Einleitung
Die Ereignisse in der DDR vom Herbst 1989 bis zum Sommer 1990 waren geprägt durch eine innen- und außenpolitische Dynamik und die Festlegung von Pfadabhängigkeiten, die, auch in der historischen Rückschau, Ansätze zu einer Wirtschaftsreform überlagerten, welche in der DDR selbst entstanden waren und dort intensive Diskussionen ausgelöst hatten. Welcher Art waren diese Reformvorstellungen? Wie realistisch waren sie? Was waren die Umstände ihres Scheiterns?
DDR-loyale Reformer
Mit dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten Hans Modrow am 17. November 1989 gelangte eine neue Teilelite zu Einfluss, die in der Vergangenheit innerhalb der SED systemimmanente Kritik an der Wirtschaftspraxis des Honecker-Regimes geübt hatte.
Luft hatte im Oktober 1988 in ihrer Antrittsrede als Rektorin der Hochschule für Ökonomie vorsichtige Vorschläge für eine Reform der Wirtschaft unterbreitet, die mit dem Plädoyer für "sozialismustypische Innovationsstimuli" unter anderem an Gedanken des "Neuen Ökonomischen Systems" (NÖS) aus den 1960er Jahren anknüpfte.
Unmittelbar nach seiner Nominierung für das Amt des Ministerpräsidenten der DDR durch das Zentralkomitee (ZK) der SED am 8. November 1989 (also noch vor seiner formellen Wahl durch die Volkskammer, die am 17. November erfolgte) traf Modrow Absprachen mit seiner designierten Stellvertreterin Luft über die Bildung einer "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform beim Ministerrat der DDR".
In der zweiten Novemberhälfte 1989 zerbrach das Machtmonopol der SED. Am 24. November kündigte Krenz als Generalsekretär des ZK und Vorsitzender des Staatsrates und damit als Staatsoberhaupt der DDR an, dass die SED auf ihren in der Verfassung verbrieften Führungsanspruch verzichten wolle. Dies beschloss die Volkskammer am 1. Dezember. Am 6. Dezember trat Krenz als Staatsratsvorsitzender und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates zurück, am 9. Dezember wurde er an der Spitze der SED durch Gregor Gysi abgelöst.
Am 7. Dezember wurde der "Runde Tisch" gegründet (später zur Abgrenzung gegenüber ähnlichen Einrichtungen in der Provinz als "Zentraler Runder Tisch der DDR" bezeichnet), der zu gleichen Teilen aus Angehörigen der Parteien der Nationalen Front und Vertretern der Bürgerbewegung zusammengesetzt war.
Wirtschaftsreformen und "Volkseigenes Vermögen"
Die Gruppe um Ullmann konstituierte sich am 6. Dezember 1989 als "Freie Forschungsgemeinschaft Selbstorganisation". Aus dem Ziel einer Marktwirtschaft mit sozialer Bindung bei möglichst umfassender Zuteilung von "Volkseigenem Vermögen" an die Bürger der DDR resultierten Überlegungen zur Institutionalisierung einer Art treuhänderischen Funktion, mittels derer das vom Staat gehaltene Volkseigentum in eine Rechtsform überführt werden sollte, die auch im Fall der Auflösung der DDR und ihres Beitritts zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Bestand haben könnte. Diese Überlegungen mündeten in eine Vorlage der Gruppe um Ullmann, die inzwischen als "Freies Forschungskollegium Selbstorganisation für Wissenskatalyse an Knotenpunkten" firmierte, für die Sitzung des Runden Tisches am 12. Februar 1990.
