

Was die Verwirklichung der Grundschulbildung für alle angeht (MEZ 2), so kommen die Entwicklungsländer dem Ziel näher, jedoch zu langsam, um die Zielmarke zu erreichen. Immer noch wurde 72 Millionen Kindern das Recht auf Bildung verweigert (2007); fast die Hälfte von ihnen lebt in Subsahara-Afrika, gefolgt von 18 Millionen in Südasien, obwohl sich die Einschulungsraten in beiden Regionen verbessert haben. Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Volksgruppenzugehörigkeit, Einkommen, Sprache oder Behinderung ist weit verbreitet und ein wesentliches Hindernis für die Bildung für alle.

Gemäß den Zielvorgaben von MEZ 3 sollte das Geschlechtergefälle in der Grund- und Sekundarschulbildung beseitigt sein - und zwar vorzugsweise bis zum Jahr 2005 und auf allen Bildungsebenen bis spätestens 2015. Nach Verstreichen des ersten Zieldatums ist die Geschlechterparität nicht erreicht. Die Stärkung von Macht und Einfluss der Frauen steigt allmählich: Der Frauenanteil in den nationalen Parlamenten kletterte von 13 % im Jahr 1990 auf 18 % im Jahr 2009 - bei großen regionalen Unterschieden. Während in Lateinamerika und der Karibik 22 % aller Parlamentssitze von Frauen eingenommen werden, liegt der Frauenanteil in Nordafrika und Westasien noch unter 10 %, in Subsahara-Afrika bei 18 %, wobei Ruanda seit den Wahlen im Jahr 2008 mit 56 % den größten Frauenanteil im weltweiten Vergleich aufweist.

Bei der Senkung der Kindersterblichkeit um zwei Drittel (MEZ 4) gab es Erfolge. Aber trotz bemerkenswerter Verbesserungen ist die Kindersterblichkeit in Subsahara-Afrika, wo jedes siebte Kind vor Vollendung des fünften Lebensjahr stirbt, und in vielen Ländern Südasiens noch zu hoch.

Beim Ziel "Verbesserung der Gesundheit von Müttern" (MEZ 5) wurden die geringsten Fortschritte erreicht. Jedes Jahr sterben 536.000 Frauen und Mädchen an Komplikationen während der Schwangerschaft oder in Folge der Entbindung. Die Hälfte aller Fälle von Müttersterblichkeit, meist bei den Armen anzutreffen, war in Subsahara-Afrika zu beklagen und ein weiteres Drittel in Südasien.

Auch bei der Bekämpfung von HIV/AIDS, Malaria und anderen Krankheiten (MEZ 6) gab es gemischte Resultate. Weltweit wurde im Jahr 1996 der Höhepunkt bei der Zahl der Neuansteckungen mit HIV erreicht. Seitdem ist die Zahl auf 2,7 Millionen im Jahr 2007 gesunken. Die geschätzte Anzahl der AIDS-Toten scheint ihren Höhepunkt im Jahr 2005 mit 2,2 Millionen Opfern erreicht zu haben. Dies liegt teilweise am verbesserten Zugang zu antiretroviralen Medikamenten in ärmeren Ländern. Gewisse Fortschritte gab es auch bei der Bekämpfung der Malaria und der Eindämmung der Tuberkulose - aber noch nicht in befriedigender Weise, um die Globalziele zu erreichen.

Umwelt, Handel und Schulden: Licht und Schatten

Bei der Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit (MEZ 7) ist einiges auf der Habenseite zu finden; es überwiegt jedoch das Soll. Hinsichtlich der Zielvorgabe, die Grundsätze der nachhaltigen Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und Programme einzubauen und den Verlust von Umweltressourcen umzukehren, haben einerseits beim Schutz der Ozonschicht starke, weltweite Entwicklungspartnerschaften und solide einzelstaatliche Politiken zu außerordentlichen Fortschritten geführt. Andererseits verdeutlichen der Anstieg der Treibhausgasemissionen, der Bodenerosion und Desertifikation sowie die andauernden, wenn auch geringer gewordenen Biodiversitäts- und Waldverluste, dass das Entwicklungsparadigma der nachhaltigen Entwicklung noch nicht Imperativ politischen und wirtschaftlichen Handelns ist und die Problematik des Klimawandels energischer angegangen werden muss. Wenn bis zum Jahr 2015 der Anteil der Menschen, die keinen nachhaltigen Zugang zu hygienischem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen haben, um die Hälfte gesenkt werden soll, dann müssen die Anstrengungen vornehmlich in den ländlichen Gebieten erhöht werden. Fast alle Regionen kommen bei der Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen in den Städten voran, und das Unterziel, bis zum Jahr 2020 eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen von mindestens 100 Millionen Slumbewohnern herbeizuführen, ist in Reichweite.

