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Brasiliens Aufstieg: Möglichkeiten und Grenzen regionaler und globaler Politik

Wolf Grabendorff

/ 16 Minuten zu lesen

Brasilien tritt verstärkt als regionale Führungsmacht auf. Doch ist seine Führungsrolle in Lateinamerika umstritten. Und auch die USA haben die neue internationale Position Brasiliens noch nicht eindeutig anerkannt.

Einleitung

Es gibt wenige Länder, die ein so ausgeprägtes Verständnis von ihrer Rolle als Großmacht haben wie Brasilien. Verbunden war damit bis vor wenigen Jahren das Gefühl - vor allem bei den Eliten des Landes - dass Brasilien diese Rolle durch ein ungerechtes internationales System und die Unfähigkeit verschiedener eigener Regierungen allzu lange vorenthalten worden ist. Als Pimentel Gomez 1969 seinen Bestseller über Brasilien unter den fünf Großmächten des ausgehenden 20. Jahrhunderts (USA, UdSSR, China, Indien) veröffentlichte, war dies auch für die Brasilianer nur Zukunftsmusik. Erst seit Ende der 1970er Jahre wurde auch außerhalb Brasiliens über die zukünftige Rolle des Landes im internationalen System spekuliert.

Interne Reformen und externe Entwicklungen - einige politisch gewollt oder zumindest beeinflusst, andere ungewollt bzw. durch die Veränderungen der internationalen Situation nach dem Ende des Kalten Krieges hervorgerufen - haben Brasiliens Weg zur Führungsmacht erheblich erleichtert. Dazu gehörten vor allem eine ganze Reihe wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen unter den Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010) und der Erfolg eines demokratisch verankerten Entwicklungsmodells. Aber auch die gewachsenen Energiereserven, eine drastisch veränderte geopolitische Lage in Lateinamerika und politisch wie wirtschaftlich ständig intensivere Süd-Süd-Beziehungen aufgrund einer ungewöhnlich erfolgreichen Diplomatie trugen zu dieser Entwicklung bei. Seit die Investmentbank Goldman Sachs 2003 das BRIC-Konzept der vier aufstrebenden Wirtschaftsmächte (Brasilien, Russland, Indien, China) vorstellte, ist Brasiliens Aufsteigerrolle aus der internationalen Diskussion nicht mehr wegzudenken.

Brasiliens Außenpolitik beruht vor allem auf vier Grundvorstellungen, welche die unterschiedlichen Regierungen den jeweiligen internationalen Rahmenbedingungen anzupassen wussten:

  • die Vorstellung von einem großräumigen Land, dessen Ressourcenausstattung nicht nur eine Grundlage für die eigene Entwicklung, sondern auch für seinen internationalen Einfluss bietet;

  • die Vorstellung von einer multiethnischen tropischen Kultur, die in der Lage ist, die Gegensätze zwischen schwarz und weiß, arm und reich, entwickelt und unterentwickelt zu überwinden;

  • die Vorstellung vom langfristigen Erfolg eines marktwirtschaftlichen Entwicklungsmodells mit einer bedeutenden staatlichen Komponente, die vor allem für die sozialen und infrastrukturellen Fortschritte verantwortlich zeichnet;

  • die Vorstellung von einem pragmatischen Nationalismus, der nur an den jeweiligen nationalen Interessen orientiert ist.

Diese Selbsteinschätzung lässt sich auch an den vier derzeitigen Zielvorstellungen der brasilianischen Außenpolitik ablesen:

  • die Teilnahme an den Entscheidungen aller wichtigen internationalen Organisationen;

  • die Anerkennung durch die Führungsmächte USA, EU, Russland, China und Indien als gleichberechtigter Partner in einer multipolaren Weltordnung;

  • die Akzeptanz als regionale Führungsmacht in Südamerika;

  • die Aufnahme des Landes als ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat.