Forciert wurde der Gedanke einer Zwischenlösung - nämlich zwischen einer schrittweisen "Wirtschaftsreform" unter den Bedingungen einer staatlich intakten und politisch stabilen DDR einerseits und der Alternative einer kurzfristigen Übertragung der westdeutschen Wirtschafts- und Rechtsordnung auf die DDR -, als sich in der ersten Februarhälfte 1990 die Anzeichen für einen schnellen Zusammenschluss beider deutscher Staaten, mindestens auf wirtschaftlichem Gebiet, verdichteten. Im Januar hatte die "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" um Krause ein Papier erarbeitet, das unter dem Titel "Zielstellung, Grundrichtungen, Etappen und unmittelbare Maßnahmen der Wirtschaftsreform in weiterer Verwirklichung der Regierungserklärung vom 17.11. 1989" in einer Beilage zur Zeitschrift "Die Wirtschaft" am 1. Februar 1990 veröffentlicht wurde. Dieses Papier ist aufschlussreich, weil es die Reformüberlegungen der Planungselite der DDR unter den angenommenen Rahmenbedingungen stabiler staatlicher Strukturen wiedergibt. So hieß es unter anderem: "Die Wirtschaftsreform zielt darauf, eine leistungsfähige Marktwirtschaft in der DDR herauszubilden, die der demokratische Rechtsstaat mittels Rahmenbedingungen in Form strukturpolitischer Orientierungen, ökonomischer Methoden und rechtlicher Regelungen im Interesse wachsender gesellschaftlicher Effektivität, gemeinnütziger Zwecke und sozialer Sicherheit für alle Bürger reguliert."
Nach den Vorstellungen der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" sollten "neben dem Volkseigentum (...) im Interesse der Entwicklung einer marktwirtschaftlichen Produktionsweise eine Vielfalt weiterer Eigentumsformen entstehen", nämlich "gesellschaftliches Gemeineigentum an Produktionsmitteln". Genannt wurden unter anderem "Gemeineigentum der volkseigenen Betriebe, Kombinate und Wirtschaftsverbände", "privates Eigentum",
Wie immer man die Ernsthaftigkeit solcher Reformabsichten einschätzen mochte - unter den Bedingungen einer weiterhin in das Imperium der Sowjetunion eingefügten, politisch stabilen und staatlich eigenständigen DDR hätten sie als revolutionär gelten müssen. Es handelte es sich um ein plausibles und konsequentes Konzept zur schrittweisen Herausbildung einer Marktwirtschaft und der grundlegenden Steigerung der volkswirtschaftlichen Effektivität, bei dem Alternativen zum "Volkseigentum" - sprich: Staatseigentum - an Produktionsmitteln ausdrücklich zugelassen, wenn auch nicht als wirtschaftspolitisches Primärziel benannt wurden. Tatsächlich leitete die Regierung der DDR selbst unter den turbulenten Verhältnissen bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 eine Reihe von Gesetzesvorhaben ein, die auf der Linie des Reformkonzepts der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" lagen.
Für solche "Reformen von oben" gab es in der deutschen Geschichte zwar Vorläufer, jedoch nur unter Umständen, bei denen Staat und Gesellschaft aufeinander angewiesen waren. Beispiele sind die Niederlage Preußens gegenüber dem Napoleonischen Frankreich 1806 oder die Bismarck'schen Reformen der Wirtschaftsverfassung. Solche Voraussetzungen waren in der DDR indes nicht mehr gegeben. Der Staat, der um seiner Reformfähigkeit willen auf die Unterstützung seiner Bürger angewiesen war, wurde von diesen abgelehnt. Dies war nicht nur der Preis von 40 Jahren SED-Diktatur. Es war vor allem auch die Existenz einer realen Alternative, für die sich bereits Hunderttausende von DDR-Bürgern mit der sprichwörtlichen "Abstimmung mit den Füßen" entschieden hatten: die Bundesrepublik und deren politische und wirtschaftliche Ordnung.
Am 12. Februar 1990 befasste sich der Runde Tisch mit der Vorlage Nr. 12/29, die den Vorschlag des "Freien Forschungskollegiums" zur "umgehenden Bildung einer Treuhandgesellschaft (Holding)" enthielt. Die Vorlage reagierte auf jene Rahmenbedingungen, die im Papier der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" ausgeklammert waren, nämlich die absehbare "Angliederung der DDR an die Bundesrepublik Deutschland".
