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Abschied von West-Berlin | DDR 1990 | bpb.de

DDR 1990 Editorial Das unselige Ende der DDR - Essay Der vergessene "Dritte Weg" Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus" Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit Die demokratische DDR in der internationalen Arena Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990 Abschied von West-Berlin

Abschied von West-Berlin

Wilfried Rott

/ 15 Minuten zu lesen

Die urbane Merkwürdigkeit West-Berlin war nicht nur im DDR-Sprachgebrauch eine "besondere Einheit", sondern sie dauert fort, solange die Amalgamierung der Stadthälften nicht vollendet ist.

Einleitung

Ausgerechnet West-Berlin, der demokratisch-kapitalistische Gegenentwurf zur das Stadtgebiet umgebenden DDR, teilte das Schicksal des sozialistischen deutschen Staates: Vom 9. November 1989 an eilte die Halbstadt mit zunehmender Geschwindigkeit ihrem Ende entgegen. Im Taumel der sich überstürzenden Ereignisse der deutschen Vereinigung nahm West-Berlin seinen eigenen Untergang kaum wahr, da ein Neues, lange Erhofftes und zugleich kaum noch Geglaubtes Wirklichkeit wurde: West-Berlin sollte nicht länger in seiner merkwürdigen Insellage verharren, nicht länger Halbstadt sein, sondern Teil des wiedererstandenen Gesamt-Berlins werden. West-Berlin war wie alle Welt vom Mauerfall wie von der sich anschließenden Vereinigungsdynamik überrascht und in keiner Weise darauf vorbereitet, obwohl es diesen Moment in seiner von jeher prekären Rumpfexistenz eigentlich hätte herbeisehnen müssen.


Halbstadt auf Abruf

Der Abschied von West-Berlin in seiner Mischung aus Leichtigkeit, Wehmut und geschichtsvergessener Ignoranz ist nur vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte der Halbstadt zu verstehen. In Ost-Berlin wurde am 30. November 1948 der Gesamtberliner Magistrat für abgesetzt erklärt und ein eigenes Stadtregiment von den in Lkw aus Betrieben in sowjetischer Verwaltung herangebrachten "Massen" akklamiert, nachdem im September die nichtkommunistischen Abgeordneten angesichts des politischen Drucks seitens der SED in den Westteil Berlins ausgewichen waren. Im Prinzip war West-Berlin eine Stadt auf Abruf: Mit einer nur im Westteil der ehemaligen Reichshauptstadt erfolgten, von Ost-Berlin und der SED boykottierten und bekämpften Wahl am 5. Dezember 1948, mit der darauf erfolgten Konstituierung eines Abgeordnetenhauses und einer Stadtregierung gab es fortan ein eigenständiges westliches Berlin, von dem man zunächst nicht einmal recht wusste, wie es zu benennen sei. So gab es ein offizielles "Berlin (West)", während die DDR bald konsequent von "Westberlin" sprach und damit auch terminologisch seine Theorie von der "besonderen politischen Einheit Westberlin" manifestierte.

West wie Ost waren sich darüber im Klaren, jeweils nur über einen Berlin-Torso zu verfügen, und der Gedanke einer Vereinigung war zunächst virulent. Zu unnatürlich war die Trennung, auch wenn noch ein freier Personenverkehr zwischen den Stadthälften bestand. Jede Seite dachte indes, dass die Vereinigung unter ihrem Vorzeichen erfolgen werde. So hatte sich Ernst Reuter (SPD), als Oberbürgermeister und später Regierender Bürgermeister der dominierende politische Kopf West-Berlins, zwar vehement für die Einführung der D-Mark im Bereich der westalliierten Sektoren eingesetzt und dafür die Teilung der Stadt in Kauf genommen, aber er äußerte immer wieder die Hoffnung, dereinst durch das Brandenburger Tor ziehen und auch im Osten Freiheit und Demokratie zur Herrschaft verhelfen zu können. Solche Bekundungen waren kaum mehr als jener Schuss Utopie, der zum Überleben in einem eigentlich unmöglichen Zustand gehört. In den Reihen der SED waren derartige Pläne - mit umgekehrtem Vorzeichen - konkreter. Der spätere Verteidigungsminister der DDR, Heinz Hoffmann, damals Sekretär der Berliner SED-Landesleitung, bekannte Anfang Februar 1949: "Es gab Genossen, die (...) der Meinung waren, daß eines Tages die Kräfte des sowjetisch besetzten Berlin mit Hilfe der sowjetischen Armee durch das Brandenburger Tor marschieren, um die Befugnisse des Magistrats unter Führung von Friedrich Ebert auf ganz Berlin auszudehnen." Allerdings schränkte er ein: "Wir müssen Schluß machen mit dieser illusionären Politik des Wartens auf die Hilfe der sowjetischen Besatzungsmacht."

