Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die demokratische DDR in der internationalen Arena | DDR 1990 | bpb.de

DDR 1990 Editorial Das unselige Ende der DDR - Essay Der vergessene "Dritte Weg" Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus" Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit Die demokratische DDR in der internationalen Arena Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990 Abschied von West-Berlin

Die demokratische DDR in der internationalen Arena

Jennifer A. Yoder

/ 18 Minuten zu lesen

Die Entwicklungen in der DDR 1990 spielten kaum eine Rolle auf der internationalen Bühne. Dort ging es um die Auswirkungen einer deutschen Vereinigung auf die Stabilität in Europa.

Einleitung

War die deutsche Vereinigung Laune oder Weisheit, Aberwitz oder verblüffende Einsicht in die Unausweichlichkeit geschichtlicher Vorgänge? Die Nachfahren Klios werden darüber noch endlose Debatten führen.


Weder die friedliche Transformation zur Demokratie noch die deutsche Vereinigung wurden 1989/1990 als unausweichlich betrachtet. Eher sprechen Belege aus Archiven, Erinnerungen und Interviews mit wichtigen Akteuren jener Tage für das Gegenteil: Unsicherheit, Zweifel, ja Irritation herrschten in offiziellen Kreisen nach dem Mauerfall und vor der Volkskammerwahl in der DDR im März 1990. Im Folgenden geht es darum, wie politische Entscheidungsträger und andere Beobachter außerhalb der beiden Teile Deutschlands die Perspektiven für eine eigenstaatliche, demokratische DDR einschätzten. Glaubte irgendjemand 1989/1990 daran, dass Ostdeutschland sein politisches und ökonomisches System reformieren sollte oder dass es irgendetwas Erhaltenswertes gebe? Oder betrachtete man nicht nur die Entfernung des Eisernen Vorhangs, sondern auch die deutsche Vereinigung als logischen Abschluss des Kalten Krieges?

Unter den westlichen Verbündeten der Bundesrepublik schien es keinerlei zwingende Logik für einen "alternativen" demokratischen, sozialistischen Staat zu geben. Die Führungspersönlichkeiten dachten nicht an Belange der Kultur oder an Institutionen und Transformationsprozesse; ihre Sorgen galten den Grenzen und der Sicherheit im Herzen Europas. Der alte Konsens über die Ostpolitik, nach dem der Status quo zweier deutscher Staaten als wünschenswert galt, kennzeichnete die internationale Meinung, bis durch das Tempo der Ereignisse, insbesondere den wirtschaftlichen Niedergang der DDR und den veränderten Ton der Demonstranten dieser Status quo unhaltbar wurde.

Wenn man die bis heute freigegebenen Dokumente und außerhalb Deutschlands publizierte Analysen bewertet, besonders die in den USA, dann springt es ins Auge, wie wenig Aufmerksamkeit auf die DDR und ihre Reformen gerichtet wurde. Stattdessen galt die Sorge einzig und allein der Aussicht auf ein großes, geeintes Deutschland, den Folgen für die europäische Sicherheit, der gefährdeten Stellung Michail Gorbatschows in seinem eigenen Land und den Konsequenzen für die Zukunft der europäischen Integration. Statt zu bedenken, was die ostdeutsche Führung, die Bürgerrechtler oder der Durchschnittsbürger über die Reformchancen der DDR zu sagen hatten, schauten die USA auf Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher.

Es gibt tatsächlich kaum Hinweise in Unterlagen und Analysen amerikanischer Amtspersonen auf Gespräche mit den Führern der DDR - Egon Krenz, Hans Modrow oder Lothar de Maizière - bzw. darauf, dass man ihre Position beachtete. Ein Mitglied des außenpolitischen Teams von Präsident George H. W. Bush erinnerte sich an einen aufschlussreichen Vorfall: "Krenz drängte Bush, er solle zustimmen, dass die Existenz zweier deutscher Staaten und ihre Mitgliedschaft in verschiedenen Allianzen fundamentale Elemente der europäischen Sicherheit seien. Nationalismus, ein Aufleben nazistischer Ideen und das Streben nach Korrektur der Resultate des Sieges der Anti-Hitler-Koalition, so Krenz, sind einem sicheren Frieden in Europa abträglich. Bush antwortete nie."

