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Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus" | DDR 1990 | bpb.de

DDR 1990 Editorial Das unselige Ende der DDR - Essay Der vergessene "Dritte Weg" Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus" Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit Die demokratische DDR in der internationalen Arena Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990 Abschied von West-Berlin

Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus"

Rainer Land

/ 16 Minuten zu lesen

Neben der politischen Frage, wie die Parteiherrschaft der SED beendet werden könne, ging es für die Akteure des "Modernen Sozialismus" um konzeptionelle Grundlagen einer gesellschaftlichen Erneuerung.

Einleitung

Im Februar 1990 stellten wir in West-Berlin unser gerade bei "Rotbuch" erschienenes "Umbaupapier" vor. In der Diskussion erklärten einige der anwesenden linken Intellektuellen aus West-Berlin, unsere Reformvorschläge liefen im Prinzip auf das hinaus, was man im Westen habe: Kapitalismus und Parteienherrschaft, all das, wogegen man seit Jahrzehnten kämpfe. Sozialismus sähe anders aus, und es sei doch fatal, dass die Leute in der DDR den Sturz des Stalinismus nicht nutzen würden, endlich eine wirkliche sozialistische Alternative zum Westen aufzubauen.



Das Konzept des "Modernen Sozialismus" war das Produkt eines in den Perestroika-Jahren entstandenen Wissenschaftlerkreises, zu dem 15 bis 20 Personen gehörten. Es gab aber an der Humboldt-Universität ein weit größeres Umfeld, mit Verbindungen zur Akademie der Wissenschaften und zu den Universitäten in Jena, Leipzig und Dresden, ein Kommunikationszusammenhang, der bis in die 1970er Jahre zurückreichte und in dem mehrere hundert Personen, ganz überwiegend Mitglieder der SED, mehr oder weniger intensiv mitwirkten. Dazu gehörten zum Beispiel die interdisziplinäre Forschungsgruppe "Philosophische Probleme der Politischen Ökonomie" (Hans Wagner, Peter Ruben, Camilla Warnke, Herbert Steininger) oder der Herausgeberkreis des Lehrbuchs "Politische Ökonomie des Kapitalismus" mit Dieter Klein als Leiter.

In diesen Kreisen war man zu der klaren Erkenntnis gelangt, dass Gesellschaft und Staat der DDR und insbesondere auch der Sowjetunion und der anderen RGW-Staaten ohne eine grundlegende Erneuerung nicht weiter bestehen werden. Das Spektrum der Ideen für Veränderungen war breit, widersprüchlich und reichte schon unter den Intellektuellen, die Mitglied der SED waren oder ihr nahestanden, von kosmetischen Verbesserungen, einer Wiederauflage des Neuen Ökonomischen Systems der 1960er Jahre und eher opportunistischen Konzepten bis zu linksfundamentalistischen und konservativ-bürgerlichen Vorstellungen. Noch größer erscheint diese Vielfalt, wenn man die ebenfalls in den 1980er Jahren entstandenen Gruppen der Bürger- und Bürgerrechtsbewegung einbezieht, von denen einige sozialistische Ideale vertraten, andere die Bürgerrechte, die Ideen der Umweltbewegung oder (seltener) auch die Rückkehr zu Marktwirtschaft und freiem Unternehmertum ins Zentrum rückten.

Neben der politischen Frage, wie die Herrschaft des Honecker-Politbüros beendet werden könne, stand für uns junge Gesellschaftswissenschaftler vor allem die Frage im Zentrum, auf welcher wissenschaftlichen und konzeptionellen Grundlage eine solche Erneuerung aufbauen könne. Der dogmatisierte Marxismus-Leninismus kam nicht in Frage. Mit der Perestroika wurden symbolisch die Zeichen auf "neues Denken" gestellt, auch wenn die SED-Führung davon nichts wissen wollte. Das Projekt "Moderner Sozialismus" war eine von mehreren Gruppierungen innerhalb der sogenannten SED-Reformer. In diesem Konzept wurde versucht, die Grundidee des Sozialismus auf der Basis einer Theorie der Moderne zu rekonstruieren. Dem Anspruch nach ging es um sehr viel mehr, als bloß die Herrschaft einer Staatspartei durch eine pluralistische Parteiendemokratie zu ersetzen und die direktive Planwirtschaft durch eine indikative mit mehr Spielräumen für die Betriebe. Es war der Versuch, die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundlagen einer demokratisch verfassten sozialistischen Gesellschaft theoretisch neu zu bestimmen.

