Einleitung
Der "Dritte Weg" einer demokratisch erneuerten DDR ist kein Erinnerungsort der jüngsten Zeitgeschichte. Nicht mit der Vision eines demokratischen Sozialismus zwischen Markt- und Planwirtschaft hat sich der revolutionäre Umbruch von 1989/90 im Gedächtnis unserer Zeit etabliert, sondern mit dem Pathos einer nationalen Freiheits- und Einheitsbewegung, die folgerichtig in das Ende der über vierzigjährigen Teilung Deutschlands mündete. Die öffentliche Erinnerung wird von einem zeithistorischen Narrativ beherrscht, das die Öffnung der Grenzen am 9. November 1989 aus dem Blickwinkel der deutschen Vereinigung vom 3. Oktober 1990 betrachtet und auf die zielstrebige Geschlossenheit des atemberaubenden Revolutionsgeschehens abhebt: "Wir dachten daran", erinnerte sich Rainer Eppelmann, "in der DDR einen freiheitlichen Staat aufzubauen, der in zunehmend engerer Verbindung zur Bundesrepublik Deutschland neue Wege erproben sollte."
Dieser Sicht folgen nicht wenige jüngere Gesamtdarstellungen der friedlichen Revolution. In einem narrativen Rahmen, der den Umbruch von 1989/90 als gradlinige Entwicklung hin zu politischer Freiheit und oft auch nationaler Einheit fasst, schrumpfen zeitgenössische Zielvorstellungen einer eigenständigen sozialistischen DDR zum realitätsfernen Hirngespinst von Sonderlingen, die während des Umbruchs den Kontakt zur Bevölkerung verloren hätten. Soweit die Vision eines "Dritten Wegs" diesen Rahmenwechsel überstanden hat, zog sie sich in die trotzige oder melancholische Gegenerinnerung ehemaliger Protagonisten zurück, die sich der "Nötigung zur Identitätsverleugnung" verweigern und resigniert mit dem Verlauf des Umsturzes von 1989/90 ins Gericht gehen oder bis heute über den "lebendige(n) Traum von einer anderen DDR" nachsinnen, "die wirklich demokratisch wäre".
Sozialistische Erneuerung
Auch eine entschlossen teleologische Deutung der friedlichen Revolution kann nicht die Kluft zwischen der kaum mehr als zweitausend mutige Köpfe umfassenden Bürgerrechtsbewegung und der Millionen zählenden Volksbewegung ignorieren, die sich vor allem über die Montagsdemonstrationen und die anschwellende Ausreiserwelle entfaltete und im Mauerdurchbruch ein Ventil für das unterdrückte Bedürfnis nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Wohlstand fand. Hier behilft sich die erfolgsgeschichtliche Revolutionserzählung mit einer Denkfigur, die den sich aufdrängenden Gegensatz zwischen den "Oppositionellen, die im Land etwas verändern wollten", und den "Hoffnungslosen, die nur noch wegwollten", mit einer Unterscheidung zwischen empirischem und eigentlichem Geschehen zum Verschwinden bringt: "Beide Gruppen pochten auf die Einhaltung der Menschenrechte, die einen wollten sie erkämpfen, die anderen sie sofort haben. Beide Ansätze waren legitim. Öffentlich einräumen konnten beide Seiten aber nicht, dass sie eigentlich auf der gleichen Seite der Barrikade standen."
Gegen die glättende Sicht der Zeitzeugen, die in ihrer Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Wollen die Akteure des Umbruchs zu Werkzeugen des historischen Fortschritts entmündigt, steht freilich die Aussage der Zeitzeugnisse. Beobachter der radikalen Veränderungen und der von ihnen ausgelösten Aufbruchsstimmung zeigten sich Ende 1989 vielfach ganz selbstverständlich davon überzeugt, dass die Erneuerung auf eine "sozialistisch inspirierte Alternative zur Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik" ziele, die Stalinismus und Thatcherismus gleichermaßen hinter sich lassen wolle. Dieser Eindruck deckt sich mit zahllosen regimekritischen Verlautbarungen des Herbstes. "Es geht nicht um Reformen, die den Sozialismus abschaffen, sondern um Reformen, die ihn weiterhin in diesem Lande möglich machen", deklarierte die Resolution der Künstler vom 18. September 1989 und drückte aus, was den oppositionellen Aufbruch in der DDR insgesamt beseelte: "Niemand forderte das Ende des Sozialismus, keiner dachte an das Ende vom Sozialismus." Es steht außer Frage, dass sich die regimekritische Bewegung der 1980er Jahre in der DDR "an einem alternativen Sozialismus, nicht aber an einer Alternative zum Sozialismus" orientierte.