DDR aus amerikanischer Sicht

Bevor ich mich den Quellen zuwende, sollen ein paar Worte über die Wahrnehmung der DDR aus westlicher, besonders aus amerikanischer Sicht verloren werden. Der außergewöhnliche Status der DDR trug dazu bei, dass Außenstehende den SED-Staat als temporäres Gebilde begriffen, bedingt durch die ideologische und geografische Teilung Europas. Zu diesem Bild trug die Tatsache bei, dass sowjetische Truppen auf ostdeutschem Boden stationiert waren, was eher auf internationales Kriegsrecht (die Besetzung des Territoriums der Besiegten) statt auf Verträge zurückzuführen war. Folglich hatte die DDR, ein nicht vollständig souveräner Staat, eine qualitativ andere Beziehung zum Warschauer Pakt als andere osteuropäische Staaten. Außerdem legte die Verfassung fest, dass die DDR als "untrennbarer Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft" unwiderruflich mit der Sowjetunion verbündet sei.

Erst 1974 wurden offizielle bilaterale Beziehungen zwischen Washington und Ost-Berlin aufgenommen; sie blieben geprägt von Missachtung und Desinteresse: "In der amerikanischen Außenpolitik wurde Ostberlin, falls es überhaupt eine Rolle spielte, hauptsächlich im Licht der amerikanisch-sowjetischen oder amerikanisch-westdeutschen Beziehungen gesehen." Dieser offizielle Blick korrespondierte mit dem Mangel an öffentlichem Interesse an der DDR, weil es, im Unterschied zu den Polen oder Ungarn, in den USA keine Interessengruppe von Ostdeutschen gab, die Druck auf Washington hätten ausüben können. Das Bild der DDR in den USA war hundertprozentig negativ: Bei der Führung handele sich um orthodoxe, dogmatische Kommunisten, so die verbreitete Meinung. Die Amerikaner sahen die DDR nicht als separaten deutschen Staat, sondern als Teil des Ostblocks an. Man ging davon aus, dass der Sozialismus nur eine von der Sowjetunion aufgezwungene Ideologie war. Auch nach der deutsch-deutschen Annäherung betrachteten die Amerikaner die ostdeutsche Bevölkerung als unglückselige, von der Geschichte abgekoppelte Opfer, die ohne Zweifel versessen darauf waren, aus ihrem kommunistischen Gefängnis und der Zeitschleife befreit zu werden.

Es gab nur eine kleine Anzahl von Wissenschaftlern in den USA, welche die DDR "aus nächster Nähe" kannten und Verallgemeinerungen über das Leben hinter der Mauer sowie landläufige Vorstellungen anfochten und korrigierten. Mitte 1989 war eine Sonderausgabe der amerikanischen Zeitschrift "German Politics and Society" dem Thema "40 Jahre DDR" gewidmet. Im Editorial hieß es: "Das kommunistische Regime in der DDR scheint sich am Vorabend ihres vierzigsten Geburtstages hinter seiner konservativen Bürokratie und angestammten politischen Herrschaft verschanzt zu haben." Die Beiträge sollten zeigen, dass "die DDR zu Recht in ihren Anstrengungen, einen Staat aufzubauen, auf eine Erfolgsgeschichte verweisen kann und ebenso auf die Schaffung eines kulturellen Diskurses, der - unabhängig von fortdauernden westdeutschen und sowjetischen Einflüssen - ihr ganz eigener geworden ist". Doch abgesehen von einer Handvoll Wissenschaftler zogen nur wenige Experten in Betracht, dass sich eine spezifische ostdeutsche politische Kultur oder eine kollektive Identität entwickelt haben oder dass ein politisches Bezugssystem entstanden sein könnte, das, wenn man es nur reformieren würde, anderen Systemen vorzuziehen wäre.

In dem Jahr, als die DDR 40 Jahre alt wurde, war Bush das erste Jahr im Amt. Es war offensichtlich, dass seine Außenpolitik verglichen mit der seines Vorgängers Ronald Reagan einen abwartenden und diplomatischeren Stil hatte. Durch seine Karriere beim CIA war er über die europäischen Angelegenheiten viel besser unterrichtet. Insofern war es eine Überraschung, dass Bush bei einer Pressekonferenz in Montana am 18. September 1989 eine Erklärung abgab, in der er die deutsche Vereinigung zu befürworten, zumindest aber nicht abzulehnen schien: "Ich meine, es ist Sache der Deutschen, zu entscheiden. Mit anderen Worten: Falls das zwischen den deutschen Staaten ausgehandelt wurde, dann glaube ich nicht, dass wir es als schlecht für die westlichen Interessen einschätzen sollten. Ich glaube, im Deutschland der Nachkriegszeit hat sich eine dramatische Veränderung vollzogen. Deshalb habe ich keine Angst davor (...). In einigen Kreisen herrscht so ein Eindruck, nun ja, dass ein wiedervereintes Deutschland dem Frieden in Europa in irgendeiner Weise abträglich wäre; aber ich lasse das nicht gelten, nein."