Nun warf man uns jedoch vor, unser "Moderner Sozialismus" sei doch nur der Kapitalismus, wie man ihn im Westen schon hatte: Hatten wir im "Umbaupapier" Reformkonzepte vorgelegt, die auf eine kapitalistische Umgestaltung der Wirtschaft, eine parlamentarische Demokratie und einen bürgerlichen Rechtsstaat hinausliefen? Offensichtlich. Unsere West-Berliner Professorenkollegen hatten wohl das richtige Gefühl: Wir unterschieden uns konzeptionell sehr von der sozialistischen Linken in Westdeutschland, die entweder "sozialistisch" mit "antikapitalistisch" gleichsetzte oder - sozialdemokratisch - darunter die Dominanz des Staats über die Märkte und die kapitalistischen Unternehmen, also einen staatlich eingehegten Kapitalismus, verstand. Allerdings war das Urteil, wir würden das bestehende System der Bundesrepublik übernehmen wollen, falsch. Es gab für uns sehr wichtige Differenzen.

Antwort auf die Krise des Staatssozialismus

Die Betriebe sollten selbstständige Unternehmen werden, die zentrale staatliche Planung zunächst stark eingeschränkt und später abgeschafft werden, der Staat sollte wie im Westen nur durch Rahmenbedingungen, durch indikative statt direktive Planung und Investitionsförderung, Einfluss auf die Wirtschaft nehmen. Zugleich aber sollten die Mitbestimmung im Betrieb und der Einfluss der Öffentlichkeit auf die Unternehmen sehr viel stärker ausgestaltet und rechtlich normiert werden, nicht nur durch größere Rechte der Betriebsräte, sondern durch eine Öffentlichkeitsbank in den Aufsichtsräten der in Aktiengesellschaften umgewandelten ehemals staatlichen Unternehmen, die ökologische Belange, Verbraucherinteressen und andere für das Gemeinwohl relevante Belange vertreten sollte. Ähnliches wurde für andere Wirtschaftsbehörden oder Organisationen diskutiert. Inhaltlich wurde der Übergang zu einer anderen wirtschaftlichen Entwicklungsrichtung in den Mittelpunkt gestellt, die auf die Lösung der globalen Probleme gerichtet werden sollte und insbesondere eine ökologische und soziale Orientierung vorsah. Kapitalverwertung und wirtschaftliche Rentabilität wurden als Mittel zum Zweck, als notwendige Mittel der Wirtschaftsregulation verstanden, nicht als Selbstzweck. Vielmehr wurde versucht, basisdemokratische und lebensweltlich verankerte Strukturen zu konzipieren, die den wirtschaftlichen Verwertungsprozess in Richtungen lenken, die mit den Interessen der freien Entwicklung der Individuen übereinstimmen.

Hinsichtlich des politischen Systems und des Rechtsstaats entsprachen die Vorschläge in Vielem den Prinzipien westlicher Demokratien, aber es gab Erweiterungen. Die Grundlage einer neuen Verfassung waren die Grundrechte, sie sollten durch soziale Grundrechte erweitert werden, darunter ein ausgestaltetes Recht auf Arbeit. Die Drittwirkung der Grundrechte sollte in die Verfassung aufgenommen werden: Sie sollten eben nicht nur im Verhältnis von Bürgern und Staat, sondern auch im Verhältnis der Bürger untereinander gelten, im Verhältnis der Bürger zu Unternehmen, Organisationen und Verbänden. Kontrollfunktionen sollten von zentralen staatlichen Institutionen auf eigenständig zu wählende Bürgerorgane übergehen; so war ein nicht durch politische Parteien dominierter Medienkontrollrat vorgesehen, der die Einhaltung demokratischer Spielregeln im Bereich von Presse, Rundfunk und Fernsehen kontrollieren, Machtkonzentration beschränken, Monopole und Manipulation durch einseitige Werbung oder Berichterstattung verhindern sollte. Teile dieser politischen Vorstellungen fanden sich im Verfassungsentwurf des Runden Tisches vom März 1990 wieder, nicht zuletzt durch die Mitwirkung von Rosemarie Will.