Die Vorlage wurde an die "Arbeitsgruppe Wirtschaft" des Runden Tisches sowie an die Arbeitsgruppen "Recht" und "Verfassung" überwiesen
Schon seit Dezember 1989 hatte sich nicht nur eine - weitgehend illusionäre - "Joint-Venture"-Euphorie in vielen Volkseigenen Betrieben (VEB) und Kombinaten abgezeichnet, sondern auch die Tendenz vieler Betriebe und ihrer Direktoren, sich, im doppelten Wortsinn, selbständig zu machen und den nominellen Eigentümer, das Volk der DDR, seines Eigentums und dessen politischen Repräsentanten der tatsächlichen Kontrolle über die Unternehmen zu berauben. Es gab daher in der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" schon im Dezember 1989 oder Anfang Januar 1990 Überlegungen, die VEB und Kombinate kurzerhand in Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Aktiengesellschaften umzuwandeln. Marc Kemmler hat darauf hingewiesen, dass in der DDR das GmbH-Gesetz von 1892 und das Aktiengesetz von 1937 nie außer Kraft gesetzt worden waren, so dass eine Grundlage für solche Umwandlungen sogar in der DDR-Rechtsordnung vorhanden war.
Geburt der "Treuhandanstalt"
Der Ministerrat der DDR, dem der Vorschlag zur Schaffung einer "Treuhandgesellschaft" des "Freien Forschungskollegiums" durch Wolfgang Ullmann vorgelegt worden war, beauftragte am 22. Februar 1990 den mittlerweile als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium und als "Regierungsbeauftragter für die Wirtschaftsreform" fungierenden Wolfram Krause mit der Erarbeitung eines Gesetzentwurfs.
Die Vorschläge Krauses und der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" nahmen die Idee einer "Treuhandstelle" aus dem Vorschlag des "Freien Forschungskollegiums" bzw. des "Schatzamtes" aus den internen Überlegungen auf, nicht aber den Vorschlag für eine Anteilsscheinregelung zugunsten der DDR-Bürger. Dies wurde in einer Stellungnahme des "Freien Forschungskollegiums" vom 28. Februar kritisiert.
Etliche der Kritikpunkte spielten bei der Diskussion um die Neufassung des Treuhand-Gesetzes (das am 17. Juni 1990 von der Volkskammer verabschiedet wurde) eine Rolle, und einige, wie der Hinweis auf "bürokratisch-zentralistische Strukturen" oder auf die fehlende parlamentarische Kontrolle, sollten sich als geradezu prophetisch erweisen. Zum anderen schlugen sich in der Stellungnahme des "Freien Forschungskollegiums" nicht weniger Ungereimtheiten nieder, als die Autoren ihrerseits im Beschlussentwurf der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" meinten entdecken zu können. Einerseits wurde richtigerweise auf die notwendige Mobilisierung von Kapital und unternehmerischem Know-how für die angestrebte Überführung der Zentralverwaltungswirtschaft in marktwirtschaftliche Strukturen hingewiesen. Andererseits wurde unterstellt, dass sich Manager und Kapitalgeber durch parlamentarische Politisierung der anvisierten Treuhandanstalt und ihrer Unternehmen weniger schrecken ließen als durch "bürokratisch-zentralistische Strukturen".
Aus der Gesamtschau der Vorschläge
In die Vorstellungen des "Freien Forschungskollegiums" mischten sich dagegen Problemdefinitionen, die eher der staatlichen Letztverantwortung auch für das operative Geschäft der unternehmerischen Einheiten Rechnung trugen, ein Umstand, der in der Vorlage der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform" zur "Gründung einer Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums" ausgeklammert blieb. Wie, mit welchen Organisationsstrukturen und mit welchen Personalressourcen sollte der Staat dieser quasi-unternehmerischen Verantwortung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen gerecht werden? Was sollte im Vordergrund stehen, die verlässliche Direktionsgewalt gegenüber den Betreibern im Interesse der Letzteigentümer - das Schlagwort shareholder war damals noch nicht im Umlauf -, also der Bürger der DDR, oder die Handlungsfreiheit und Flexibilität der Einzelunternehmen? Wie wollte man Kapitalressourcen und Managementkapazitäten mobilisieren, wenn man einerseits einen "Ausverkauf" des "Volkseigenen Vermögens" verhindern, andererseits, wie das "Freie Forschungskollegium" forderte, Eigentumsstrukturen mit dem "Anreiz zur Übernahme des unternehmerischen Risikos in Form internationaler Kapitalbeteiligungen" erreichen wollte, in der richtigen Einschätzung, dass "eine Verantwortungsbereitschaft (...) ausschließlich durch das Risiko des persönlichen Besitzverlustes und die Erwartung von Besitzvermehrung (Gewinn) genährt" würde?