Das letzte Millenniumsziel (MEZ 8) "Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft" ist von herausragender Bedeutung für die Schaffung eines der Entwicklung förderlichen internationalen Umfeldes. Hier lautet die Bilanz: wenig Licht und viel Schatten. Von einem fairen und nicht-diskriminierenden Handels- und Finanzsystem ist man noch weit entfernt. Handelsbarrieren für Entwicklungsländer und handelsverzerrende Subventionen seitens der Industrieländer sind kaum abgebaut worden. Die Industrieländer, einschließlich Deutschlands, tun weniger als nötig, um energischen Schrittes Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität in der globalisierten Marktwirtschaft zu gehen. In und zwischen den verschiedenen Politikbereichen mangelt es an kohärentem Handeln.

Die beim G8-Gipfel in Gleneagles im Jahr 2005 beschlossenen Schuldenerlasse haben zwar die Schuldenlast deutlich gesenkt, und viele Entwicklungsländer, vor allem Schwellenländer, konnten die Exportumsätze steigern. Aber die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die Exportumsätze einer Reihe von Entwicklungsländern sinken lassen und zu einer Verschlechterung der Schuldendienstquote geführt. Die entwicklungspolitischen Leistungen für die ärmeren Länder sind seit dem Jahr 2000 zwar stärker gestiegen als das durchschnittliche Bruttonationaleinkommen (BNE) der Geberländer; dennoch erfüllen die meisten Industrieländer ihre finanziellen Zusagen bisher nicht. Die im Jahr 2008 von den Industrieländern zur Verfügung gestellten Finanzmittel beliefen sich nach den neuesten Zahlen auf 121,5 Milliarden US-Dollar (das entspricht 0,31 % des kombinierten BNE; Deutschland stellte im Jahr 2008 13,98 Milliarden US-Dollar, d.h. 0,38 % seines BNE, zur Verfügung und will bis 2015 das 0,7 %-Ziel erreichen). Den besonderen Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder, der Binnen- und kleinen Inselentwicklungsländer, wurde nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Die angestrebte Kooperation mit der Privatindustrie, um die Vorteile neuer Technologien auch in Entwicklungsländern nutzbar zu machen, bleibt hinter den Erwartungen zurück. Zwar nimmt die Zahl der Internetnutzer stetig zu, aber in den am wenigsten entwickelten Ländern liegt sie bei nur 1,5 %.

Gründe für Fortschritte und das Hinterherhinken

Die Fortschritte in einzelnen Regionen und Ländern lassen sich im Vergleich zu den Ländern, die im Verzug sind, summarisch auf folgende Positivfaktoren zurückführen: ein entwicklungsorientiertes Verhalten von Regierungen und Eliten, das die Orientierung an den Millenniumszielen sowie die Partizipation der Bevölkerung und ihre Eigentümerschaft (ownership) an der Entwicklung einschließt; funktionierende Regierungen und Verwaltungen, gepaart mit Rechtsstaatlichkeit; Armutsbekämpfung durch eine staatliche Rahmensetzung, die die Privatwirtschaft fördert und nicht knebelt; Mobilisierung einheimischer (finanzieller) Ressourcen; materielle und immaterielle Infrastrukturausstattung, wie Hebung des Bildungs- und Ausbildungsstandes der Bevölkerung; ein der Entwicklung förderliches mentales und kulturelles Umfeld; Anerkennung der wichtigen Rolle der Frauen im Entwicklungsprozess; Industrialisierung und Ausnutzen der internationalen Arbeitsteilung; Eindämmung des Bevölkerungsanstiegs; effiziente Nutzung der von außen gewährten Unterstützung im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe und einer selbstbestimmten Entwicklung sowie äußerer und innerer Frieden.