Insgesamt liefen die Vorschläge auf eine politische Demokratie westlichen Typs und eine kapitalistische Marktwirtschaft mit selbstständigen Unternehmen hinaus, in denen der Staat zwar Rahmenbedingungen setzte, aber in seinem Einfluss erheblich beschränkt werden und deutlich weniger Macht haben sollte als etwa in Westdeutschland - zugunsten direkter Kontrolle durch die Bürger. Einige linke westdeutsche Politiker und Intellektuelle warfen uns "Anti-Etatismus" vor, denn für sie war gerade die Stärkung des Staates gegenüber den Unternehmen die Voraussetzung für ein soziales, ökologisches und kulturelles Korrektiv. Viele ostdeutsche Intellektuelle der Reformergeneration der 1980er Jahre waren durch den Eindruck eines übermächtigen Apparats geprägt, der durch die Verschmelzung von Staatspartei, Staatsapparat und Wirtschaftsunternehmen zu einem "Monosubjekt" fusioniert war. Wir wollten einen in seiner Macht erheblich eingeschränkten Regierungs- und Staatsapparat, dafür aber umso mehr basisgebundene politische Kontrolle.

Es ging also nicht um die Selbstregulation durch Märkte und nicht um den Verzicht auf gesellschaftliche Regulation, sondern um eine in vielfältige basisnahe Organisationen der Bürger eingebettete Kapitalverwertungswirtschaft. Was das Gemeinwohl jeweils ist, sollte durch die Interaktionen der Bürger in ihren Interessenlagen (Staatsbürger, Arbeiter, Miteigentümer, Mieter, Stadtbewohner, Eltern, Mediennutzer, Verbraucher) selbst bestimmt, artikuliert und durchgesetzt werden, durch die "politische Gesellschaft" (Dieter Segert) und durch den Staat in ihrer jeweiligen Besonderheit. Es sollte nicht länger so sein, dass der Staat den Bürgern sagt, worin ihr Gemeinwohlinteresse besteht und es in deren Namen durchsetzt - notfalls auch gegen sie und gegen ihren Willen. Die Bürger selbst sollten ihre Interessen gegenüber den Institutionen vertreten und durchsetzen können. Der Staat sollte die Einhaltung der Spielregeln sicherstellen, Machtungleichgewichte der Interessengruppen verhindern und ausgleichen, als Schiedsrichter fungieren und den Rahmen der politischen Gesellschaft sicherstellen.

Was also im Projekt "Moderner Sozialismus" als Sozialismus verhandelt wurde, ist eine Gesellschaft, in der Kapitalverwertungswirtschaft und Staat so an die Lebenswelten und die politische Gesellschaft der Bürger gekoppelt sind, dass die Richtungen der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung stets auch die Räume für die freie und universelle Entwicklung der Individualität jedes Einzelnen erweitern, und zwar ohne Staatseigentum an den Produktionsmitteln, ohne zentrale Planwirtschaft, ohne Parteienherrschaft und Herrschaft der Machtapparate über die Bürger und ohne Dominanz der staatlichen Regulierung über eine politische und marktwirtschaftliche Selbstregulierung. Sehr ausführlich hat André Gorz dieses Konzept rezipiert und gewürdigt. Freilich war das Konzept 1990 noch nicht sehr präzise und nicht sehr weit ausgearbeitet. Aber die Grundidee einer fundierten Neubegründung von Sozialismus als Entwicklungsmodus einer modernen Gesellschaft war vorhanden. Der Herbst 1989 bot die Gelegenheit, konzeptionell auszuprobieren, wie praktische Schritte eines solchen Umbaus aussehen könnten.

Akteure in der Volksrevolution

Als die Revolution im September und Oktober 1989 begann, lag unser Konzept nur in ersten Ansätzen und zum Teil durchaus nicht widerspruchsfreien Texten verschiedener Autoren zu eher speziellen Aspekten vor. Wir hatten seit dem Sommer 1989 mit Hochdruck daran gearbeitet, Bündnispartner zu gewinnen, zugleich das Konzept selbst weiterzubringen und Lösungen für praktische Fragen auszuarbeiten - und dies unter großem Zeitdruck. So hat beispielsweise die Rede von Michael Brie auf einer Demonstration von SED-Mitgliedern am 8. November 1989 gegen das Krenz-Politbüro und für einen sofortigen Sonderparteitag dazu beigetragen, den letzten Rettungsversuch der SED-Obrigkeit zu vereiteln.