Ausdruck des Wunsches nach einem Gesamt-Berlin waren auf westlicher Seite die "Mahnworte", die Willy Brandt als Präsident des Abgeordnetenhauses am 21. Oktober 1955 zum ersten Mal im Rathaus Schöneberg vortrug und die, später ergänzt, fortan am Beginn jeder Sitzung des Stadtparlaments gesprochen wurden. "Ich bekunde unseren unbeugsamen Willen, dass Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit vereinigt werden muss." Über Jahre war dieser Wunsch weitgehender Konsens in West-Berlin, doch mit den Jahren schwand das Verlangen nach einer Vereinigung, und ein halbes Jahr vor dem Mauerfall wurde der Vereinigungswunsch in Teilen West-Berlins als obsolet und störend empfunden. Am 25. Mai 1989 sorgte Hilde Schramm von der Alternativen Liste (AL) im Abgeordnetenhaus für Aufregung. Ihr Gewissen, so ihre Worte, erlaube es ihr nicht, die sogenannten "Mahnworte" zu sprechen. Schramm sah in ihnen ein Relikt des Kalten Krieges, das den Realitäten der täglichen Politik widerspreche. Schramms Weigerung sorgte für Empörung bei der CDU und für Verlegenheit bei der SPD. Denn längst war auch in ihren Reihen das Reden von Wiedervereinigung verpönt und wurde als "Träumerei", "Lebenslüge" oder gar als "Geschwätz" bezeichnet. Am 19. Januar 1990 wurden die "Mahnworte" durch einen Dringlichkeitsantrag von SPD und AL abgeschafft.

Wechsel und Wandel im Selbstverständnis

Im Laufe der Jahre veränderte sich das Selbstverständnis West-Berlins; zudem variierte es zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen erheblich. Die erfolgreich überstandene Blockade von 1948/49 stärkte das Selbstbewusstsein dieser Generation, die sich internationaler Anerkennung, vor allem in den USA, erfreuen durfte. West-Berlin konnte sich als "Leuchtfeuer der Freiheit" betrachten und mit der sich erholenden Wirtschaft auch als ein "Schaufenster des Westens". Inbegriff dessen wurde der Kurfürstendamm: Der Boulevard hatte, wie schon Siegfried Kracauer vor dem Krieg schrieb, keine Wahrzeichen vorzuzeigen, sondern war "Warenzeichen". Nun wurde er selbst zum Wahrzeichen und mehr denn je zur Meile von Konsum und Vergnügen.

Gespeist wurde das West-Berliner Selbstbewusstsein jener Jahre durch das Unvermögen der DDR, einen Sozialismus mit ansehnlichem Gesicht zu entwickeln. Besucher- und Flüchtlingszahlen bewiesen die Attraktivität West-Berlins. Nikita Chruschtschow tröstete sich und Walter Ulbricht mit dem Hinweis, dass es spätestens 1961 so weit sei, dass die DDR den Lebensstandard der Bundesrepublik überholen werde: "Das wird wie eine Bombe einschlagen. Deshalb müssen wir Zeit gewinnen."

Doch 1961 ließ Chruschtschow in Berlin eine ganz andere Bombe platzen. Auf Betreiben Ulbrichts wurde die Berliner Mauer errichtet, die West-Berlin zutiefst erschütterte und verunsicherte. Die Welt war für die West-Berliner nach dem 13. August 1961 nicht mehr dieselbe. Nicht länger konnten sie in den Ostteil der Stadt fahren, waren von Freunden und Verwandten abgeschnitten. Erst der Besuch von US-Präsident John F. Kennedy 1963 gab West-Berlin die Sicherheit zurück und stärkte das Bewusstsein, Vorposten der freien Welt zu sein, auch wenn die Kuba-Krise die Halbstadt aus dem Fokus des Kalten Krieges rückte, was zugleich einen Zugewinn an Sicherheit, aber auch einen Bedeutungsverlust bescherte. Für die Bewohner Ost-Berlins wurde die abgeriegelte West-Hälfte der Stadt zu einer fast mythischen Größe, zum "Verbotenen Zimmer" (Helga Schubert), das die wenigsten von ihnen je betreten durften, an dem aber doch alle durch Fernsehen und Rundfunk aus West-Berlin Anteil hatten.