Zwei Ursachenbündel sind für das Zurückbleiben verantwortlich: jene Faktoren, die nach der Verabschiedung der Millenniumserklärung besonders virulent wurden, wie die nach den Terroranschlägen vom September 2001 erfolgten Prioritätensetzungen, bei denen für manche Industrieländer militärische und sicherheitspolitische Gesichtpunkte wichtiger wurden als zivilgesellschaftliche und entwicklungspolitische; die deutliche Zunahme von zerfallenden, kollabierenden und von kriegerischen Konflikten heimgesuchten Staaten; der Klimawandel mit seinen akuter werdenden negativen, in vielen Entwicklungsländern verheerenden Auswirkungen; die in den vergangenen Jahren aufgetretenen Nahrungs- und Energiekrisen; die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Hinzu kommen Faktoren, die schon immer von großer Bedeutung waren und beachtet werden müssen, wenn eine Wende zum Besseren eingeläutet werden soll, wie das Bevölkerungswachstum (die Erdbevölkerung - im Jahr 1990 belief sie sich auf 5,3 Milliarden - wird von jetzt 6,9 Milliarden auf 9 Milliarden Menschen im Jahr 2050 anwachsen); korrupte Eliten, die nicht am Gesamtwohl des Landes und der Armutsbekämpfung interessiert sind; schlechtes Regierungs- und Verwaltungshandeln; die weitgehende Vernachlässigung der ländlichen Regionen, der (traditionellen) Landwirtschaft und des informellen Sektors; ein entwicklungsfeindliches Umfeld (Bildung, Ausbildung und Wissen sowie tolerante, auch für den Wandel offene Kulturen werden immer noch nicht als wesentliche Schlüsselfaktoren für die persönliche wie auch die allgemeine Entwicklung anerkannt und gefördert); Schwierigkeiten, die auf feindliche Ökosysteme, die Binnenlage ohne Meereszugang und kriegerische Auseinandersetzungen zurückzuführen sind; das Festhalten an teuren, ökologisch schädlichen fossilen Energien, statt den Reichtum an heimischen solaren bzw. biologischen Rohstoffen stärker zu nutzen.

Die Industrieländer haben es bislang weitgehend versäumt, wirksame Schritte zur Verbesserung der weltwirtschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen umzusetzen und allen Entwicklungsländern eine faire Teilhabe an der internationalen Norm- und Regelsetzung und der internationalen Arbeitsteilung zu ermöglichen. Trotz der anzuerkennenden Bemühungen zur Steigerung der Wirksamkeit und zur Erhöhung der entwicklungspolitischen Leistungen haben sie letztlich nur Trippelschritte in Richtung auf eine quantitativ höhere und qualitativ bessere Entwicklungspolitik unternommen.

Millenniumsziele - eine defekte Vision

Die MEZ benennen wichtige Mindestvoraussetzungen für ein besseres Leben, stellen aber keine umfassende Entwicklungsagenda dar. Bei aller Bedeutung der MEZ für die nationale und internationale (Entwicklungs-)Politik wird zu Recht beklagt, dass wesentliche Kernherausforderungen nicht ausreichend oder gar nicht berücksichtigt wurden.

Die MEZ sind eine defekte Vision, vor allem, weil dafür unerlässliche Elemente wie Frieden und Demokratie fehlen. Dies ist ein Paradoxon, weil die Staats- und Regierungschefs in der Millenniumserklärung einerseits Frieden, Sicherheit und Abrüstung wie auch Menschenrechte, Demokratie, gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln (good governance) als grundlegende Ziele bezeichnen, andererseits diese Ziele aber keine direkte Berücksichtigung bei den MEZ finden - offensichtlich dem Willen der Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten entsprechend. Eine auf den international anerkannten Menschenrechten beruhende Demokratie mit einem starken Parlament und starken zivilgesellschaftlichen Organisationen ist jedoch eine wichtige Bedingung dafür, dass die Armen zu ihren Rechten kommen können. Keine Diktatur ist auf Dauer überlebensfähig, weil sie dem Innersten des Menschen widerspricht. Die Demokratie ist weltweit als politischer Ordnungsrahmen anerkannt. Demokratie und good governance lassen sich jedoch nicht mit Hauruck-Interventionen und imperialen Attitüden in fremde Länder exportieren. Schritte in die richtige Richtung von außen behutsam und mit Augenmaß zu fördern, ist auch ein Gebot der Solidarität.

Jeffrey Sachs, ehemaliger Direktor des UN-Millennium-Projekts, setzte vor allem auf mehr Geld und den gut koordinierten Einsatz dieser Mittel bei der Armutsbekämpfung. Aber was nützen mehr Geld und staatliche Entwicklungshilfe, wenn in den Entwicklungs- und Transformationsländern Diktatoren, Kleptokraten und korrupte Cliquen herrschen, wenn die Bevölkerung nicht am Ressourcenverkauf beteiligt wird und die Hilfe mangels funktionierender Rechts- und Verwaltungsinstitutionen nicht sinnvoll eingesetzt werden kann? Nur in Ausnahmefällen, wie in fragilen Staaten, in Notsituationen oder bei der Friedenssicherung, darf für die Entwicklungspolitik gelten: Engagiert bleiben.