Es war aber ausgeschlossen, den "Modernen Sozialismus" als Blaupause für politische Gestaltungsansätze nach dem Sturz der SED-Diktatur zu benutzen. Wir waren eine Gruppe unter vielen und hatten auch im größeren Kreis der SED-Reformer keine Mehrheit. Es handelte sich um ein Reformkonzept, das nicht auf Revolution und Umsturz setzte. Daher mussten immer einzelne Reformschritte für einen Übergang aus einem staatssozialistisch-planwirtschaftlichen System und der SED-Herrschaft in eine moderne Gesellschaft mit sozialistischem Entwicklungsmodus gefunden werden, Schritte, die groß genug waren, um eine Dynamik der Veränderung in Gang zu halten, aber zugleich eine gewisse Stabilität gewährleisten sollten. Ich erinnere mich an die Erarbeitung eines Modells für ein teilkonvertierbares Währungssystem für eine Übergangszeit, das dringend nötig war, um bei offener Grenze wirtschaften zu können, oder an den Entwurf eines Mitbestimmungs- und Betriebsverfassungsgesetzes, das die Idee einer Öffentlichkeitsbank vorsah und das die betriebliche Mitbestimmung auch auf die strategischen Investitionsentscheidungen des Unternehmens ausdehnte. Auch die Idee eines öffentlich arbeitenden, parteifernen Medienkontrollrats wurde zunächst umgesetzt. Schließlich muss auch der Versuch genannt werden, die in der Volksrevolution entstandene breite Bürgerbewegung durch Formen der basisdemokratischen Einbindung in gesellschaftliche Prozesse und staatliche Entscheidungen zu festigen, etwa in Schulen und Hochschulen.

Für uns war das eine produktive, interessante, lehrreiche und unvergessliche Zeit. Mit einer weitgehenden oder gar vollständigen Umsetzung unseres Konzepts konnte niemand rechnen, aber man hoffte, für die eine oder andere Gestaltungsidee öffentliche Zustimmung und Mehrheiten zu finden. Und das war ja zumindest anfangs auch der Fall. Es änderte sich aber mit der Umorientierung der Volksrevolution von einer Erneuerung und Neukonstituierung der DDR-Gesellschaft auf eine schnelle Wiedervereinigung. Warum kam es dazu? Hatten wir die Bedeutung der deutschen Frage unterschätzt?

Der Untertitel des "Umbaupapiers" lautete "Argumente gegen die Wiedervereinigung". Die deutsche Einheit war sicher für die älteren Generationen der Bevölkerung wie der Intellektuellen in beiden deutschen Staaten sehr wichtig, auch für die SED-Parteiintellektuellen der ersten beiden Generationen, die an eine Vereinigung unter sozialistischen oder sozialdemokratischen Vorzeichen dachten, ebenso für die politisch unterdrückte bürgerliche Opposition, die sich am Vorbild der westdeutschen Gesellschaft der 1950er und 1960er Jahre orientierten. Für die dritte Generation der DDR-Intellektuellen, deren politische Identität sich in den späten 1970er und 1980er Jahren herausbildete, war die Wiedervereinigung ein nachrangiges Thema. Die Schlüsselereignisse ihrer politischen Sozialisation waren die Biermann-Ausbürgerung und deren Folgen, die polnische Solidarno?c und Gorbatschows Perestroika. Aber auch für die meisten Personen in den Gruppierungen der Opposition und des Widerstands gegen die SED war die Wiedervereinigung kein zentrales Thema. Zwar spielte das Ost-West-Verhältnis und das Verhältnis von Bundesrepublik und DDR überall eine wichtige Rolle; die Entwicklungen in Westdeutschland wurden von der gesamten DDR-Bevölkerung und natürlich auch in intellektuellen Kreisen intensiv verfolgt und diskutiert, aber nicht oder kaum als Frage der staatlichen Vereinigung. Anderes schien damals weit wichtiger.