Die in aller Eile ausgearbeiteten Änderungsvorschläge und eine Intervention Ullmanns und weiterer Mitglieder des "Freien Forschungskollegiums" (Artzt, Gebhardt, Schönfelder) bei Wirtschaftsministerin Luft bewirkten keine Änderung mehr an der Vorlage der "Arbeitsgruppe Wirtschaftsreform".
Volkskammerwahl, Staatsvertrag und Währungsunion
Die Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 brachte eine Klärung und auch die erhoffte Stabilisierung der politischen Verhältnisse in der DDR, die von diesem Zeitpunkt an noch sechseinhalb Monate existieren sollte. Die von der CDU geführte "Allianz für Deutschland" errang über 48 Prozent der Stimmen, die SPD landete weit abgeschlagen bei knapp 22 Prozent. Damit war eine quasi-plebiszitäre Entscheidung zugunsten einer möglichst schnellen Vereinigung beider deutscher Staaten gefallen, und zwar nach dem von der CDU im Westen wie im Osten favorisierten Modell eines "Beitritts" der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Art. 23 GG. Neuer Ministerpräsident wurde der Vorsitzende der ostdeutschen CDU, Lothar de Maizière, der eine Koalitionsregierung aus CDU, DSU, Demokratischem Aufbruch, den Liberalen und der SPD bildete. In der Koalitionsvereinbarung vom 12. April 1990 legten sich die Parteien auf den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes fest. Der Weg dazu sollte über eine Währungs- und Wirtschaftsunion mit der Bundesrepublik führen. Die Umstellung von Mark der DDR in D-Mark müsse im Verhältnis 1:1 erfolgen.
Tatsächlich bedeutete diese wirtschaftliche Radikalmaßnahme tiefgreifende wirtschaftliche Unsicherheit und für viele Ostdeutsche (wie sich herausstellen sollte: für ungefähr ein Drittel der Beschäftigten vom Frühjahr 1990) den Verlust des Arbeitsplatzes. Man kann den Schluss von Jonathan Zatlin
Die wochenlangen öffentlichen Diskussionen und Verunsicherungen über die Umstellungskurse wurden am 23. April 1990 durch eine Entscheidung der Bonner Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP beendet: Umstellung 1:1 für Löhne und Gehälter und 2:1 für Betriebsschulden sowie Spar- und Bargeld, ausgenommen 4000 Mark der DDR pro Person, die 1:1 getauscht werden sollten. Außerdem sollte der DDR eine schrittweise Anpassung des Rentensystems an das der Bundesrepublik bis zu einer vorläufigen Höhe von 70 Prozent des durchschnittlichen Nettoverdienstes aus 45 Versicherungsjahren angeboten werden. Als Zeitpunkt des Inkrafttretens der Wirtschafts- und Währungsunion, für die ein Staatsvertrag auszuhandeln sei, wurde der 1. Juli 1990 ins Auge gefasst. Am 18. Mai 1990 unterzeichneten die Finanzminister Theo Waigel und Walter Romberg in Bonn den Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion.
Fazit
Das Schicksal der DDR-Wirtschaft war mit der Vereinbarung beider deutscher Regierungen über die Umstellungskurse besiegelt. Es erledigten sich damit auch alle wirtschaftlichen Reformvorstellungen, die auf einen "Dritten Weg" auf der Basis reformierter Wirtschaftsstrukturen einer fortexistierenden DDR gesetzt hatten. Niemand konnte sagen, wie die DDR-Betriebe ab dem 1. Juli 1990 mit ihren Produkten auf dem Markt Erlöse erzielen sollten, die zur Bezahlung der Vorprodukte und der Löhne in D-Mark ausreichen würden.
Die Vorstellungen zu einer Wirtschaftsreform wären unter den Bedingungen staatlicher Stabilität der DDR und damit der Fortdauer der deutschen Teilung ernstzunehmende Strategien der schrittweisen Umgestaltung der staatlichen Planwirtschaft zu einer staatlich verantworteten Marktwirtschaft gewesen. Damit ist aber bereits der Grund ihres Scheiterns benannt. Die DDR brach zusammen, weil ihre Bürger ihr die Loyalität entzogen.