Eine Erschütterung der wiedergewonnenen Selbstgewissheit der "Blockade-" und "Mauerbau-Berliner" bedeutete die Studentenrevolte von 1967/68. Der Protest gegen die USA wegen deren Vietnam-Krieg war vielen West-Berlinern unverständlich, erlebten sie doch die USA überzeugt und selbstverständlich als ihre Schutzmacht, welche die Existenz West-Berlins inmitten der DDR sicherte. Es wurde evident, dass sich eine neue, meist nicht aus West-Berlin stammende Generation in der Stadt deutlich bemerkbar machte, der die alte West-Berliner Mentalität herzlich fremd war. Studentenführer Rudi Dutschke etwa demonstrierte in einem Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger das totale Unverständnis gegenüber dem überkommenen West-Berlin, wenn er forderte, dass die "radikale Intelligenz" die Universität auflösen müsse, denn ganz Berlin sollte seiner Meinung nach zur Universität, zu einer lernenden Gesellschaft werden. Die Arbeiter seien zur Übernahme der Industrie zu erziehen, die Bürokratie und die Polizei müssten zerstört werden. Da er die "Bürokraten" als für in der Produktion nicht "verwertbar" betrachtete, hielt er es für unausweichlich, dass der Großteil des Verwaltungspersonals nach Westdeutschland emigrieren müsse. Wer zur "Umerziehung" nicht tauge, dem sollte die Möglichkeit gegeben werden, auszuwandern.

Die jungen Menschen aus dem Bundesgebiet, die nach West-Berlin strömten, verfolgten nicht mehr derart radikale Vorstellungen, wollten hier aber jenes freiere, auch vom Wehrdienst befreite Leben führen, das sie aus der Enge der bundesrepublikanischen Provinz hierher geführt hatte. Eine vielfältige Alternativkultur entwickelte sich, die ihrerseits wiederum höchst disparat war und politisch engagierte Gruppen ebenso umfasste wie allein an der Entfaltung ihres ökologisch-alternativen Lebensstils interessierte Milieus.

Die bis zur Polarisierung reichende Pluralität der West-Berliner Gesellschaft wurde anlässlich der 750-Jahr-Feiern von 1987 deutlich. Die DDR hatte sich an die schon 1983 intern festgelegte Devise gehalten, West-Berliner "Versuche, innerstädtische Kontakte zu entwickeln (...) und Absprachen, die auf eine abgestimmte Vorbereitung der 750-Jahr-Feier" zielten, zurückzuweisen. So geriet West-Berlin wieder in seine angestammte Rolle, als politischer Solitär eine Vorzeigeposition einzunehmen, wie es seit den Anfängen 1948 der Fall war, wobei Glanz und Opulenz der Jubiläumsfeierlichkeiten weitgehend geliehen waren. Betrug ohnedies schon der Bundeszuschuss 50 Prozent des Landeshaushalts, so wurden nun zusätzliche Mittel bereitgestellt. "Geld gab es aus dem Gartenschlauch", lautete eine spöttische Formulierung jener Zeit.

Die Idee, West-Berlin als Beispiel einer urban-metropolitanen Gesellschaft der Vielfalt darzustellen, scheiterte allerdings, weil sich die inzwischen etablierte Alternativszene nicht integrieren wollte. Die offiziöse Beschreibung West-Berlins als "junger, unruhiger, rebellischer Stadt, einer Stadt des politischen und sozialen Aufbegehrens" fand mit nahezu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Kreuzberg eine ungewollt radikale Entsprechung. Die regierende CDU versuchte die Spannungen in der Stadt einerseits durch Ausgrenzung der nicht mehr ins herkömmliche Bild West-Berlins passenden Gruppen als "Antiberliner" zu bewältigen. Andererseits wurde an der Schraube einer möglichst glänzenden Selbstdarstellung der Stadt gedreht, bis sie 1988 mit einem Veranstaltungsmarathon überdreht wurde, als die Stadt Kulturhauptstadt Europas war.