Dies gilt auch für das Projekt "Moderner Sozialismus". Uns war mehr oder weniger klar, dass unser Konzept einer sozialistischen Moderne an den Grundstrukturen der westlichen Gesellschaften ansetzte und deren sozial-progressive Entwicklungsmöglichkeiten als Modell für die Umgestaltung des Staatssozialismus benutzte - also keinen fundamentalen Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Ordnungen postulierte, keine Unvereinbarkeit behauptete. Sozial progressive Reformen im Westen wie auch die erhofften, durch Reformen vorangetriebenen Veränderungen der staatssozialistischen Gesellschaften würden in die gleiche Richtung weisen, glaubten wir. Damit waren aber die Überwindung des Ost-West-Gegensatzes und das Verhältnis zur Bundesrepublik - der Gesellschaften, nicht nur der Staaten - auf einer konzeptionell neuen Grundlage zu denken. Eine Skizze dafür, geschrieben von André Brie und Wolfram Wallraf, ist im Umbaupapier enthalten. Dort war zu lesen: "Praktisch wird die Mauer beseitigt werden müssen." Im Zentrum stand aber auch für uns nicht die deutsche Einheit, sondern "die Existenz der DDR als souveräner Staat", weil wir darin die Voraussetzung für die Verwirklichung selbstbestimmter gesellschaftsverändernder Reformen sahen. Sie sollten verbunden sein mit einem Beitrag zu einer europäischen Friedensordnung und einer vertieften wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und ökologischen Kooperation der beiden deutschen Staaten.

Über die Frage, warum es zwischen Dezember 1989 und März 1990 zu einem dramatischen Stimmungswandel kam und eine Bevölkerungsmehrheit immer klarer für eine schnelle, möglichst sofortige Vereinigung votierte, ist viel debattiert und geschrieben worden. Aus meiner Sicht lag dies vor allem daran, dass im Dezember immer offensichtlicher wurde, dass es keine legitimen, handlungsfähigen und auch handlungsmächtigen politischen Akteure in der DDR gab - und sich im Herbst 1989 auch nicht gebildet hatten. Die konservativ und kopflos agierende Modrow-Regierung, die nicht legitimierte Volkskammer, der Runde Tisch, der nicht regieren, sondern nur kontrollieren wollte, die westdeutschen Berater - alle verwalteten die Krise und warfen mit Visionen um sich, aber niemand vermittelte der Bevölkerung den Eindruck, die dramatische Lage dieses ansonsten wunderschönen Herbstes positiv wenden zu können. Die aus meiner Sicht einzig legitime Möglichkeit wäre gewesen, die Modrow-Regierung zu stürzen, die Volkskammer aufzulösen, den Runden Tisch zur geschäftsführenden Regierung zu erklären und baldmöglichst eine verfassunggebende Versammlung zu wählen und einzuberufen. Darauf hätten sich SED-Reformer und Bürgerbewegung einigen, dabei hätten sie kooperieren müssen. In beiden Kreisen wurde dieser Weg aber von der Mehrheit verworfen. Viele SED-Reformer scheuten davor zurück, die "eigene" Regierung zu stürzen, einen Putsch gegen die eigenen Leute in Gang zu setzen. Und die meisten Vertreter der Bürgerbewegung wollten Macht kritisieren, aber nicht ausüben, vor allem aber in keiner Weise mit irgendwelchen Leuten aus der SED gemeinsame Sache machen. So verstrich die einmalige Gelegenheit, eine deutsche Revolution bis zu einem basisdemokratischen Verfassungskonvent voranzutreiben, "Gesellschaftsgestaltung durch Verfassunggebung" (Rosemarie Will) zu praktizieren und aus der Volksbewegung heraus einen handlungsmächtigen und legitimierten Akteur zu erschaffen.

So kam es, dass die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesregierung, der Bundeskanzler und die vielen anderen Akteure aus dem Westen für die Volksbewegung in der DDR die einzigen legitimen und handlungsmächtigen Akteure wurden, von denen man Lösungen erwarten und an die man sich wenden konnte. Das Votum für den schnellen, möglichst sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik hatte nur wenig mit nationaler Identität und angeblichen Zusammengehörigkeitsgefühlen zu tun - es war eine Entscheidung für Akteure, denen man etwas zutraute und welche die Fähigkeit, die Ressourcen und die Macht hatten, mit der Situation klarzukommen.