Natürlich meinte Bush, als er von Veränderungen in Deutschland redete, die Bundesrepublik. Nirgendwo bezog er sich auf die DDR, ihre Bürger, Reformen oder Alternativen zur Vereinigung. Um die gleiche Zeit etwa hatte auch Außenminister James Baker öffentliche Erklärungen abgegeben, in denen er die grundsätzliche Unterstützung für die Vereinigung erwähnte, während Sicherheitsberater Brent Scowcroft vorsichtiger war und Bush und Baker drängte, zurückhaltender zu sein, um nicht noch eher als Kohl aktiv zu werden und ihm voreilig den Rücken zu stärken.

Und doch überraschte der Fall der Berliner Mauer einige Wochen nach diesen Äußerungen die Bush-Regierung. Die verhaltene Reaktion klang konfus. Würde Bush nun auf die vertrauten und speziellen Beziehungen der USA zur Bundesrepublik verweisen, die auf Vertrauen und Optimismus in Bezug auf Deutschlands Zukunft basierten, oder auf die neu geknüpften, konstruktiven Beziehungen zu Gorbatschow, die gegen Ende von Reagans Präsidentschaft ihren Anfang genommen hatten? Obwohl sich das politische Establishment der USA der Bedeutsamkeit der Ereignisse in Osteuropa für die Stabilität der kommunistischen Regime und folglich für die Stabilität der ganzen Weltregion bewusst war, gibt es kaum Anzeichen dafür, dass man die Bedeutung dessen, was sich auf den Straßen der DDR abspielte, erfasste. Der Austausch zwischen den führenden Politikern legt nahe, dass allein die internationale Sicherheit das Gebot der Stunde war. Angesichts dessen hätte man aus Washington und Moskau eine Blockadehaltung erwarten können, aber die amerikanische und die sowjetische Führung schienen geneigt, den Ereignissen ihren Lauf zu lassen; gleichzeitig mahnten sie zu Behutsamkeit. Bei einem Telefongespräch zwischen Bush und Kohl am 17. November 1989 galt die vorrangige Sorge der Stabilität. Kohl versprach: "Wir werden nichts tun, um die DDR zu destabilisieren", und Bush bekräftigte: "Die Euphorie in den USA läuft Gefahr, ungeahnte Aktionen in der UdSSR oder in der DDR heraufzubeschwören, die sehr schlimm wären. (...) Wir werden nicht das Problem verschärfen, indem wir den Präsidenten der USA auf der Berliner Mauer posieren lassen."

Der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers, den er am 28. November 1989 dem Bundestag präsentierte, war der Wendepunkt für Bush. Im Unterschied zu den meisten Politikern in Europa und zu den Sowjets, deren Reaktionen von Verdruss bis Furcht reichten, war Bush von Kohls Zuversicht beeindruckt und fühlte sich durch seine Führungsqualitäten und das Vorlegen des Aktionsplans rückversichert. Bush vertraute Kohl, wie auch Manfred Wörner, dem Generalsekretär der NATO und Kohls Parteifreund. Kohl wiederum vertraute Bush; Berichten zufolge beriet er sich mit Washington mehr als mit seinem eigenen Außenministerium über seine Pläne, was Ostdeutschland betraf. Dennoch gab es in Washington Verwirrung über die nächsten Schritte. Die Bush-Regierung war des Drucks, der auf Gorbatschow innerhalb der UdSSR lastete, deutlich gewahr. Darum übte Bush in der Öffentlichkeit Zurückhaltung. Auf Drängen der Sowjets, Briten und Franzosen hatte Baker zugestimmt, an einem Vier-Mächte-Treffen im Dezember in Berlin teilzunehmen. Baker, der ranghöchste Amtsträger der USA, der je die DDR besucht hat, hoffte, "die Modrow-Regierung hinreichend zu stärken, damit sie freie Mehrparteienwahlen für die DDR vorbereiten konnte". Hinter seinem Besuch in Ost-Berlin stand als Zielsetzung nicht die Stärkung von Modrows Legitimation oder Zuspruch für die Ostdeutschen, die eine separate, demokratische DDR beibehalten wollten, sondern die Entschärfung der potentiell explosiven Situation. Auch Verteidigungsminister Dick Cheney setzte sich kaum für die Bürgerbewegung ein und misstraute den Gesten der kommunistischen Eliten in Richtung Reform. Schon früh hatte er davor gewarnt, Gorbatschows Politik "könnte eine nur zeitweilige Abweichung unseres Gegners ersten Ranges von seinem üblichen Verhalten sein".