Sinnkrise vor dem Mauerfall

Immer unsicherer wurde das Selbstverständnis West-Berlins. Die schon seit den Anfängen die Stadt begleitende Hölderlin-Frage "Wohin denn ich?" war immer schwerer zu beantworten, je "normaler" die Lebensverhältnisse in West-Berlin vor allem durch den 1972 geschlossenen Grundlagenvertrag zwischen Bundesrepublik und DDR wurden. Es galt noch immer und verstärkt, was der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz 1964 in seinem Tagebuch notiert hatte: "Berlin wirkt wie jemand, der geradewegs und sicher voranschreitet, nur daß man nicht weiß wohin."

1989 verlor die als sicherer Sieger erwartete CDU überraschend die Abgeordnetenhauswahl, und SPD und AL bildeten eine Koalition. Beide Parteien hatten kein taugliches Verhältnis zu den sich vor ihrer Haustür in Ost-Berlin und der DDR vollziehenden Veränderungen. Die SPD verfolgte konsequent die Kooperation mit der Staats- und Parteiführung in Ost-Berlin. Über Jahre hatte sie Kontakte zur SED unterhalten und war, DDR-Protokollen zufolge, dabei zu weitreichenden Zugeständnissen bereit. Kontakte mit den Bürgerrechtsgruppen wurden dagegen vermieden, weil in ihnen vor allem destabilisierende Elemente gesehen wurden. Dementsprechend reagierte Walter Momper, seit April 1989 Regierender Bürgermeister, nicht auf ein Schreiben der "Umweltbibliothek" in Ost-Berlin.

Gleich doppelt belastet wurde das Verhältnis zu den Bürgerrechtsgruppen durch die AL. Deren Umweltsenatorin Michaele Schreyer regelte das Müllproblem West-Berlins durch ein Abkommen mit der DDR, das umweltschädliche Deponien im Umland Berlins zur Folge hatte, gegen die Bürgerrechtsgruppen vergeblich protestierten. Die AL, an deutschland- und berlinpolitischen Fragen nur marginal interessiert, war 1989 bereits auf den Kurs eingeschwenkt, den ihr Pressesprecher Dirk Schneider (für die DDR-Staatssicherheit als IM "Ludwig" tätig) betrieben hatte und der bis hin zur Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft mit den Forderungen der SED übereinstimmte. AL-Mitglieder, die Kontakte zu Bürgerrechtlern im Osten pflegten, wurden als "Pickelhauben-Fraktion" denunziert und ihre Versuche, mit in die DDR geschmuggelten Druckern, Computern oder Fotokopierern die Bürgerrechtler zu unterstützen, diskreditiert. Die Solidarität mit den DDR-Bürgerrechtlern sei von Schneider und Konsorten verhindert worden, urteilte später ein AL-Mitglied der Vorwendezeit.

Schon einen Tag nach dem Mauerfall wurde deutlich, dass das regierende SPD-AL-Bündnis kein überzeugtes Verhältnis zur neuen Situation gegenüber Ost-Berlin entwickelte. In einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses sträubte sich die AL gegen eine gemeinsame Erklärung, weil in ihr von der deutschen Einheit die Rede war. Eine Wiedervereinigung galt als "reaktionäres Projekt", und auf den Fall der Mauer war man "gedanklich überhaupt nicht vorbereitet", wie der AL-Politiker Wolfgang Wieland nachträglich selbstkritisch anmerkte. SPD und AL einigten sich schließlich auf einen Resolutionstext von eiertänzerischer Vagheit und sprachlicher Unübersichtlichkeit, der vor allem vom Unvermögen kündete, auf einen weltpolitischen Vorgang angemessen zu reagieren. Vor dem Schöneberger Rathaus, wo einst John F. Kennedy sein "Ich bin ein Berliner" gesprochen hatte, fand sich statt der üblichen Jubel-Berliner aus kleinbürgerlichem Milieu ein links-alternatives Publikum ein, das die Politiker, vor allem Bundeskanzler Helmut Kohl, am 10. November 1989 mit einem Pfeifkonzert bedachte. Momper, der beharrlich vom "Volk der DDR" und einem "Wiedersehen, nicht einer Wiedervereinigung" sprach, erntete nicht viel Beifall, aber die wütende Reaktion des Bundeskanzlers: "Lenin spricht!"