Perspektiven?

Nachdem im Februar und März 1990 die Entscheidung für eine schnelle staatliche Vereinigung gefallen war, und zwar über eine Wirtschafts- und Währungsunion und auf dem Wege des Beitritts zur Bundesrepublik Deutschland, war bald klar, dass weder eine Neukonstitution der DDR noch sozialökonomische oder politische Innovationen durchsetzbar waren. Denn es wurde ja nicht nur das Grundgesetz in Kraft gesetzt, sondern bis auf temporäre Übergangsregelungen und wenige Ausnahmen die gesamte Rechtsordnung der Bundesrepublik. Mehr noch: Auch die Organisationen, Parteien, Gewerkschaften und Verbände, Landes- und Kommunalverwaltungen wurden entweder aus dem Westen übertragen oder durch Vereinigung der Ost-Organisationen mit den entsprechenden westdeutschen gebildet - bis auf wenige Ausnahmen bei Dominanz der westdeutschen -, oder sie wurden als Kopien westdeutscher Strukturen angelegt, wie etwa bei den Landes- und Kommunalverwaltungen. Sicher gab es Unterschiede, aber es waren wenige, meist irrelevante (grüner Rechtsabbiegepfeil) oder nur temporäre (Fristenregelung des Schwangerschaftsabbruchs). Die Hoffnungen, dass es im Zuge der Vereinigung zu längst fälligen Reformen des Grundgesetzes, der Hochschulverfassung, des Betriebsverfassungsgesetzes, der Parteistrukturen, der Sozialsysteme und des Gesundheitssystems kommen oder gar die entstandene Bürgerbewegungsdemokratie erhalten werden könnte, stellten sich bald als Trugbilder heraus.

Letztendlich ist von den praktischen Gestaltungsansätzen und Vorschlägen des Herbstes 1989 wenig in die deutsche Vereinigung eingegangen. Das betrifft nicht nur das Projekt "Moderner Sozialismus" oder die verschiedenen linken Reformerströmungen, die aus der Auflösung der SED entstanden waren und die teilweise in der PDS (bzw. der Linkspartei), teilweise eigenständig und teilweise in Organisationen westdeutscher Herkunft weiter existieren. Es gilt auch für die Bürgerbewegungen und die im Herbst 1989 entstandenen ostdeutschen Parteien wie die SDP oder den Demokratischen Aufbruch. Kreativität wurde benötigt, aber nicht, um neue Lösungen zu finden, sondern um den Transfer des westdeutschen Systems umzusetzen. Die Frage nach einem innovativen Umbau dieses Systems war auf wenigstens zehn Jahre zurückgestellt. Das hatte Vorteile - es ging schneller, und Westdeutschland hat den Transformationsprozess mit aus der Perspektive von 1989 ungeahnten Finanztransfers gestützt, insbesondere, um die Sozialsysteme in Funktion zu setzen und zu erhalten. Auch die Staatsfunktionen und das Budget der ostdeutschen Bundesländer und Kommunen wären ohne Transfers nicht finanzierbar gewesen. Wirtschaftliche Investitionen wurden und werden durch staatliche Förderung unterstützt, und auch die privaten Investitionen stammen in erheblichem Maße aus westdeutschen Quellen. Der kurzfristige wirtschaftliche Schock (1990 - 1993) wurde auf diese Weise erheblich gemildert, und die Friktionen für die Bevölkerung waren deutlich geringer als in anderen Transformationsländern.