Es war bezeichnend, dass Bush mit Kohl vollkommen darin übereinstimmte, dass das Modell Bundesrepublik das richtige für ein wiedervereinigtes Deutschland sei und dass es keinen Bedarf an Experimenten mit einem ungewissen "Dritten Weg" gebe. Bush sagte zu seinen Beratern über die Dissidenten in Osteuropa: "These really aren't the right guys to be running the place." Mary Sarotte urteilt: "Bushs Bereitschaft, Kohl die Führung bei der deutschen Vereinigung zu überlassen, war bemerkenswert. Wie der US-Präsident selbst in seinen Memoiren feststellte, hatte er erstaunlicherweise keine ausgeprägte Meinung bezüglich des Vorgehens, als das Chaos von 1989 in Deutschland eine Reaktion erforderte. Wie verlautet, klagte Thatcher, das Problem mit Bush sei, dass er nichts gegenüber eine ausgeprägte Meinung habe."

Im Gegensatz zu den vorsichtigen, ja mitunter abstrusen Reaktionen der Regierung reagierten die amerikanischen Medien jubelnd auf den Mauerfall und schienen sicher zu sein, dass die deutsche Vereinigung komme. Während allerorten in Osteuropa Selbstbestimmung und Reformen gefeiert wurden, schenkten die Medien der DDR kaum Aufmerksamkeit, ebensowenig der Vorstellung, dass es eine (demokratisch-sozialistische, ökologische oder andere) Alternative zur Bundesrepublik geben könnte. Doch nicht alle Journalisten jubilierten. Abraham Michael Rosenthal schrieb im Februar 1990 in der "New York Times" über "versteckte Wörter", die er und viele andere mit Deutschland assoziieren, die man jedoch bezeichnenderweise nicht laut aussprechen und drucken würde: Jude, Auschwitz, Sklavenarbeit, Nazi. "Fast alle reden so, als ob die Sehnsucht der Deutschen nach Wiedervereinigung so gewichtig und moralisch mächtig sei, dass es absolut frevelhaft wäre, sie aufzuschieben, bis für die gesamte Nazigeneration der Jüngste Tag anbricht. (...) Wollen wir es um Himmels willen wirklich dem Außenministerium überlassen, zu entscheiden und zu sagen, welche Hoffnungen und Ängste wir mit Deutschland verbinden?"

Während Charles Krauthammer dem Projekt Vereinigung in Gänze Beifall spendete ("Die deutsche Wiedervereinigung wird die dramatischste Wiedergeburt der Souveränität in der Nachkriegszeit sein"), mahnte er doch: "Die Mauer ist zu früh gefallen. Wäre Ostdeutschland als letzte sowjetische Provinz gefallen, auf die, wie wir dachten, der Kreml pocht, dann wäre es ein nur Stückchen, das ein neues, stabiles Europa in sich aufnehmen könnte. Da die deutsche Wiedervereinigung so schnell gekommen ist, droht sie das Ganze zu sprengen, indem sie im Herzen Europas ein größeres Deutschland entstehen lässt (...)."

Peter Marcuse, der lange Zeit sowohl in West- als auch in Ostdeutschland verbracht hatte, schrieb im Oktober 1990 einen nachdenklichen Kommentar. Nach vierzig Jahren DDR blieben seiner Meinung nach das Wissen darüber, was Sozialismus eben nicht sei, sowie Lehren über exzessive staatliche Planwirtschaft, aber auch Errungenschaften auf dem Gebiet der sozialen Gerechtigkeit zurück. Am wichtigsten sei jedoch das ostdeutsche Volk, "das andere Erfahrungen gesammelt und in einer Gesellschaft gelebt hat, die andere Ziele verkündete, und das diese Ziele verfolgt hat, auf Seiten des Staates, zuletzt oft gegen ihn. (...) Vielleicht besteht ein bleibender Beitrag aus vierzigjähriger DDR-Erfahrung darin, dass mindestens 16 Millionen Deutsche nicht zu denen gehören, die von Macht- und Vorherrschaftsstreben besessen und von ihrer Überlegenheit und absoluten Rechtschaffenheit überzeugt sind." Und: "Die Menschen aus Ostdeutschland wissen besser als die meisten anderen, was der Preis von Dogmatismus und einer geschlossenen Gesellschaft ist."