Die Stärke West-Berlins lag nach dem Mauerfall gewiss nicht im Politischen, sondern im Materiellen und Menschlichen. In der Nacht vom 9. zum 10. November schlug den Ost-Berlinern eine Woge der Sympathie entgegen, die nur langsam verebbte, auch wenn die West-Berliner manche Unannehmlichkeiten und Fremdheiten erlebten. Die großen Einkaufsstraßen waren plötzlich von Menschen überschwemmt, die in ihrer Kleidung, den Kindern an der einen und den Dederonbeutel in der anderen Hand reichlich fremd waren. Zugleich aber bewies der nur durch den Devisenmangel gehemmte Kaufwille der Ost-Berliner eine Qualität der Stadt, die nun nicht mehr nur Schaufenster, sondern Warenhaus des Westens war, das massiv gestürmt wurde. Nur eine U- oder S-Bahnfahrt benötigte es, um vom tristen sozialistischen Ambiente in die bunte Welt von West-Berlin einzutauchen. Diese Nähe war es auch, die alle Pläne, weiter zwei nicht mehr durch eine Mauer getrennte Gesellschaftssysteme nebeneinander bestehen zu lassen, zu Makulatur werden ließen. "Demokratischer Sozialismus am einen Ende der Friedrichstraße und Sozialdemokratie am anderen?", fragte der britische Historiker Timothy Garton Ash - eine Unmöglichkeit, und West-Berlin war gewiss nicht gewillt, diesen "Dritten Weg" zu gehen.

1990 - Gesamt-Berlin im Mittelpunkt

Die Ereignisse im Zuge der sich rasch anbahnenden Vereinigung der beiden deutschen Staaten setzten West-Berlin unter Druck, da es nun unmittelbar mit der Aufgabe konfrontiert wurde, aus zwei Stadthälften eine neue Gesamtstadt herzustellen. Momper, der unmittelbar erlebte, wie ein Nebeneinander zweier deutscher Staaten und Stadthälften keine Zukunft besaß, wurde von seinen eigenen Leuten als "Wiedervereiniger" abqualifiziert. Ein sichtbarer Schritt war der Abbau der Mauer. Der Wunsch, das verhasste Bauwerk endlich zu beseitigen, verdrängte jeden Gedanken, einen größeren Teil von ihr museal-konservatorisch zu bewahren. West-Berlin sah sich sogar mit dem Verlangen der de Maizière-Regierung in Ost-Berlin konfrontiert, die Kosten für den Mauerabriss zu bezahlen. Diese abwegige Forderung mag dem Empfinden entsprungen sein, dass das scheinbar wohlhabende West-Berlin auch noch diese Aufgabe übernehmen könne, nachdem bald klar war, dass West-Berlin finanziell und organisatorisch bei der Vereinigung der Stadt federführend zu sein hatte. Mit einem paritätisch aus Ost-Berliner Magistrat und West-Berliner Senat zusammengesetzten "Magi-Senat" war formal ein gleichgewichtiges Regierungsorgan geschaffen worden, doch lag die Hauptlast der Mühen der Einigung auf West-Berliner Seite. Die Mühsal, Verwaltung und Institutionen zu vereinheitlichen, wird in ihrem Umfang bis heute kaum gewürdigt. Das Volumen war so groß, als hätte Nordrhein-Westfalen, das für Brandenburg zuständig war, die Mühen für das gesamte sogenannte "Beitrittsgebiet" zu übernehmen gehabt.

Die Aufgabe war so gewaltig und West-Berlin seiner Rolle und seines Stellenwertes so sicher, dass für Abschiedsgedanken kaum Platz war. Man wiegte sich in einer irgendwie weiterbestehenden Sonderrolle in Sicherheit, gab doch etwa Kohl, so die Darstellung von Momper, am 28. Februar 1990 das "eindeutige Versprechen" ab, dass niemand daran denke, die Berlin-Förderung zu beseitigen. Anfang 1991 beschloss das Kabinett in Bonn jedoch, die Wirtschaftsförderung für Berlin sukzessive bis 1994 abzubauen. Erst jetzt machte sich Sorge um eine Verarmung des ehemaligen West-Berlins breit, war die Rede von einer "Verostung" des ehemaligen Vorzeigeobjekts des Westens.

Das politische Ende West-Berlins war ruhmlos und wurde durch einen ungewünschten West-Export ausgelöst. In der Ost-Berliner Mainzer Straße hatten sich überwiegend schwäbische Hausbesetzer zusammengefunden. Bei der Räumung im November 1990 kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Vorwürfen der Koalitionspartner SPD und AL, die ihre Senatorinnen abberief. Das Bild West-Berlins verdüsterte sich in den Augen Ost-Berliner Politiker angesichts des "Randale-Exports von West nach Ost".