Der aktuelle Präsident und sein Vorgänger waren besonders aktiv in ihren Anstrengungen, diesen Zielvorstellungen näher zu kommen. Sie haben dabei gegenüber den Nachbarstaaten und sonstigen außenpolitischen Partnern vor allem auf Konsens gesetzt und sich bei verschiedenen internationalen Konflikten auch als Vermittler bewährt. Vor allem während der Präsidentschaft von Lula da Silva nahm das Verständnis für und die Rücksichtnahme auf unterschiedliche Entwicklungsmodelle innerhalb und außerhalb Lateinamerikas deutlich zu. Ob Brasilien daher ein historisch, politisch und kulturell westliches Land bleiben wird, ist bereits zu einem innenpolitischen Streitpunkt geworden. Insofern hat der internationale Aufstieg des Landes nicht nur zum nationalen Wohlgefühl beigetragen, sondern auch Kosten verursacht, die in Zukunft noch zunehmen dürften, weil die zentrale Entscheidung Brasiliens, gegebenenfalls in die "Erste Welt" aufgenommen zu werden - etwa durch den Beitritt zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) - oder aber sich als eine Führungsmacht des Südens zu etablieren, immer noch aussteht.

Interne Voraussetzungen für den Aufstieg

Außenpolitik ist in Brasilien traditionell Staatsaufgabe und kaum innenpolitischen Auseinandersetzungen ausgesetzt. Brasiliens Diplomaten gelten weltweit als besonders kompetent und einflussreich und spielen bei zahlreichen internationalen Verhandlungen eine herausragende Rolle, die wiederum das Prestige Brasiliens und auch die interne Position des Itamaraty - wie das brasilianische Außenministerium genannt wird - stärkt. Unter Lula da Silvas Präsidentschaft wurden insgesamt 36 neue diplomatische Vertretungen eröffnet, die meisten davon nicht zufällig in Afrika, denn die innenpolitischen Voraussetzungen prägen offensichtlich den außenpolitischen Gestaltungsanspruch eines Landes. Dazu gehört die von Lula da Silva betonte historische Verpflichtung Brasiliens mit seinen 76 Millionen Einwohnern afrikanischer Herkunft zu prioritären Beziehungen mit Afrika. Unter seiner Präsidentschaft hat allerdings auch der parteipolitische Einfluss auf die Außenpolitik erheblich zugenommen und dadurch nach Ansicht brasilianischer Experten zu einer Verringerung des vom Itamaraty dominierten innenpolitischen Konsenses über das Profil der brasilianischen Außenpolitik beigetragen. Dies zeigten etwa die Reaktionen innerhalb Brasiliens auf die Verstaatlichung von Fördereinrichtungen des brasilianischen Energiekonzerns Petrobras in Bolivien im Jahre 2007 und auf den Staatsstreich in Honduras 2009. Die hohe politische Sensibilität in Brasilien hinsichtlich einer außerdemokratischen Rolle der Militärs in Lateinamerika ist nicht nur auf die Erfahrungen im eigenen Lande zurückzuführen, sondern muss auch im Zusammenhang mit Brasiliens Bestrebungen zur Schaffung und Erhaltung einer regionalen politischen Stabilität gesehen werden.

Zu Gunsten dieses Ziels, das in Brasilien auch als Voraussetzung für eine globale Rolle betrachtet wird, hat Präsident Lula da Silva das in Lateinamerika so geheiligte Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates hinter sich gelassen. Das ist ihm umso leichter gefallen, da sein eigenes demokratisch stabiles und ideologisch weniger festgelegtes Entwicklungsmodell weder wirtschaftlich noch sozial den Vergleich mit anderen Modellen in der Region zu scheuen braucht. Dieser Entwicklungserfolg Brasiliens innerhalb der vergangenen 15 Jahre trägt vermutlich mehr zu seiner regionalen Führungsrolle - die freilich von verschiedenen Regierungen Südamerikas bisher nicht akzeptiert wird - bei, als seine zukünftige Rolle als Erdölexporteur mit den derzeit sechstgrößten Erdölvorräten der Welt. Andererseits zeigen Industrieproduktion und Erziehungssystem, aber auch die ungleiche Einkommensverteilung die Schattenseiten des brasilianischen Entwicklungsmodells. Die generelle Stabilität der demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in dem fünftgrößten Land der Erde mit der zehntgrößten Volkswirtschaft und annähernd 200 Millionen Einwohnern bildet aber sicherlich die entscheidende Voraussetzung für den weiteren Aufstieg Brasiliens.