Folgende weitere Schwachstellen seien kursorisch aufgeführt: die Vernachlässigung der Problematik des Bevölkerungswachstums; das Ausklammern der sozialen Ungleichheit als eine der Armutsursachen und das Übergehen der Notwendigkeit eines armutsbeseitigenden Wirtschaftswachstums; eine "Schmalspuragenda" im Hinblick auf die wirkliche Stärkung von Macht und Einfluss der Frauen und auf ihre Gleichbehandlung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft; eine Einengung der Imperative zur ökologischen Nachhaltigkeit, weil weder die Bedeutung einer Energiewende noch die Notwendigkeit der Bekämpfung der Wüstenbildung für die Ernährungssicherung und den Klimaschutz anerkannt werden und auch quantifizierbare Verpflichtungen zur CO2-Reduktion fehlen; die Vernachlässigung kultureller Freiheit und kultureller Faktoren für Entwicklung. Die Millenniumsziele sind defizitär und stellen keine komplette Entwicklungsagenda dar. Die Akteure sollten sich nicht nur an den MEZ, sondern auch an der Millenniumserklärung, den anderen international vereinbarten Entwicklungszielen und den UN-Menschenrechtspakten orientieren.

Traurige Aussichten für 2015 - was tun?

Der Countdown für das Jahr 2015 läuft. Die Erfolge und Halberfolge zeigen, dass selbst ärmere Länder die Millenniumsziele erreichen oder ihnen zumindest näher kommen können. Aber das Gesamtbild lässt keinen anderen Schluss zu als den, dass das bislang vorgelegte Fortschrittstempo keinesfalls ausreicht, um alle Ziele zu erreichen. Leider haben die verschiedenen Krisen der vergangenen Jahre in vielen Ländern Erfolge beim Kampf gegen Armut und Hunger verlangsamt oder sogar umgekehrt. Aber auf die Krisen allein lassen sich viele Unzulänglichkeiten in den Entwicklungs- und Industrieländern nicht zurückführen.

Die verbleibenden fünf Jahre sind für vermehrte Anstrengungen im Sinne der dargelegten Positivfaktoren und unter Vermeidung der Negativfaktoren zu nutzen, und zwar von der lokalen und nationalen über die regionale bis zur globalen Ebene. Auf allen Ebenen ist ein politischer Gemeinwille nötig. In vielen Ländern fehlt der zentrale politische Wille zu Reformen, wie Agrar- und Verwaltungsreformen, und ihrer konsequenten Umsetzung. Trotzdem müssen immer wieder Allianzen und Partnerschaften geschmiedet werden - zwischen verschiedenen Akteuren, wie Regierenden, Abgeordneten, internationalen Organisationen, NRO, Gewerkschaften, Unternehmen, der Wissenschaft und Netzwerken, die sich am Leitbild einer menschenwürdigen, nachhaltigen Entwicklung orientieren, zukunftsunfähige Wirtschaftsformen ablehnen und Werten wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Toleranz, Achtung vor der Natur und gemeinsam getragene, aber differenzierte Verantwortung global zum Durchbruch verhelfen wollen.

Entwicklung braucht "gute" nationale, regionale und internationale Rahmenbedingungen, deren Ordnungspolitik sich an menschenrechtsrespektierenden, demokratischen politischen Systemen und an einer sozialen, ökologischen Marktwirtschaft orientiert. Welt(ordnungs)politik bzw. globale Strukturpolitik - global governance - ist mehr denn je gefragt; sie ist überlebenswichtig. Die Bedeutung der in der Millenniumserklärung hervorgehobenen globalen öffentlichen Güter für die Erreichung der MEZ - wie Frieden und Sicherheit, Umwelt- und Klimaschutz, Finanzstabilität, Demokratie und good governance - erfordert ein entschlosseneres, zielgerichteteres Handeln der Akteure. Auch nach dem Jahr 2015 werden folgende Politikfelder Priorität haben: die Bekämpfung von Armut und Hunger, die Stiftung von Frieden sowie der Einsatz für die Menschenrechte, die Überlebensfähigkeit unseres Planeten und eine nachhaltige, menschenwürdige Globalisierung, bei der alle Staaten darauf verzichten, ihren Wohlstand auf Kosten anderer zu sichern, und eine nichtaggressive Koexistenz bevorzugen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Millenniumserklärung online: www.un.org/Depts/german/millennium/
    ar55002-mill-erkl.pdf (9.1. 2010).

  2. Vgl. Bericht des Generalsekretärs, A/56/326, New York 2001, online: www.un.org/depts/german/gs_son st/roadmap01.pdf (9.1. 2010).