Einige, die in Veröffentlichungen in den USA als "links" bezeichnet wurden, schrieben wie Marcuse über den Nationalismus, der die Regierung Kohl und viele Ostdeutsche zu ergreifen schien. Aber im Großen und Ganzen nahmen die meisten Tageszeitungen und auch der Nachrichtensender CNN mit seiner breiten Zuschauerschaft Siegesfreude und Freiheit als Grund zum Feiern wahr. Man verschwendete wenig Zeit auf die neue DDR-Führung, ihre Handlungsspielräume oder den wirtschaftlichen und sozialen Druck, der auf ihr lastete. Das Ende des Kalten Krieges als Generationenlegende, das Kräftemessen zwischen den Supermächten, versinnbildlicht durch den Fall der Mauer, und die fixe Idee, ein Stück von ihr zu besitzen, übten Faszinationskraft aus. Insgesamt setzte die amerikanische Öffentlichkeit als gegeben voraus, dass die Vereinigung unausweichlich und "richtig" sei. Der Mauerfall und das Abschütteln der kommunistischen Herrschaft bestätigten, was die Amerikaner schon immer glaubten: dass nämlich Demokratie und Kapitalismus letzten Endes den Sieg davontragen.

Anderswo im Westen

Trotz öffentlicher Erklärungen, in denen die friedliche Revolution in der DDR und der Mauerfall gerühmt wurden, belegen die Unterlagen, dass die meisten politischen Führer im Westen, allen voran Margaret Thatcher und François Mitterrand, die deutsche Vereinigung ablehnten und sich Sorgen um die von ihr ausgehende Gefahr für die Nachkriegsgrenzen und, damit zusammenhängend, um die europäische Sicherheit machten.

Nur Thatcher wagte öffentlich ihren Widerstand zu äußern, während andere im Stillen opponierten und in der Öffentlichkeit diplomatischer und verhaltener reagierten. In einem Artikel im "Wall Street Journal" Ende Januar 1990 wurde Thatcher mit den Worten zitiert, Kohl müsse "dem Weitblick auf die Erfordernisse Europas" seine eigene "beschränktere, nationalistische Programmatik" unterordnen: "Demokratie aufzubauen ist viel schwerer, als sie niederzureißen." Im Juli 1990 wurde ein Memorandum veröffentlicht, welches das tiefe Misstrauen der politischen Entscheidungsträger in Großbritannien gegenüber den Deutschen und ihre unablässigen Befürchtungen gegenüber der Vereinigung offenbarte. Zu den brisanten Abschnitten des Memorandums gehörten, von Thatchers Privatsekretär Charles Powell alphabetisch aufgelistet, angebliche Wesenszüge der Deutschen, wie sie bei einem Treffen auf dem Landsitz in Chequers zur Sprache gekommen waren: "Existenzangst, Aggressivität, Rücksichtslosigkeit, Selbstgefälligkeit, Minderwertigkeitskomplexe, Sentimentalität." Am 24. November 1990 sagte Thatcher zu Bush: "Das erste und übergeordnete Ziel sollte der Aufbau echter Demokratien in ganz Osteuropa und letzten Endes auch in der Sowjetunion sein (...). Die Wiedervereinigung war nicht nur eine Sache der Selbstbestimmung, auch die Vier Mächte hatten bestimmte Verpflichtungen."

Auch bei Mitterrand löste der Mauerfall Besorgnis aus, aber in der Öffentlichkeit bekundete er, er habe "keine Angst vor der deutschen Vereinigung". Seine gedämpfte Befürwortung erklärte sich aus seinen langjährigen und sehr konstruktiven Beziehungen zu Kohl sowie daraus, dass Frankreich die Bundesrepublik brauchte, um die europäische Integration voranzutreiben. Dass Frankreich von Juli bis Dezember 1989 den Vorsitz in der Präsidentschaft der Europäischen Union innehatte, stellte sicher, dass Mitterrand mit Umsicht zu Werke gehen und den europäischen Rahmen im Auge behalten würde. Wiederholt ließ sich er sich von Kohl versichern, dass die Vereinigung Teil der europäischen Integration sein würde. Dennoch war Mitterrand verärgert darüber, dass er von Kohl nicht vorab in den Zehn-Punkte-Plan eingeweiht worden war. Infolgedessen hielt er es nicht für nötig, mit Kohl Rücksprache zu halten, als er ein Datum für seinen DDR-Besuch festlegte. Zum Abschluss seines Staatsbesuchs in Ost-Berlin am 22. Dezember 1989 erklärte er: "Ich habe keinerlei Absicht, Deutschland zu diktieren, wie sein zukünftiger Status sein soll. (...) Wir sind auch Garanten für den Frieden in Europa. Wir sind selbst Garanten für den Status von Deutschland. Aber 45 Jahre sind vergangen (...). Heute gibt es eine neue Generation, dies ist ein neues Kapitel in der Geschichte; ich persönlich nehme es daher nicht hin, dass man die Deutschen behandeln kann, als stünden sie unter Vormundschaft. Aber sobald es um die Lage in Europa geht, dann geht es uns wohl etwas an; dann müssen wir sicherstellen, dass kein Ungleichgewicht entsteht, das letztendlich das Europa der Kriege wiederherstellen würde."