Nachbarschaftsbeziehungen: Integration oder regionale Kooperation?

Dem "Vater" der brasilianischen Außenpolitik, Baron Rio Branco, gelang es während seiner Amtszeit als Außenminister (1902-1912) ohne eine einzige Kriegshandlung, aber mit sechs verschiedenen Schlichtungsverfahren mit den Nachbarstaaten, das Territorium Brasiliens um ein Gebiet in der Größe Frankreichs zu erweitern. Dieses Modell friedlicher Konfliktlösungen ist für Brasilien zur Richtschnur für seine Regionalpolitik in Südamerika geworden. Die Aussöhnung mit dem Erzrivalen Argentinien begann schon gegen Ende der Militärdiktatur (1964-1985) und wurde zum außenpolitischen Leitmotiv beider Staaten in den ersten Jahren ihrer Redemokratisierung. Ein bilaterales Abkommen über die gegenseitige Inspektion der Nuklearanlagen wurde zur Keimzelle für die Gründung des Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) 1991, der sich unter Einbeziehung der Nachbarstaaten Paraguay und Uruguay zeitweilig zum erfolgreichsten Integrationsprozess Lateinamerikas entwickelte. Aufgrund der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten blieb jedoch der dauerhafte Erfolg aus. Auch hat sich Brasilien weder zum "Zahlmeister" der Integrationskosten hergeben wollen, noch war es bereit, supranationale Institutionen zu akzeptieren, die einen gewissen Ausgleich zur politischen und wirtschaftlichen Asymmetrie im Mercosur hätten bilden können. Dennoch ist der Mercosur in den fast 20 Jahren seines Bestehens zu einem wichtigen Faktor der politischen Stabilität im Cono Sur (südlichen Teil) Lateinamerikas geworden. Durch politische Assoziation zunächst mit Chile und Bolivien sowie später mit Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela wurde der Mercosur von Brasilien auch als Instrument für die Verbesserung der Nachbarschaftsbeziehungen genutzt. Die politische - aber noch nicht vollzogene wirtschaftliche - Aufnahme Venezuelas in den Integrationsverband stellt angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsmodelle und politischen Allianzen Brasiliens Nachbarschaftspolitik vor neue Herausforderungen.

Brasilien bemüht sich schon seit 1994, als es als Antwort auf die von den USA geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) seinen Nachbarn eine südamerikanische Freihandelszone (SAFTA) vorschlug, um eine regionale Institutionenbildung, in deren Mittelpunkt aber weniger die wirtschaftliche Integration als vielmehr die regionale Kooperation steht. So wurde auf seine Initiative 2004 die Südamerikanische Gemeinschaft der Nationen (CSN) gegründet, die alle Staaten des Halbkontinents, also auch Surinam und Guayana, einbezieht. Brasiliens geopolitische Entscheidung für eine südamerikanische Identität wurde damit formalisiert, da es vor allem darum ging, in Zukunft eine strategische Rivalität mit anderen Führungsansprüchen in der Region auszuschließen. Insbesondere den USA wurde zwar ein Anspruch auf Einfluss auf Mexiko, Zentralamerika und die Karibik indirekt zugestanden, um ihnen dafür aber möglichst keinerlei Einfluss auf Südamerika einzuräumen.