Einschränkungen gelten am ehesten noch für die sozialdemokratische Neugründung SDP, die eine an die Tradition von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit anknüpfende Alternative für "unser Land" engagieren wollte. Ein Bekenntnis zur sozialistischen Zukunft legte dagegen der Appell "Für eine vereinigte Linke in der DDR" vom September 1989 ab, der sich "an alle politischen Kräfte" richtete, "die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten". Auf anderer weltanschaulicher Basis hielt auch der "Aufruf zur Einmischung in eigener Sache" der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" an einer sozialistischen Zukunft fest: "Was die sozialistische Arbeiterbewegung an sozialer Gerechtigkeit und solidarischer Gesellschaftlichkeit angestrebt hat, steht auf dem Spiel. Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll." Auch der "Demokratische Aufbruch" stellte Ende Oktober 1989 den "Demokratischen Sozialismus" als Orientierungsnorm heraus: "Die kritische Haltung des Demokratischen Aufbruchs (DA) zum real-existierenden Sozialismus bedeutet keine Absage an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung." Nicht anders warnte der Aufruf zur Gründung einer Grünen Partei in der DDR im November davor, dass die "Erneuerungsbewegung (...) eine Gesellschaft der Ellbogenfreiheit, der Verschwendung und Wegwerfmentalität entstehen läßt".
Die Erosion des diktatorischen Machtgebäudes nährte unter Oppositionellen wie SED-Reformern die Hoffnung, dass "der Untergang des dogmatischen und bürokratischen Sozialismus und der Anfang des wahren, des schöpferischen Sozialismus" erst bevorstehe. Die Demonstration "der Kunst- und Theaterschaffenden" am 4. November auf dem Alexanderplatz mobilisierte Hunderttausende und wurde zur massenwirksamsten Manifestation eines "verbesserlichen" Sozialismus in der Geschichte der DDR. Gemeinsam bekannten sich 22 kritische Intellektuelle und führende SED-Funktionäre von einer zur Rednertribüne umgestalteten Lastwagenpritsche hinweg zum Geist der Erneuerung, den am eindrucksvollsten Stefan Heym formulierte: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, (...) den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit." Die Zukunft sei der "Sozialismus, nicht der Stalinsche, der richtige, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen von ganz Deutschland". In der Menschenmenge standen Basisdemokraten neben reformwilligen SED-Mitgliedern, die von der Vorstellung beseelt waren, dass "wir es in der DDR selbst schaffen würden, Gesellschaft und politische Ordnung eigenverantwortlich umzugestalten". Die Kundgebung blieb vielen Beteiligten als "das zentrale Erlebnis der Wendezeit" im Gedächtnis, und der Schulterschluss zwischen Opposition, SED-Reformern und Bevölkerung ließ die Verwirklichung der alten Utopie des "Dritten Wegs" zum Greifen nahe erscheinen: "Wir schwebten noch im Traum einer Selbstbefreiung. Wir meinten, nun würde eine deutsche demokratische Republik möglich, eine revolutionäre Frucht des gemeinsamen aufrechten Gangs (...)." Mit Recht konnte Egon Krenz rückblickend darauf verweisen, dass an diesem Tag keine Forderungen nach Abschaffung der DDR zu hören waren.
Im Gegenteil: Selbst dem Fall der Mauer fünf Tage später kam im Horizont dieses Aufbruchsdenkens vielfach nur beiläufige Bedeutung zu. Weit wichtiger konnte stattdessen der von Hunderttausenden unterzeichnete Aufruf "Für unser Land" vom 26. November 1989 erscheinen, der die Vision einer "sozialistischen Alternative zur Bundesrepublik" beschwor und davor warnte, dass "ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt". In der Erarbeitung einer neuen, betont plebiszitären und sozialrechtlichen DDR-Verfassung schien der Traum eines "Dritten Wegs" im April 1990 Gestalt anzunehmen - und sollte von den politischen Umständen sofort wieder in Luft aufgelöst werden: Die vom vorgezogenen Termin der Volkskammerwahl überraschte Arbeitsgruppe konnte dem Zentralen Runden Tisch auf dessen 16. und letzter Sitzung am 12. März 1990 noch keinen vollständigen Verfassungsentwurf präsentieren, und ihr Vorschlag, einen Verfassungsrat zu gründen, fand keine Mehrheit mehr. Sechs Tage später entzog der Ausgang der Volkskammerwahl mit der Marginalisierung der Bürgerrechtsbewegung und dem Sieg der vereinigungsorientierten "Allianz für Deutschland" dem Konzept eines "Dritten Wegs" die politische Handlungsgrundlage und ließ nicht nur Bärbel Bohley um "die verlorene Chance" trauern, "daß hier wirklich etwas hätte entstehen können, was ganz neu ist in der Welt".