  3. Diese acht Ziele wurden durch 21 Zielvorgaben und 60 Indikatoren konkretisiert; vgl. Official list of MDG indicators, online: http://mdgs.un.org/
    unsd/mdg/Re sources/Attach/
    Indicators/OfficialList2008.pdf (9.1. 2010).

  4. Auf die Problematik der in den UN-Dokumenten benutzten Begriffe kann nicht näher eingegangen werden. Es gibt jedoch Gründe dafür, alle Länder der Welt als "Entwicklungs- oder Übergangsländer" zu bezeichnen, weil sie sich - etwa hinsichtlich des Schutzes der natürlichen Ressourcen - auf dem Weg zu einer besseren Entwicklung befinden (sollten); vgl. auch Uwe Holtz, Entwicklungspolitisches Glossar, Bonn 2009, online: www.uni-bonn.de/~uholtz/virt_ apparat/EP_Glossar.pdf (9.1. 2010).

  5. Vgl. Vereinte Nationen, Millenniums-Entwicklungsziele. Bericht 2009, New York 2009; siehe auch die Webseite der UN, die umfassende Informationen über die Verwirklichung der MEZ in einzelnen Regionen bereitstellt, online: http://mdgs.un.org und www.mdgmonitor.org (9.1. 2010).

  6. Vgl. Amartya Sen, Ökonomie für den Menschen. Wege zur Gerechtigkeit und Solidarität, München 20074.

  7. Vgl. Statistiken des Entwicklungsausschusses der OECD, online: www.oecd.org/dac/stats/data (15.1. 2010).

  8. Vgl. Eckhard Deutscher/Hartmut Ihne (Hrsg.), "Simplizistische Lösungen verbieten sich". Zur internationalen Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert. Festschrift zu Ehren von Professor Uwe Holtz, Baden-Baden 2010. Darin u.a. Detlev Karsten, Dilemmata und Versäumnisse der Entwicklungspolitik, S. 243 - 254, und Winfried Pinger, Ende des Elends in Afrika?, S. 271 - 280.

  9. Vgl. UN Economic Commission for Africa/African Union/African Development Bank Group, Assessing Progress in Africa toward the MDGs. MDG Report 2009, Addis Abeba-Tunis 2009; hier wird besonders auf die kriegerischen Konflikte und Post-Konflikt-Situationen abgehoben, unter denen in den Jahren 2008 und 2009 20 afrikanische Länder zu leiden hatten.

  10. Vgl. Uwe Holtz, Die Millennium-Entwicklungsziele - eine defekte Vision. Armutsbekämpfung durch Demokratie, Menschenrechte und good governance, in: Tilman Mayer/Volker Kronenberg (Hrsg.), Streitbar für die Demokratie, Bonn 2009, S. 497 - 517.

  11. Empirische Studien kamen zum Ergebnis, dass es in keinem demokratischen, unabhängigen Land mit einer freien Presse große Hungersnöte gab; vgl. Amartya Sen, Democracy as a universal value, in: Journal of Democracy, 10 (1999) 3, S. 3 - 17.

  12. Vgl. z.B. die im Jahr 1997 von Abgeordneten aus über hundert Ländern angenommene Universelle Demokratie-Erklärung der Inter-Parlamentarischen Union (IPU): IPU (Hrsg.), Democracy: Its Principles and Achievement, Genf 1998, S. III-VIII.

  13. Vgl. Franz Nuscheler, Das Hohe Lied von good governance in der entwicklungspolitischen Bewährungsprobe, in: E. Deutscher/H. Ihne (Anm. 8), S. 117 - 132. Der Autor teilt zwar das ordnungspolitische Credo, dass good governance ein erstrebenswertes Leitbild darstelle, schlussfolgert aber angesichts oft überforderter Regierungen sowie von Kriegen und Zerfallserscheinungen der öffentlichen Ordnung in vielen afrikanischen Ländern: "Good governance mag eine Voraussetzung von Entwicklung sein, aber ohne Entwicklung sinken ihre Realisierungschancen." (S. 126).

  14. Vgl. Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut, München 2005.

  15. Vgl. Franz Nuscheler/Michèle Roth, Die Millennium-Entwicklungsziele: ihr Potenzial und ihre Schwachstellen, in: dies. (Hrsg.), Die Millennium-Entwicklungsziele. Entwicklungspolitischer Königsweg oder ein Irrweg? Bonn 2006, S. 15 - 42.

Prof. Dr. phil., geb. 1944; Senior Fellow am Zentrum für Entwicklungsforschung, Honorarprofessor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, Am Hofgarten 15, 53113 Bonn.
E-Mail: E-Mail Link: uwe.holtz@uni-bonn.de
Internet: Externer Link: www.uni-bonn.de/~uholtz