Östlich der Oder

Istvan Deak behauptet, dass die meisten Ost- und Mitteleuropäer der deutschen Vereinigung positiv gegenüber eingestellt gewesen seien - ausgenommen die Polen. In Warschau machte man sich Gedanken darüber, dass in Kohls Zehn-Punkte-Plan ein elfter Punkt fehle, durch den in einem künftigen Staatenbund bzw. Einheitsstaat die Oder-Neiße-Grenze anerkannt werde. Die Polen waren mit den Verhandlungen über die deutsche Vereinigung bis zum 17. Juli 1990 und mit der Erklärung der Zwei-plus-Vier nicht zufrieden, mit denen die deutschen Grenzen definitiv festgelegt wurden. Diesen Grenzen wurden am 14. November 1990 in Warschau Vertragsstatus zugebilligt.

In Polen gab es zwar Erleichterung darüber, dass die DDR endlich den Weg demokratischer Reformen eingeschlagen hatte, aber auch tiefsitzenden Argwohn angesichts der Grenze zwischen Polen und Ostdeutschland, falls sich deren Status im Zuge der Reformen verändern sollte. Premierminister Tadeusz Mazowiecki äußerte diese Bedenken bereits am 1. Februar 1990 in Berlin: "Die Überwindung der Teilung ist selbstverständlich für Deutschland eine Chance, politisch, wirtschaftlich und für den Fortschritt. Die Frage ist, wie diese Chance genutzt wird, ob sie eine Perspektive für Europa eröffnet." Dass sich bis zu 90 Prozent der polnischen Öffentlichkeit der deutschen Vereinigung entgegenstellten, spiegelte die Besorgnisse im Zusammenhang mit den Grenzen und deren möglichen Korrekturen wider, aber auch Befürchtungen, welche die Beziehungen zu einem ökonomisch und politisch stärkeren Deutschland betrafen.

Michail Gorbatschow wird weithin (wenn auch nicht von Amerikanern, die dazu neigen, den Beitrag ihrer eigenen politischen Führer zu übertreiben, wohl aber von Europäern) die Schlüsselrolle bei der deutschen Vereinigung zugesprochen. Woraus aber erklärt sich der Verzicht der Sowjetunion auf das Projekt einer reformierten DDR? Josef Joffe behauptet, dass Gorbatschow einen groben Fehler begangen habe, als er es im Oktober 1989 versäumte, zum harten Durchgreifen gegen die Demonstranten in der DDR aufzufordern. Stattdessen habe er darauf gesetzt, dass sich die DDR reformieren würde, um zu überleben, und damit "starke Nerven" gezeigt, denn, so Joffe, die DDR war eine "Nicht-Nation", und sollte sie sich "in Richtung demokratischer Selbstbestimmung bewegen, dann könnte sie nur dem wahren deutschen Staat, der Bundesrepublik, in die Arme fallen". Jahre später vom Historiker Robert Conquest befragt, ob er genauso gehandelt hätte, falls er gewusst hätte, wohin der Wandel führen würde, antwortete Gorbatschow: "Wahrscheinlich nicht."

Die Akten belegen, dass Kohl durch geheime Meldungen aus Moskau darin bestärkt wurde, seinen Zehn-Punkte-Plan auszuarbeiten, denn dort rechnete man damit, dass die Idee eines Staatenbundes eine Möglichkeit wäre, die zusammenbrechende DDR zu stützen, indem man beiden deutschen Staaten den gleichen Status zusicherte. Sein Berater Horst Teltschik sollte Kohl davon überzeugen, Gorbatschow anzusprechen, um die Idee eines Staatenbundes zu erörtern, und den Sowjets zuzusichern, dass ein solcher nur im Kontext des "Gemeinsamen Europäischen Hauses" errichtet werden würde. Das Missverständnis lag darin, dass Teltschik nicht begriff, dass Kohl Gorbatschow anrufen sollte, sondern meinte, die Nachricht komme von Gorbatschow selbst.