Vom Königsweg zum Irrweg
Dass sich der Königsweg so rasch und entschieden in einen Irrweg verwandelte, lässt sich nicht allein aus der Wirkungsmacht der Teleologie ableiten. Sie allein kann schwerlich erklären, warum die Zielvorstellung eines "Dritten Wegs" - anders als im Gefolge der deutschen Novemberrevolution 1918/19, des Ungarn-Aufstands 1956 oder des Prager Frühlings 1968 - heute keinen öffentlichen Erinnerungswert mehr besitzt und selbst in der Revolutionsdeutung vieler seiner einstigen Protagonisten wie ausradiert erscheint.
Die übrig gebliebenen Anhänger einer sozialistischen Erneuerung, die sich als authentische Vertreter des oppositionellen Geistes von 1989 verstehen und "das Umlügen der eigenen Geschichte" durch die "nachträglichen Fetischisten des Status quo" geißeln, glauben die Erklärung in der moralischen Denunzierung ihrer einstigen Mitstreiter finden zu können. Doch wer die Abkehr der Bürgerrechtsbewegung von der Vision des "Dritten Wegs" vornehmlich auf die unterwürfige Anpassungsbereitschaft von Oppositionellen zurückführen will, "die in Amt oder Mandat ihren Frieden mit dem Bestehenden gemacht haben", hält ausgerechnet denen eine herrschaftsfromme Charakterschwäche vor, die sich vor dem Herbst 1989 durch regimekritische Gesinnungsstärke ausgezeichnet hatten. Mehr analytischen Gewinn verspricht eine Erklärungsstrategie, welche die Ursache für das Verschwinden des "Dritten Wegs" nicht in den Akteuren des Umbruchs sucht, sondern in den politisch-kulturellen Bedingungen, unter denen sie handelten.
Der überragende Grund für das rasche Verschwinden des "Dritten Wegs" aus der politischen Diskussion ergibt sich fraglos aus seiner Inkompatibilität mit den Zielen und Interessen der in Bewegung geratenen Massen, die das Grenzregime des Mauerstaats seit Sommer 1989 immer stärker unter Druck zu setzen begonnen hatten und denen am 9. November die missverständliche Medienreaktion auf eine missverständliche Erklärung zum neuen Reisegesetz genügte, um die Tore der Mauer zu sprengen. Dass der kurzzeitigen "Verschmelzung von Opposition und Volksprotest" ebenfalls eine Fehlannahme zugrundelag, tat Bärbel Bohley nur Tage nach dem Mauerfall mit drastischen Worten kund: "Die Menschen sind verrückt, und die Regierung hat den Verstand verloren."
Bis zum Mauerfall hatte der Druck des Regimes den unterschiedlichen Bewegungen von Regimekritikern, Montagsdemonstranten und Ausreisern ein gemeinsames Ziel gegeben, wiewohl gerade die Ausreiserproblematik immer wieder die Gräben zwischen der auf demokratische Erneuerung hinarbeitenden Bürgerrechtsbewegung und der auf Reisefreiheit und Wohlstandsteilhabe gerichteten Volksbewegung hatte aufscheinen lassen. In dem Moment, als die SED-Diktatur ins Wanken geriet, schossen nicht nur die strukturell entgegengesetzten Handlungsstrategien von Ausreisern und Hierbleibern zusammen. Für wenige Wochen konnte die Protestbewegung einer kleinen Gruppe standhafter Regimekritiker zum Sprachrohr der massenhaft anschwellenden und dann landesweiten Loyalitätskündigung in der Gesellschaft werden. Welche Irritationen diese situative Allianz auf beiden Seiten erzeugte, illustrierte rückblickend ein Sprecher des Neuen Forums, das für den 2. Oktober in Schwerin zu einem Gesprächsabend geladen hatte: "Wir fragten uns an diesem Abend: Was wollen die ganzen Leute hier?" Auf der Gegenseite war demselben Zeugnis nach die Fremdheit nicht geringer: "Es kamen Leute, die ihre Sympathie, die ihre Unterstützung für das Neue Forum erklären wollten, die mitarbeiten wollten, die sich engagieren wollten. (...) Ich habe dann angefangen zu erzählen, was wir vorhaben, (...) wo das Ganze hingehen soll. Aber häufig lief das dann darauf hinaus, daß sie irgendwann zumachten und sagten: Bitte, das ist jetzt alles zuviel, das wollen wir alles nicht wissen, zeigen Sie uns einfach, wo sollen wir unterschreiben, sagen Sie uns, wer ist hier der Chef, wer sagt, wo's lang geht und was wir machen sollen."