Brasilien hat auch nach der Umbenennung der CSN in Union der Südamerikanischen Nationen (Unasur) 2007 auf Veranlassung von Venezuelas Präsident Hugo Chávez seinen Führungsanspruch in der Region keineswegs aufgegeben, sondern eher ausgebaut, indem es verschiedene Unterorganisationen des Unasur ins Leben gerufen hat. Darunter stellt der Südamerikanische Verteidigungsrat (CDS) sicherlich das politisch wichtigste institutionelle Kooperationsinstrument dar, weil jetzt zum ersten Mal Verteidigungs- und Außenminister der Region - unter Ausschluss der USA - gemeinsam an der Etablierung einer regionalen Sicherheitsarchitektur arbeiten. Dieser sicherheitspolitische Emanzipationsprozess Brasiliens zeigt am deutlichsten seine Bereitschaft, der Süd-Süd-Kooperation - sei es innerhalb der Region oder auch weltweit - den Vorrang vor der bisher in Sicherheitsfragen weitgehend reibungslosen Zusammenarbeit mit den USA einzuräumen. Dabei stehen freilich nicht nur Überlegungen regionaler Stabilität im Vordergrund, sondern auch der Wunsch nach größerer Unabhängigkeit bei der Rüstungsproduktion, die langfristig von den traditionellen Lieferanten in USA und Europa abgekoppelt und in Brasilien konzentriert werden soll.

Brasiliens Bereitschaft zu größerer sicherheitspolitischer Verantwortung in der Region lässt sich auch an seiner Führungsrolle bei der UN-Stabilisierungsmission (MINUSTAH) in Haiti ablesen. Es war 2004 - auf Wunsch der USA - nicht nur bereit, die militärische Führung mit einem großen Kontingent eigener Truppen zu übernehmen, sondern konnte auch acht weitere lateinamerikanische Länder überzeugen, hier international Flagge zu zeigen. Der relative Erfolg der MINUSTAH beruht deshalb nicht zuletzt auf der erfolgreichen multilateralen Führungsrolle Brasiliens innerhalb der Region. Die dabei gesammelten logistischen Erfahrungen dürften die regionale Sicherheitskooperation im CDS erleichtern und das Land in Zukunft auch für andere internationale Krisenmissionen prädestinieren.

Auf der bilateralen Ebene hat Brasilien gemeinsam mit Argentinien erhebliche Stabilisierungsanstrengungen in der Region unternommen. Dies war sowohl bei innenpolitisch riskanten Entwicklungen in Paraguay, Bolivien und zuletzt in Honduras der Fall, wie auch bei Vermittlungsversuchen zwischen Präsident Chávez und der Opposition in Venezuela 2003 und zwischen Kolumbien und Venezuela 2009. Die ehrliche Absicht, demokratische Regeln im innerstaatlichen wie zwischenstaatlichen Verhalten zu stärken, wird man Brasiliens Regierung dabei nicht absprechen können. Der brasilianische Pragmatismus und das offensichtliche Bemühen, auch schwierige Partner nicht auszugrenzen, ist freilich in der Region selbst und vor allem von Seiten der USA häufig kritisiert worden. Wenn eigene wirtschaftliche Interessen im Spiel waren, wie im Falle der Beziehungen zu Bolivien, Ecuador und Paraguay, ließ sich allerdings oft ein Konflikt mit den politischen Stabilisierungsbemühungen kaum vermeiden, denn positive Wirtschaftsbeziehungen garantieren keineswegs immer harmonische Nachbarschaftsbeziehungen und die angestrebte regionale Führungsrolle Brasiliens wird in Südamerika hin und wieder auch als Hegemonieanspruch kritisiert.

"Anti-Status-quo-Macht" im internationalen System

Während gelegentlich behauptet wird, dass Brasilien die regionale Führungsrolle eher zugefallen wäre, als dass sie von ihm wirklich angestrebt worden sei - was bis zur Präsidentschaft von Lula da Silvas durchaus stimmen dürfte - lässt sich dies von seiner Rolle in der globalen und insbesondere der multilateralen Politik sicher nicht sagen. Ohne die Vielzahl von eigenen Initiativen und Aktivitäten wären die Präsenz und das globale Prestige des Landes nicht dermaßen angestiegen. Die Grundlage dieser vielfachen diplomatischen Anstrengungen liegt in der Rolle Brasiliens als "Anti-Status-quo-Macht" in der internationalen Staatenhierarchie. Seit der Gründung der UNO, zu deren Gründungsmitgliedern Brasilien zählt, hat sich das Land gegen die Festschreibung der internationalen Machtkonstellation am Ende des Zweiten Weltkrieges gewandt und sich in allen multilateralen Gremien immer wieder für eine "gerechtere" Weltordnung eingesetzt, an deren Gestaltung der "Süden" ausreichend beteiligt werden müsse.