Bekanntlich waren weder Bush noch Gorbatschow über Kohls Zehn-Punkte-Plan im Voraus informiert. Ein paar Tage später beklagte sich Gorbatschow bei Bush beim Gipfeltreffen in Malta: "Kohl handelt nicht seriös und verantwortungsbewusst", worauf Bush antwortete: "Die USA versuchen mit einer gewissen Zurückhaltung zu handeln." Diese schien schon am nächsten Tag, dem 3. Dezember 1989, zu schwinden, als sich Bush mit Kohl in Brüssel traf. Als sich Kohl nach dem Gespräch mit Gorbatschow am Vortag erkundigte, sagte Bush: "Wir haben lange über die deutsche Frage diskutiert. Gorbatschow meinte, Sie hätten es zu eilig", worauf Kohl entgegnete: "Ich habe Gorbatschow gesagt, es liege nicht in meinem Interesse, die Ereignisse außer Kontrolle geraten zu lassen." Über seinen Zehn-Punkte-Plan sagte er: "Ich werde nichts Leichtsinniges tun. Ich habe keinen Zeitplan aufgestellt. Wir sind Teil Europas und bleiben Teil der EU. Ich habe immer alles sorgfältig mit Präsident Mitterrand abgestimmt. Die zehn Punkte sind keine Alternative zu dem, woran wir im Westen arbeiten. Diese Prozesse sind Vorbedingung für die zehn Punkte. Die europäische Integration ist die Vorbedingung, damit der Wandel in Osteuropa wirksam wird. (...). Alle in Europa haben Angst vor zwei Dingen: erstens, dass Deutschland nach Osten abdriften könnte - das ist Unsinn; zweitens, und das ist der wahre Grund, dass Deutschland sich wirtschaftlich schneller als meine Kollegen entwickelt. Ja, 62 Millionen wohlhabende Deutsche sind schwer zu ertragen, mit 17 Millionen mehr hat man große Probleme. Sobald die DDR eine tatsächlich freie Regierung hat, könnten wir konföderative Strukturen aufbauen, und zwar zwischen zwei unabhängigen Staaten. Phase 3 ist der Einheitsstaat, eine Angelegenheit der Zukunft, die man zeitlich strecken könnte. Aber ich kann nicht sagen, dass das je passieren wird."

Bush antwortete: "Gorbatschows Hauptproblem ist die Ungewissheit. (...) Wir brauchen eine Formulierung, die ihn nicht abschreckt, mit der wir aber vorankommen." Als sich Bush nach der Einstellung der Menschen in der DDR zur "Wiedervereinigung" erkundigte, antwortete Kohl: "Die Ostdeutschen brauchen Zeit, um herauszufinden, was sie wirklich wollen. Ich brauche eine Zeit ruhiger Entwicklung. Vor einem Jahr wäre es verrückt gewesen, so zu reden. In der BRD befürworten die meisten Menschen und Parteien die Wiedervereinigung. Die Grünen sehen eine Chance: Sie wollen die Abschaffung der Bundeswehr und Neutralität. Sie sind gegen die Wiedervereinigung. Die SPD willigte letzten Dienstag ein. Jetzt herrscht der Eindruck, das sei Kohls Sieg. Die Liberalen sind für das Programm, sind aber verärgert, weil es mein Erfolg ist. Die Wirtschaft steht gut da: Nie hat unser Volk so viel verdient wie jetzt, aber nun will man staatliche Leistungen statt Arbeit."

Gorbatschow wurmte die Überrumpelung durch den Zehn-Punkte-Plan. Er äußerte Genscher gegenüber, dass die Westdeutschen auf dem Wege seien, den europäischen Integrationsprozess zu begraben. Außenminister Eduard Schewardnadse verstieg sich sogar zu Vergleichen mit Hitler. Gorbatschow beklagte sich bei Genscher, Kohl hätte sich mit ihm absprechen sollen, er "denkt aber wahrscheinlich schon, dass seine Musik gespielt wird, ganz sicher ein Marsch, und dass er bereits mitmarschiert."

Aus Ostdeutschen werden Deutsche

Innerhalb erstaunlich kurzer Zeit hatte sich die Rhetorik in den USA die "Selbstbestimmung" der Deutschen als "ein Volk" zu Eigen gemacht. Den Rahmen für diesen Prozess gaben die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen ab, die von Februar bis September 1990 dauerten. Überwältigt von Tempo und Tragweite der Ereignisse in der UdSSR und Osteuropa, akzeptierte Gorbatschow schließlich die Vereinigung zu den deutschen und westlichen Bedingungen - keine Neutralität, Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands in der NATO. Am 15. Juli 1990 trafen sich Kohl und Gorbatschow in Stawropol und unternahmen ihren berühmten "Waldspaziergang", bei dem Gorbatschow einem geeinten Deutschland in der NATO seine Zustimmung gab.