So ernüchternd dieses Zusammenfinden denkbar unterschiedlicher politisch-kultureller Milieus war, und so misstrauisch viele Bürgerrechtler gegenüber dem Massenzulauf blieben, erzeugte die plötzliche Popularität der Protestbewegung doch zwangsläufig die beflügelnde Vorstellung einer gesamtgesellschaftlichen Verankerung, die dann ihre Realitätsferne im Laufe des Jahres 1990 in aller Härte offenbaren sollte. Viele Bürgerrechtler waren unter dem Eindruck dieser Enttäuschung bereit, sich lieber von der Idee eines "Dritten Wegs" zu trennen als den einmal erreichten Konsens mit der Mehrheitsbevölkerung wieder preiszugeben. Sie mochten darin durch die oft schmerzhafte Erkenntnis bestärkt worden seien, dass die Dissidenten auch von den oppositionellen Bewegungen in den anderen kommunistischen Staaten Ostmitteleuropas isoliert waren, die sich längst von reformsozialistischen Hoffnungen verabschiedet hatten.
Aber auch wer auf die Abwahl der Bürgerrechtsbewegung resignativ oder gelassen mit dem Ausstieg aus der Politik reagierte, tat dies im Bewusstsein, dass es für einen "Dritten Weg" keinen Handlungsspielraum mehr geben könnte, in dem zugleich das herrschaftskritische Selbstverständnis der Bürgerrechtsbewegung aufgehoben bliebe. Die eben noch scheinbar die Bevölkerung mobilisierende Vision eines "Dritten Wegs" erwies sich in den Monaten der welthistorischen Wende von 1989/90 als ein gleich in mehrfacher Hinsicht aus der Zeit gefallener Denkansatz, der einer vergangenen Sinnwelt des Politischen angehörte. Von der Mehrheitsbevölkerung trennte ihn das Ethos der Selbstbescheidung und der Geist der Askese, der das politische Denken der Verfechter eines erneuerten Sozialismus über den Zusammenbruch des SED-Staates hinaus grundierte. Hätten die freudetrunken den Fall der Mauer feiernden DDR-Bürger die Sprecher der Bürgerrechtsbewegung auch weiterhin als ihre Galionsfiguren akzeptiert, wenn sie gewusst hätten, dass Einzelne von ihnen zur selben Zeit über einen Aufruf der Opposition zur erneuten Grenzschließung berieten, "da die DDR ansonsten wirtschaftlich schnell ausbluten würde"? Die Zukunftsvorstellungen der Oppositionsgruppen und der SED-Reformer trafen sich vielfach in der Abgrenzung von den Ausreisewilligen, denen die materiellen Segnungen des Westens mehr galten als die Mühen des Widerstands daheim, und sie trafen sich im gemeinsamen Grundzug einer moralischen Selbstbescheidung, der die ökologische Bewegung ebenso charakterisierte, wie er ihre Distanz zur westdeutschen Wohlstandsgesellschaft verstärkte.
Der "Affekt gegen den Konsumismus" ließ die Erneuerer des DDR-Sozialismus die Freude über Kaffeepakete als "würdelos" ablehnen und mit einer Mischung von Schmerz und Verachtung auf ihre Landsleute blicken, die sich im Westen für ihr Begrüßungsgeld in die Schlange stellten, anstatt im Osten für eine bessere Zukunft zu kämpfen. "Ihr seid die Helden einer politischen Revolution, laßt Euch jetzt nicht ruhigstellen durch Reisen und schuldenerhöhende Konsumspritzen!", verlangte ein Aufruf des Neuen Forums nach dem Mauerfall und deutete damit bereits den nur zeitweilig überdeckten Gegensatz der Demokratiebewegung zur wohlstandsorientierten Volksbewegung an. Während zwischen der zweiten Novemberhälfte 1989 und der ersten Februarhälfte 1990 die Zahl der DDR-Bürger, die sich für "den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus" aussprachen, von 86 auf 56 Prozent sank und die der Vereinigungsbefürworter von 48 auf 79 Prozent stieg, proklamierte das Neue Forum als Ziel seiner Arbeit, "dass so etwas wie eine DDR-Identität entsteht, die nach vierzig Jahren Verordnung von oben jetzt vielleicht die Möglichkeit hat, von unten zu wachsen".