West-Berlin, dessen Qualitäten während Blockade und Mauerbau vor allem im Aus- und Durchhalten bestanden, konnte diese Eigenheiten auch an seinem Ende beweisen, indem es trotz der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 noch zwei weitere Monate bestand. Bis zur ersten gemeinsamen Kommunalwahl, die parallel zur ersten gesamtdeutschen Bundeswahl am 2. Dezember stattfinden sollte, bestanden durch eine Ausnahmeregelung im Einigungsvertrag in Berlin weiter zwei Regierungen und Parlamente.

Am 11. Januar 1991 wurde mit der Übernahme der bisher nur in West-Berlin geltenden Berliner Verfassung der letzte Schritt zur staatsrechtlichen Einheit Deutschlands vollzogen. Damit hörte auch West-Berlin auf zu existieren, und die feierliche konstituierende Sitzung des ersten Gesamtberliner Parlaments nach vierzig Jahren in der Nikolaikirche in Ostberlin war ein stilles Requiem für die Halbstadt, die aber nicht wirklich aus dem politischen Leben zu scheiden gedachte, sondern mit personellem Urgestein präsent war. Alterspräsident dieser ersten Sitzung war der aus den Bauskandalen der 1980er Jahre bekannte Klaus Franke (CDU). Erste gewählte Präsidentin des Abgeordnetenhauses wurde Hanna-Renate Laurien, die sich einst erfolglos gegen Eberhard Diepgen um das Bürgermeisteramt bemüht hatte; Diepgen wurde nun Regierender Bürgermeister von ganz Berlin.

Langer Abschied nach dem Ende

Das Jahr 1990 war für West-Berlin kaum von Abschiedsgedanken erfüllt, sondern von einem latenten Aufbruchgefühl grundiert. Nicht nur die Mauer war endlich verschwunden. Auch die immer unangenehmen, aber das Lebensgefühl der West-Berliner prägenden Transitfahrten entfielen. Ost-Berlin, auf Grund der prohibitiven Einreisebestimmungen tendenziell gemieden, wurde ebenso wie das Umland "entdeckt". Für den Gedanken, dass eine Abwicklung West-Berlins ansteht, war kaum Raum. Wie anders sollte sich die Einheit der Stadt vollziehen als in einer Angleichung des Ostteils an den Westteil?

Es dauerte einige Zeit, bis auffiel, was die Schriftstellerin Katja Lange-Müller auf die deftige Formel brachte: "Den West-Berlinern wurde die Stadt unterm Arsch weggezogen." Der schleichende Prozess der Bewusstwerdung dieses Umstands setzte erst nach 1990 ein, nachdem West-Berlin am 3. Oktober 1990 noch einmal gegen den Widerstand aus Bonn und des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière glanzvoller Schauplatz deutscher Geschichte war: Vor dem Reichstag, also im Westteil der Stadt, wurde die deutsche Einigung gefeiert.

Der Abschied von West-Berlin ist ein langer, noch immer nicht abgeschlossener Prozess mit einigen markanten Punkten. Das Scheitern von Eberhard Diepgen und Klaus-Rüdiger Landowsky, der langjährigen grauen Eminenz West-Berliner CDU-Politik, im Zuge des Skandals um die Berliner Bankgesellschaft, war einer der Einschnitte. Ausgerechnet diese Vertreter des "alten" West-Berlins waren es aber auch, die massiv in die Struktur der ehemaligen Halbstadt eingriffen, indem sie 1993 das Schiller-Theater, einen genuinen Teil West-Berlins, schlossen. In vielem, was in der Folge von West nach Ost abwanderte, spiegelte sich indes vor allem die Wiederherstellung früherer Verhältnisse wider, der Abschied von teilungsbedingt angelegten Provisorien, angefangen beim Auszug der Stadtregierung aus dem Schöneberger Rathaus bis zur Rückstufung des Bahnhofs Zoo vom Fernbahnhof zu einer Station der Stadtbahn.