Heute erscheint alles so einfach, so selbstverständlich, doch die freigegebenen Dokumente veranschaulichen, dass der Weg zur Vereinigung wiederholtes Innehalten erforderte und die Zeichen diplomatischen Geschickes und einer guten Portion Vertrauen aus Moskau und Washington trug. Was bei vielen Berechnungen jener Tage (besonders im Westen) fehlte, war die DDR: Eine unabhängige und demokratische DDR gab es nicht einmal im amerikanischen Reich der Fantasie.

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Dr. Juliane Lochner, Leipzig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Josef Joffe, Putting Germany Back Together: The Fabulous Bush and Baker Boys, in: Foreign Affairs, (1996) Jan./Feb., online: www.foreignaffairs.com (20.12. 2009).

  2. Philip D. Zelikow/Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed: A Study in Statecraft, Cambridge, MA 1995, S. 81.

  3. Verfassung der DDR von 1974, zit. nach: Renata Fritsch-Bournazel, Europe and German Unification, Providence, RI 1992, S. 91.

  4. Ronald Asmus, Bonn and East Berlin: The View from Washington. RFE/RL Background Report 190 (17.10. 1984), online: www.osaarchivum.org (18.12. 2009).

  5. Zum Beispiel Thomas Baylis, Henry Krisch, James McAdams, Marilyn Rueschemeyer, und Bradley Scharf.

  6. German Politics and Society, Sonderausgabe "The GDR at Forty", 17 (Summer 1989), Editors' note.

  7. Zit. nach: P. Zelikow/C. Rice (Anm. 2), S. 81.

  8. Vgl. ebd., S. 93.

  9. Aufzeichnung des Telefongesprächs zwischen Bush und Kohl am 17.11. 1989 in: The National Security Archive, The Soviet Origins of Helmut Kohl's 10 Points, Dokument Nr. 1, online: www.gwu.edu/~ nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB296/index .htm (18.12. 2009).

  10. P. Zelikow/C. Rice (Anm. 2), S. 146.

  11. Zit. nach: Timothy Garton Ash, 1989!, in: The New York Review of Books vom 5.11. 2009, S. 6.

  12. Ebd.: "Das sind wirklich nicht die Richtigen, um den Laden zu schmeißen."

  13. Mary E. Sarotte, 1989: The Struggle to Create Post-Cold War Europe, Princeton 2009, S. 210.

  14. A. M. Rosenthal, Hidden Words (4.2. 1990), in: Harold James/Martha Stone (eds.), When the Wall Came Down: Reactions to German Unification, New York 1992, S. 168.

  15. Charles Krauthammer, The German Revival (26.3. 1990), in: ebd., S. 180.

  16. Peter Marcuse, East German Requiem (22.10. 1990), in: ebd., S. 230.

  17. Zit. nach: M. E. Sarotte (Anm. 13), S. 100.

  18. Zum Memorandum vgl. Timothy Garton Ash, The Chequers Affair, in: The New York Review of Books vom 27.9. 1990, S. 14.

  19. Zit. nach: M. E. Sarotte (Anm. 13), S. 67.

  20. Zit. nach: R. Fritsch-Bournazel (Anm. 3), S. 82.

  21. Vgl. Istvan Deak, German Unification: Perceptions and Politics in East Central Europe, in: German Politics and Society, 20 (Summer 1990), S. 23.

  22. Zit. nach: R. Fritsch-Bournazel (Anm. 3), S. 109.

  23. Zahlen in: ebd.

  24. J. Joffe (Anm. 1).

  25. Zit. nach: T. Garton Ash (Anm. 11), S. 7.

  26. Vgl. The National Security Archive, The Soviet Origins of Helmut Kohl's 10 Points, online: www.gwu.edu/~ nsarchiv/NSAEBB/NSAEBB296/index .htm (22.12. 2009).

  27. Memorandum des Gesprächs von George H. W. Bush, John Sununu, Brent Scowcroft und Helmut Kohl, 3.12. 1989, Dokument Nr. 4, online: ebd.

  28. Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Michail Gorbatschow und Hans Dietrich Genscher, 5.12. 1989, Dokument Nr. 5, online: ebd.

B.A., M.A., Ph.D., geb. 1967; Robert E. Diamond Associate Professor of Government and International Studies; Director of the International Studies Program, Colby College, 5317 Mayflower Hill Drive, Waterville, ME 04901/USA.
E-Mail: E-Mail Link: jayoder@colby.edu