Strukturelle Differenzen taten sich aber auch zwischen der Bürgerrechtsbewegung und der politischen Denkwelt in der Bundesrepublik auf. Ein breiter Graben trennte das marktliberale und individualistische Freiheitsverständnis der politischen Kultur in der Bundesrepublik von einer DDR-Opposition, die "den Begriff der Freiheit nicht (...) als möglichst weitgehende Entgrenzung materieller Separatinteressen interpretierte, sondern (...) vor allem als soziale Norm und Verpflichtung begriff". Das Politikverständnis der DDR-Opposition stand den prozeduralen Entscheidungsmustern politischen Handelns in westlichen Demokratien vielfach fremd gegenüber. Es orientierte sich an den Idealen einer basisdemokratischen Willensbildung, die auf Konsensgewinnung statt auf Konfliktaustrag zielte, und es war von einer aus der Diktaturerfahrung geborenen Machtscheu geprägt, welche die Opposition im entscheidenden Moment die greifbar nahe Gelegenheit zur "Machtübernahme" verpassen ließ. Der basisdemokratische und konsensorientierte Anspruch der Bürgerrechtsbewegung konnte sich lediglich in der Bildung der "Runden Tische" im Zuge der SED-Entmachtung manifestieren. Er fand darüber hinaus Eingang in den Verfassungsentwurf, der mit der Institutionalisierung der Bürgerbewegungen (Art. 35) und der Einrichtung von Volksentscheid und Volksbegehren (Art. 98) eine plebiszitäre Komponente schuf und mit der Stärkung der Rechte der Opposition (Art. 51) dem tradierten Konsensprinzip der oppositionellen Gruppen Rechnung trug.
Spätestens als die nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 neugebildete Regierung Lothar de Maizières den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 GG beschloss, bot sich der geschrumpften Anhängerschar eines "Dritten Wegs" nur noch jene politische Kraft als Weggenossin an, die in unmittelbarer Kontinuität zum institutionellen Kern der SED-Diktatur stand und deren materielles wie mentales Erbe angetreten hatte: die SED-PDS bzw. die PDS. Schon der den Außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989 vorbereitende Arbeitsausschuss der SED hatte das Existenzrecht der erneuerten DDR nur noch in der "historische(n) Chance einer deutschen Alternative des demokratischen Sozialismus" gesehen. Entsprechend warb die PDS im Vorfeld der Volkskammerwahl für einen "demokratischen Sozialismus", der die Herrschaft der Politbürokratie und die Herrschaft der Banken gleichermaßen hinter sich lasse und mit Hilfe der Dominanz des gesellschaftlichen Eigentums in die Herrschaft des Volkes überführe.
Ein Zusammengehen mit den politischen Erben der totalitären Macht, deren Zurückdrängung das gemeinsame Anliegen aller dissidentischen Strömungen gebildet hatte, hätte dem Selbstverständnis der allermeisten oppositionellen Gruppen angesichts der veränderten Rahmenbedingungen und des absehbaren Aufgehens der DDR in der Bundesrepublik entschieden mehr abverlangt als die Abkehr von der Utopie des "Dritten Wegs". Nur wenige Bürgerrechtler etwa der Vereinigten Linken stellten die inhaltlichen Gemeinsamkeiten über die historische Gegnerschaft. Mit überwältigender Mehrheit aber lehnten die Oppositionellen eine Zusammenarbeit mit der geläuterten Staatspartei und ihren innerinstitutionellen Kritikern auch dann ab, wenn sie konzedierten, dass "wir eigentlich viele übereinstimmende Positionen dazu hatten, was jetzt nötig sei". Keine inhaltliche Nähe vermochte die Kluft zu einer SED-PDS zu überbrücken, die sich einer Neugründung unter Verzicht auf das Erbe der Staatspartei verweigerte und bis in den revolutionären Umbruch hinein ungebrochen dem in die Frühphase des 20. Jahrhunderts zurückweisenden Glauben an die erzieherische Rolle der Avantgarde und die führende Rolle der Partei anhing.