Schon 1994 registrierte die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer alarmiert den Niedergang des einstigen West-Berlins und wähnte sogar - unzutreffend - die Edeladresse "Kaufhaus des Westens" zum Kontakthof russischer Prostituierter heruntergekommen. Derartige Klagen reißen nicht ab, begleitet von immer wiederkehrenden Sorgen um Zustand und Zukunft des Kurfürstendamms, dem Inbegriff West-Berlins. Die Klagen über den Abstieg und das Verschwinden von West-Berlin werden befördert durch eine Stadtregierung, die kein rechtes Zukunftsbild für die einstige Vorzeigeregion hat. Von einem aus dem DDR-Kulturapparat stammenden, früheren Berliner Kultursenator musste sich die Stadt sagen lassen, dass es enttäuschend sei, wie mit dem West-Berliner Erbe umgegangen werde und wie die Stadt ihre eigene Traditionslosigkeit immer weiter fortführe.

West-Berlin, das seit fast 20 Jahren offiziell nicht mehr existiert, ist dennoch im Positiven wie im Negativen weiter präsent. Schon wird ein Wiedererwachen West-Berlins als Hort neuer Bürgerlichkeit registriert. Umgekehrt wird aber auch argumentiert, dass eine Verwahrlosung des öffentlichen Raums und ein "bewusst proletenhaftes" Outfit des Konzert- und Opernpublikums in ganz Berlin dem Vorbild West-Berlins folge.

Ob es je einen definitiven Abschied von West-Berlin geben wird, ist mehr als ungewiss. Sicher ist, dass diese vierzig Jahre bestehende urbane Merkwürdigkeit nicht nur im Sprachgebrauch der DDR eine "besondere Einheit" war, die in ihrer Eigenheit fortdauert, solange die Amalgamierung der beiden Stadthälften nicht an ihr Ende gekommen ist.

Vgl. zu diesem Beitrag Wilfried Rott, Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948 - 1990, München 2009.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach Volker Koop, Kein Kampf um Berlin? Deutsche Politik zur Zeit der Berlin-Blockade 1948/1949, Bonn 1998, S. 292.

  2. Siegfried Kracauer, Straßen in Berlin und anderswo (1964), Berlin 2008, S. 126.

  3. Zit. nach: Hope M. Harrison, Driving the Soviets up the Wall. Soviet-East German Relations 1953 - 1961, Princeton 2003, S. 124.

  4. Helga Schubert, Das verbotene Zimmer, Darmstadt 1984.

  5. Vgl. Kursbuch, Nr. 14 (1968), S. 146ff.

  6. Vgl. ebd., S. 166.

  7. Vgl. Steffen M. Alisch, "Die Insel sollte sich das Meer nicht zum Feind machen!" Die Berlin-Politik der SED zwischen Bau und Fall der Mauer, Stamsried 2004, S. 351ff.

  8. Berlin, Berlin. Die Ausstellung zur Geschichte der Stadt, Berlin 1987, S. 54

  9. Witold Gombrowicz, Tagebuch 1953 - 1969, Frankfurt/M. 2004, S. 859.

  10. Vgl. zu den auf mehreren Ebenen geführten Gesprächen der West-Berliner SPD mit der SED S. Alisch (Anm. 7), S. 351ff.

  11. Vgl. zur AL und ihrem Verhältnis zur DDR u.a. Hubertus Knabe, Die unterwanderte Republik, Berlin 1999, sowie Welt online vom 26. 11. 1999 und Die Zeit, Nr. 11 (1992).

  12. Zit. nach: Stachelige Argumente, 4 (2003).

  13. Vgl. Timothy Garton Ash, Im Namen Europas, München 1993, S. 306.

  14. Vgl. Walter Momper, Grenzfall. Berlin im Brennpunkt deutscher Geschichte, München 1991, S. 332.

  15. Vgl. ebd., S. 377.

  16. Vgl. ebd., S. 321.

  17. Walter Momper im Interview mit Der Spiegel, Nr. 47 vom 19. 11. 1990.

  18. Zit. nach: Der Tagesspiegel vom 4.11. 2007.

  19. Antje Vollmer in: Die Zeit, Nr. 7 (2006).

  20. Vgl. aktuell u.a. Der Tagesspiegel vom 7.1. 2010.

  21. Vgl. Die Welt vom 18.1. 2010.

  22. Vgl. Thomas Flierl in: Berliner Zeitung vom 6.5. 2009.

  23. Vgl. Ulf Poschardt, Die leise Rückkehr von West-Berlin, in: Die Welt vom 27.9. 2009.

  24. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.1. 2010.

Dr. phil., geb. 1943; Publizist; bis 2008 Abteilungsleiter und Moderator beim SFB/rbb; Honorarprofessor an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" in Berlin.
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