Das Bemühen mit Hilfe der G-4-Initiative (Japan, Deutschland, Brasilien und Indien) seit 2005 die Reform des UN-Sicherheitsrats voranzutreiben und selbst als Vertreter Lateinamerikas dort einen ständigen Sitz zu erhalten, ist vermutlich die international bekannteste Form seines Einsatzes für eine neue Weltordnung. Es lag weniger an der lautstarken Opposition von Argentinien und Mexiko, die sich nicht von Brasilien im Sicherheitsrat vertreten lassen wollten, sondern eher an der generell ablehnenden Haltung der ständigen Mitglieder gegenüber der G-4-Initiative, dass es bisher zu keiner Reform der Zusammensetzung des Sicherheitsrats gekommen ist. Erfolgreicher war der Versuch Brasiliens, innerhalb der Verhandlungen der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) eine Gegenmacht gegen die aus seiner Sicht "unheilige Allianz" von USA und EU in Fragen der Agrarsubventionen zu organisieren. Während des Verhandlungsprozesses in Cancún 2003 rief Brasilien mit tatkräftiger Unterstützung Chinas und verschiedener Staaten des Südens die G-20 innerhalb der WTO ins Leben, deren strikte Ablehnung des "westlichen" Verhandlungsangebots zum Scheitern der Verhandlungen beitrug.

Auch andere multilaterale Initiativen haben dazu beigetragen, das Profil Brasiliens als Führungsmacht des Südens zu schärfen. Gleich zu Beginn der Amtszeit Lula da Silvas wurde 2003 die trikontinentale IBSA-Gruppe (Indien, Brasilien, Südafrika) ins Leben gerufen, deren intensive Zusammenarbeit darauf abzielt, ein Gegengewicht zu der unilateralen Politik der USA zu etablieren. Obwohl Brasilien innerhalb der BRIC-Staaten keineswegs eine herausragende Rolle spielt, ist es Lula da Silva auch gelungen, Präsidententreffen dieser sehr heterogenen Gruppe zu organisieren, wobei das zweite noch in diesem Jahr in Brasilien stattfinden soll. Zu dieser Betonung der gemeinsamen Interessen des Südens muss auch die periodische Ausrichtung von Präsidententreffen mit den arabischen und afrikanischen Staaten im Rahmen von Unasur gezählt werden. Alle diese diplomatischen Anstrengungen haben nicht nur die Diversifizierung der brasilianischen Außen- und Wirtschaftsbeziehungen zum Ziel gehabt, sondern zweifelsohne auch die Rolle des Landes als Führungsmacht des Südens gefestigt. Mit der Etablierung dieser internationalen Netzwerke ist auch der Einfluss Brasiliens gestiegen, zumal seine Fähigkeit, auch über ideologische und wirtschaftliche Interessenunterschiede hinweg Brücken schlagen zu können, immer mehr gefragt ist und teilweise schon als spezifische soft power des Landes angesehen wird.