Von der eigenen Bevölkerung abgelehnt und ohne Widerhall in West wie in Ost, konnte ein "Dritter Weg", dem sich alleine noch ausgerechnet die gestürzte Diktaturpartei verpflichtet fühlte, keine politische Option der bürgerrechtlichen Bewegung mehr sein. In vielen Oppositionellen der späten DDR wurde der identitätsstiftende Glauben an eine sozialistische Erneuerung der DDR in kurzer Zeit zur Scham über die "peinliche Utopisterei", deren Überwindung als persönliche Befreiung erlebt werden konnte.
Dass das oppositionelle Konzept eines "Dritten Wegs" so nachhaltig von der Agenda des politischen Handelns verschwinden konnte, lag auch an seiner inhaltlichen Unbestimmtheit. Theoretische Diskussionen, die zur inhaltlichen Füllung der Vorstellung eines "verbesserlichen Sozialismus" hätten beitragen können, waren nicht das Anliegen der Bürgerrechtsbewegung gewesen. Die unterschiedlichen Überlegungen der Oppositionsgruppen trafen sich in der Kritik an der stalinistischen und dogmatischen Verzerrung des "realen" Sozialismus und seiner diktatorischen Herrschaft, ließen aber Zukunftsvorstellungen weitgehend vermissen. Letzteres gilt auch für die theoretisch fundierten Reformkonzepte der innerparteilichen SED-Reformintelligenz, die vorwiegend in akademischen Denkzirkeln etwa der Humboldt-Universität entwickelt wurden.
In dem Moment, in dem die Massenbewegung die Mauer überwunden hatte, die sich ihrer Partizipation am westlichen Wohlstand in den Weg gestellt hatte, erodierte der leere Konsens über den "Dritten Weg" in die Zukunft ebenso wie die Machtstrukturen der SED-Herrschaft, aus deren Ablehnung er erwachsen war. Hinter ihm offenbarte sich die konzeptionelle Ratlosigkeit einer Opposition, die vom Mauerfall überrascht worden war. Die inhaltliche Unbestimmtheit des "Dritten Wegs" machte es vielen Bürgerrechtlern leicht, ihn als Hindernis einer Verständigung mit der in Aufruhr geratenen DDR-Bevölkerung hinter sich zu lassen.
Fazit
Dass die Zukunftsvorstellung eines "Dritten Wegs" im Verlauf des Umbruchs von 1989/90 so widerstandslos unterging und heute aus der öffentlichen Erinnerung geschwunden ist, findet seine tiefste Ursache im Abschied von der Moderne des 20. Jahrhunderts und ihrer gesellschaftlichen Großordnungen. Mit dem Ende der Systemkonkurrenz und ihrer weltanschaulich geführten Religionskriege (Eric Hobsbawm) hatte sich auch die Suche nach historischen Alternativen zu den beiden beherrschenden sozialen Großordnungen von Kapitalismus und Kommunismus erschöpft.
Als die realsozialistische SED-Herrschaft zerfiel, zeigte sich, dass auch ihre mutigsten Kritiker stärker auf sie bezogen waren als die eben noch überwiegend loyale Bevölkerung, die sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien suchte, sobald sich ihr die Gelegenheit dazu bot. In der Anziehungskraft, welche die Idee eines inhaltlich vage bleibenden "Dritten Wegs" auf Dissidenten und Oppositionelle ausübte, drückte sich die ideologische Abgeschlossenheit der DDR aus, deren Opposition mit zwanzigjähriger Verspätung eine Systemauseinandersetzung im Nachgang der 68er-Bewegung nachholte, für die es im Westen kaum mehr einen politischen Resonanzboden gab.
Zugleich aber war die Auseinandersetzung postmaterialistisch gefärbt. Von der westdeutschen Friedens- und Umweltbewegung angestoßen und ihren zivilisationskritischen Werten verpflichtet, bewegte sich die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung gerade nicht in der Tradition der neomarxistischen Vordenker eines "Dritten Wegs" in der DDR und ihrem Politikverständnis samt der ungebrochenen Bindung an das Fortschrittsdenken der industriegesellschaftlichen Moderne. Im Untergang des Kommunismus an der Macht am Ende des 20. Jahrhunderts erwies sich die historische Utopie eines "Dritten Wegs", die nie den Ort ihrer Verwirklichung gefunden hatte, zugleich als politische Uchronie, deren Zeit abgelaufen war.