Eine Transformation, welche die Chance zu grundlegenden Reformen nicht nutzte, obwohl der Reformbedarf auch in Westdeutschland sehr wohl gesehen wurde, hat Kehrseiten. Vor allem hat dies zu einer Verfestigung der wirtschaftlichen Rückstände und der Transferabhängigkeit im Osten geführt, weil zu wenige innovative wirtschaftliche Entwicklungen in Gang gekommen und zu viele (mehr oder weniger überflüssige) Kopien und verlängerte Werkbänke westdeutscher Unternehmen entstanden sind, für die es bei stagnierenden Märkten keinen langfristigen Bedarf gab. Mit dieser Hypothek, einer wenig innovativen deutschen Vereinigung als Resultat eines anfangs sehr innovativen und kreativen gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR, werden wir noch lange zu tun haben. Denn die erforderlichen Reformen wurden nicht nur verzögert, sondern gingen im Wesentlichen in die falsche Richtung, als sie mit Rotgrün endlich begannen: Agenda 2010, Finanzmarktliberalisierung, EU-Erweiterung ohne hinreichende Regelung der sozialen Integration, Hochschulreform, Exzellenzinitiative. Doch die Öffentlichkeit beginnt zu begreifen, dass die Funktionsfähigkeit der Moderne nicht durch Sozialabbau, Lohnkürzungen und Deregulierung der Märkte erhalten werden kann. Man könnte lernen, dass mehr Teilhabe, mehr Spielraum und mehr Ressourcen für die freie Entwicklung der Individuen am Ende auch die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft verbessern und der wirtschaftlichen Entwicklung nutzen. Vielleicht wird dann der "Moderne Sozialismus" wieder nachgefragt.

Bereits im Januar und Februar 1990 gingen dessen Akteure verschiedene Wege. Einige wollten die PDS umgestalten, andere neue Parteien gründen, einige versuchten, der SPD beizutreten (die aber mit selbstbewussten Ex-SED-Reformern nichts zu tun haben wollte; reuige Sünder hatten bessere Chancen), manche gingen zu den Grünen oder wurden parteilos. Heute gibt es überall Einzelne, aber keinen funktionierenden organisatorischen Zusammenhang mehr. Schließlich hatte jeder von uns viel Arbeit damit, sich eine neue, halbwegs zufriedenstellende wirtschaftliche und intellektuelle Existenz aufzubauen. Ein zweiter Grund liegt in der Inkompatibilität des Konzepts, mit dem die westdeutschen Linken, die entweder antikapitalistisch oder etatistisch dachten, mit einem evolutionstheoretisch begründeten Konzept einer sozialistischen Moderne, bis heute nichts anfangen können. Der Hauptgrund für die Marginalisierung liegt aber vermutlich darin, dass in der Bundesrepublik bis heute eine konservative oder neoliberale politische Strömung dominiert und kaum Möglichkeiten bestehen, Mehrheiten oder Interessenten für sozial progressive Reformkonzepte zu finden. Schon das Wort Reform wird in der Öffentlichkeit heute meist mit noch mehr Druck, Sozialabbau und Lohnkürzungen identifiziert.

Der Exkurs "Moderner Sozialismus als sozioökonomische Evolutionstheorie" und weitere Texte finden sich online unter www.rainer-land-online.de.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Rainer Land (Hrsg.), Das Umbaupapier. Argumente gegen die Wiedervereinigung, Berlin 1990. Das Buch versammelte Texte, die im Frühjahr und Sommer 1989 entstanden und in der Revolution des Herbstes 1989 in der DDR verbreitet und ergänzt worden waren. Der Kern dieser Texte, eine "Studie zur Gesellschaftsstrategie", war ursprünglich für die Selbstverständigung und die intellektuelle Diskussion an der Humboldt-Universität geschrieben. Autoren waren Michael Brie, Rainer Land, Dieter Segert, Rosemarie Will sowie Andre Brie, Hannelore Petsch, Wilfried Ettl und Wolfram Wallraf für bestimmte Abschnitte. Die Möglichkeit einer Veröffentlichung in der DDR war bis in den Oktober hinein nur eine ferne Hoffnung; nach dem 9. Oktober bereiteten wir die Publikation für den Dietz Verlag (DDR) vor. Im Februar 1990 erschienen die Texte in einer etwas anderen Zusammenstellung im "Umbaupapier". Vgl. auch die folgenden Dokumente: Michael Brie/Rainer Land/Hannelore Petsch/Dieter Segert/Rosemarie Will, Sozialismus in der Diskussion. 1. Studie zur Gesellschaftsstrategie, Berlin 1990; Harald Bluhm/André Brie/Michael Brie/Wilfried Ettl/Rainer Land/Dieter Segert/Wolfram Wallraf/Rosemarie Will, Sozialismus in der Diskussion. 2. Texte zu Politik, Staat, Recht, Berlin 1990; Humboldt-Universität zu Berlin, Forschungsprojekt Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des Modernen Sozialismus. Materialien der Eröffnungsberatung, Berlin, November 1988; Erhard Crome/Lutz Kirschner/Rainer Land, Der SED-Reformdiskurs der achtziger Jahre. DFG-Projekt CR 93/1 - 1 (1990), online im Archiv Demokratischer Sozialismus der Rosa-Luxemburg-Stiftung: www.rosalux.de/cms/index.php?id=18682&0= (18.2. 2010).