Seine Rolle als Führungsmacht im Geflecht "neuer Mächte" hat das Profil Brasiliens in seinen stärker traditionellen bilateralen Beziehungen mit den USA und der EU erheblich verändert. Obwohl alle brasilianischen Präsidenten immer bemüht waren, ein möglichst konfliktfreies Verhältnis mit den USA zu unterhalten, war die historische Zielvorstellung immer davon geprägt, als wichtigstes Land des Südens in der westlichen Hemisphäre auf "gleicher Augenhöhe" mit den USA zu verhandeln. Dass dies trotz aller Wertschätzung Brasiliens von Seiten der USA bisher nicht im erwarteten Umfang erreicht worden ist, kann sicherlich auch als ein treibendes Motiv für die internationale Aktivität Brasiliens angesehen werden. So hat der erkennbare Rückgang des US-Einflusses in Lateinamerika seit Ende des Kalten Krieges - und noch verstärkt nach den Anschlägen des 11. September 2001 - auch zu der Ausweitung der regionalen Rolle Brasiliens beigetragen. Vor allem die Ablehnung Brasiliens einer von den USA vorgeschlagenen Gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) 2003 stellte eine Zäsur in den bilateralen Beziehungen dar. Damals hatten in Lateinamerika nur die Mercosur-Mitgliedstaaten und Venezuela Brasilien in seiner ablehnenden Haltung unterstützt. Damit wurde zwar die Regionalstrategie der USA zu Fall gebracht, gleichzeitig aber auch der Weg für die neue US-Strategie bilateraler Freihandelsabkommen mit den "willigen" Staaten Lateinamerikas freigemacht. Die weltwirtschaftlichen Veränderungen der vergangenen Jahre haben Brasiliens Handelsbeziehungen auf der Süd-Süd-Schiene, vor allem mit Asien aber auch innerhalb Lateinamerikas, auf Kosten des Handels mit den USA deutlich anwachsen lassen, zumal der Agrarprotektionismus der USA auf pflanzliche Biotreibstoffe - vor allem Ethanol - ausgeweitet wurde und damit auch einige der wettbewerbsfähigsten brasilianischen Produkte vom US-Markt ausgeschlossen wurden.

Zusätzliche bilaterale Konfliktpunkte ergaben sich immer dann, wenn die USA Entscheidungen in Lateinamerika trafen, die mit den Interessen Brasiliens nicht übereinstimmten. Kuba war in diesem Zusammenhang schon immer ein besonderer Zankapfel, zumal die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und Kuba unter der Präsidentschaft Lula da Silvas erheblich ausgebaut worden sind. Nach der Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten hatte sich der brasilianische Präsident angeboten, zwischen Kuba und den USA zu vermitteln und gehofft, Obama würde mit einer Geste gegenüber Havanna gleichzeitig eine neue Epoche in den interamerikanischen Beziehungen einleiten. Nachdem dies ausgeblieben war, kühlte sich das Verhältnis zwischen den beiden Präsidenten rasch ab. Die Krise in Honduras 2009 und das erweiterte Militär- und Basennutzungsabkommen der USA mit Kolumbien führten zu heftiger Kritik Brasiliens an der US-amerikanischen Politik, während in Washington Brasiliens gute Beziehungen zu Venezuela und Iran immer wieder beanstandet wurden. Die offene Austragung dieser bilateralen Konfliktpunkte zeugt einerseits von dem gestiegenen Selbstbewusstsein Brasiliens, anderseits von der Unfähigkeit in Washington, mit der "neuen Macht im Hinterhof" angemessen umzugehen. Gerade angesichts der bestehenden - und sicher auch zukünftigen - Instabilitäten in Lateinamerika und des brasilianischen Gewichts in den Süd-Süd-Beziehungen erwartet Brasilien von den USA eher partnerschaftliche Konsultationen als außenpolitische Verhaltenslektionen.

Brasiliens Beziehungen zur EU sind zwar weniger konfliktreich als die zu den USA, aber sie sind auch weniger intensiv, als sie angesichts der Bedeutung Brasiliens sein sollten. Obwohl der Aufstieg des Landes und seine erfolgreiche Vernetzung innerhalb des Kreises regionaler Führungsmächte kaum zu übersehen waren, hat die EU Brasilien erst 2007 - als letztem der BRIC-Staaten - den Status einer "strategischen Partnerschaft" angeboten. In einem gemeinsamen Aktionsplan bis 2011 ist eine Fülle von globalen Themen zur gemeinsamen Bearbeitung vorgesehen, freilich ohne dabei jene brasilianischen Vorstellungen einzubeziehen - etwa die Reform der WTO -, die einen Konflikt mit den USA riskieren würden. Trotz der sehr engen und weitgefächerten bilateralen Beziehungen mit einzelnen Mitgliedstaaten wie Deutschland, Spanien und Frankreich - hier sogar im sicherheitspolitischen Bereich - scheint die EU Brasilien bisher noch nicht in gleichem Maße als globalen Akteur einzuschätzen, wie die übrigen BRIC-Staaten. Dabei kann es in Fragen des Klimawandels sicherlich eine zentrale Rolle spielen und dürfte auch bei den weltwirtschaftlichen Reformdebatten in der G-20 ein wichtiger Allianzpartner sein. Auch hinsichtlich der EU-Beziehungen zu ganz Südamerika könnte die "strategische Partnerschaft" mit Brasilien eine neue Basis für eine realistischere Regionalstrategie bieten. Zu dem Realismus auf EU-Seite müsste freilich auch die Einsicht gehören, dass Brasilien als "Anti-Status-quo-Macht" und Führungsmacht des Südens nicht die Weltsicht der EU teilt und deshalb auch nicht allein nach "westlichen" Maßstäben beurteilt werden kann.

Eine noch nicht konsolidierte Führungsmacht

Brasilien teilt mit der EU das Schicksal, sich als Führungsmacht noch nicht konsolidiert zu haben. Angesichts der grundlegenden und keineswegs abgeschlossenen Veränderungen im internationalen System ist dies nicht verwunderlich, zumal die internationale Anerkennung als Führungsmacht nicht hauptsächlich von der eigenen Wirtschaftskraft oder gar der Kapazität zur Durchsetzung der eigenen Interessen abhängt, sondern vielmehr von der Fähigkeit, in der eigenen Region Krisenmanagement zu betreiben und von den etablierten bzw. sich etablierenden Führungsmächten als solche anerkannt zu werden. Hier lassen sich bei Brasilien vier - nicht unbedingt selbst verschuldete - Defizite erkennen:

  • Seine Rolle als Führungsmacht ist in der eigenen Region - selbst in Südamerika und erst recht in Lateinamerika - umstritten.

  • Von Seiten der etablierten Führungsmacht USA ist eine eindeutige Anerkennung der neuen internationalen Rolle Brasiliens bisher ausgeblieben.

  • Unter den sich etablierenden Führungsmächten ist die Akzeptanz Brasiliens bei China und Indien ausgeprägter als bei Russland und der EU.

  • Seine Rolle als weltwirtschaftlicher Akteur in Handel, Dienstleistungen und Investitionen bleibt ebenso wie seine militärische Stärke weit hinter der hard power der übrigen Führungsmächte zurück.

Inwieweit in Zukunft noch mit weiteren Defiziten zu rechnen ist, weil sich in Brasilien kein innerpolitischer Konsens über die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer Führungsmachtrolle erzielen lässt, ist noch nicht abzusehen. Die Kalkulierbarkeit des außenpolitischen Engagements Brasiliens wird vom zügigen Abbau bzw. der Überwindung dieser Defizite ebenso abhängen wie von den zukünftigen Veränderungen eines internationalen Systems auf dem Wege zur Multipolarität. Während des Konsolidierungsprozesses Brasiliens als Führungsmacht können weder die USA noch die EU mit einer umfassenden und belastbaren Allianzfähigkeit Brasiliens rechnen, weil das Land zwar gute Beziehungen zu "dem Westen" pflegen, aber die entscheidende Unterstützung für seinen weiteren internationalen Aufstieg vor allem aus dem Süden erhalten dürfte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Pimentel Gomes, O Brasil entre as 5 Maiores Pôtencias, Rio de Janeiro 1969.

  2. Vgl. Wolf Grabendorff/Manfred Nitsch (Hrsg.), Brasilien: Entwicklungsmodell und Aussenpolitik, München 1977; William H. Overholt (Hrsg.), The Future of Brazil, Boulder 1978; Wayne A. Selcher (Hrsg.), Brazil in the International System: The Rise of a Middle Power, Boulder 1981; Jordan M. Young, Brazil: Emerging World Power, Malabar 1982.