  2. So lautet auch der Vorwurf von Eberhard Czichon/Heinz Marohn, Das Geschenk. Die DDR im Perestroika-Ausverkauf, Köln 1999, die das Konzept des modernen Sozialismus als Hilfestellung sahen, "die DDR (...) zu zerstören und in den Kapitalismus zurückzustufen" (S. 167).

  3. Michael Brie in: Humboldt-Universität zu Berlin, Forschungsprojekt Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des Modernen Sozialismus. Materialien der Eröffnungsberatung, November 1988, S. 3.

  4. Vgl. André Gorz, Und jetzt wohin?, Berlin 1991, S. 34 - 38.; vgl. auch Helmut Wiesenthal, Politik im neuen Deutschland: Moderne Sozialismustheorie für die PDS? Das DDR-Umbaupapier, in: Kommune, (1990) 8, und Sigrid Meuschel, Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, Frankfurt/M. 1992, S. 324f.

  5. Michael Brie, Rede auf der Demonstration der Parteibasis am 8. 11. 1989 vor dem ZK-Gebäude, in: Erhard Crome/Lutz Kirschner/Rainer Land (1999), Bestand Forschungsprojekt Moderner Sozialismus, Bd. 6, darin: Materialien zur Demonstration der Parteibasis am 8. 11. 1989 vor dem ZK-Gebäude mit den Dokumenten: Initiative der Grundorganisation der SED des Zentrums für wissenschaftlichen Gerätebau der AdW, 6. 11. 1989 (Abschrift des Videomitschnitts der Fernsehübertragung).

  6. Vgl. Rainer Land, Der Herbst 1989 und die Modernisierung der Moderne, in: Hans Misselwitz/Katrin Werlich, Später Aufbruch - frühes Ende? Eine Bilanz nach der Zeitenwende, Berlin 2000, S. 163ff.; siehe auch Berliner Debatte Initial, 11 (2000) 2.

  7. Vgl. Dieter Segert, Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Wien-Köln-Weimar 2008.

  8. Vgl. Rainer Land/Ralf Possekel, Namenlose Stimmen waren uns voraus. Politische Diskurse von Intellektuellen aus der DDR, Bochum 1994, S. 52ff.

  9. Vgl. ebd., S. 57, S. 61.

  10. Vgl. R. Land (Anm. 1), S. 171.

  11. Ebd., S. 169.

  12. Ausführlicher in: Rainer Land/Ralf Possekel, Fremde Welten. Die gegensätzliche Deutung der DDR durch SED-Reformer und Bürgerbewegung in den 80er Jahren, Berlin 1998, S. 198ff.

  13. Im Entwurf der Rede von M. Brie (Anm. 5) war von einer "Regierung der nationalen Rettung" die Rede.

  14. Ausführlicher in: Rainer Land/Andreas Willisch, Ostdeutschland - ein Umbruchsszenario. Warum der "Aufbau Ost" als "Nachbau West" nicht gelingen konnte, in: Hannes Bahrmann/Christoph Links (Hrsg.), Am Ziel vorbei. Die deutsche Einheit - Eine Zwischenbilanz, Berlin 2005, sowie Rainer Land, Zur Lage in Ostdeutschland. Bericht des Netzwerkes und Innovationsverbundes Ostdeutschlandforschung. Redaktion des Gesamtberichts, Autor der Berichtsteile 3, 4, 5, in: Berliner Debatte Initial, 17 (2006) 5.

Dr. sc. oec., geb. 1952; 2. Vorstandsvorsitzender des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung e.V., Dudel 1, 17207 Bollewick.
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