  3. Vgl. Riordan Roett, How Reform Has Powered Brazil's Rise, in: Current History, (2010) February, S. 47-52.

  4. Vgl. Wolf Grabendorff, Brasiliens Außenpolitik zwischen Erster und Dritter Welt, in: Hanns-Albert Steger/Jürgen Schneider (Hrsg.), Aktuelle Perspektiven Brasiliens, München 1979, S. 193.

  5. Vgl. Rafael Duarte Villa/Manuela Trindade Viana, Política exterior brasileña: nuevos y viejos caminos en los aspectos institucionales, en la práctica del multilateralismo y en la política para el Sur, in: Revista de Ciencia Política, 28 (2008) 2, S. 77-106.

  6. Vgl. Juan de Onis, Brazil's Big Moment, A South American Giant Wakes Up, in: Foreign Affairs, (2008) November-December, S. 110f.

  7. Vgl. Gerhard Seibert, Brasilien in Afrika: Globaler Geltungsanspruch und Rohstoffe, GIGA Focus, (2009) 8.

  8. Vgl. Paulo Roberto de Almeida, Lula's Foreign Policy: Regional and Global Strategies, in: Joseph L. Love/Werner Baer (Hrsg.), Brazil under Lula: Economy, Politics, and Society under the Worker-President, New York 2009.

  9. Oppositionsparteien und ein Teil der Presse bezweifelten ernsthaft, dass die Reaktion der Regierung den nationalen Interessen des Landes angemessen war, da die Regierung dem erzwungenen Verkauf von zwei Petrobras-Raffinerien an Bolivien und der Aufnahme des honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya in die brasilianische Botschaft zugestimmt hatte.

  10. Vgl. Marcel Fortuna Biato, La política exterior de Brasil: ¿Integrar o despegar?, in: Política Exterior, (2009) 131.

  11. Vgl. Augusto Varas, Brazil in South America: from indifference to hegemony, FRIDE Comment, (2008) May.

  12. Vgl. Monica Hirst, Strategic Posture Review: Brazil, World Politics Review, 29.9.2009.

  13. Vgl. Daniel Flemes, Brasilien - Regionalmacht mit globalen Ambitionen, GIGA Focus, (2007) 6.

  14. Vgl. Tullo Vigevani/Gabriel Cepaluni, Lula's Foreign Policy and the Quest for Autonomy through Diversification, in: Third World Quarterly, 28 (2007) 7, S. 1309-1326.

  15. Vgl. Luiz Alberto Moniz Bandeira, Brazil as a Regional Power and Its Relations with the United States, in: Latin American Perspectives, 33 (2006) 3, S. 12-27.

  16. Vgl. Alexander Busch, Wirtschaftsmacht Brasilien. Der grüne Riese erwacht, München 2009, S. 194.

  17. Vgl. Benício Schmidt, Relaciones entre Brasil y Cuba, in: Encuentro de la cultura cubana, (2008) 48-49, S. 151-159.

  18. Vgl. Gilberto Calcagnotto, O Brasil e a União Européia, Os passos rumo a uma nova potência global?, in: Nueva Sociedad Numero Especial em português, (2008) outubro, S. 105-122.

  19. Vgl. Günther Maihold, "Strategische Partnerschaft" und schwacher Interregionalismus: Die Beziehungen zwischen Brasilien und der EU, in: Annegret Bendiek/Heinz Kramer (Hrsg.), Globale Außenpolitik der Europäischen Union. Interregionale Beziehungen und "strategische Partnerschaften", Baden-Baden 2009.

  20. Vgl. Marco Aurélio Garcia, The strategic partnership between Brazil and the European Union, in Giovanni Grevi/Álvaro de Vasconcelos (Hrsg.), Partnerships for effective multilateralism. EU relations with Brazil, China, India and Russia, Paris 2008.

  21. Vgl. Wolf Grabendorff, Brazil - A "Secure" Partner for the European Union?, in: Noref, (2009) October.

Dr. h.c., Dipl. Pol., geb. 1940; Publizist, Lateinamerikaexperte mit Schwerpunkt Außen- und Sicherheitspolitik, Ebertstraße 13, 88214 Ravensburg. E-Mail Link: wgrabendorff@web.de