Einleitung
Es gibt wenige Länder, die ein so ausgeprägtes Verständnis von ihrer Rolle als Großmacht haben wie Brasilien. Verbunden war damit bis vor wenigen Jahren das Gefühl - vor allem bei den Eliten des Landes - dass Brasilien diese Rolle durch ein ungerechtes internationales System und die Unfähigkeit verschiedener eigener Regierungen allzu lange vorenthalten worden ist. Als Pimentel Gomez 1969 seinen Bestseller über Brasilien unter den fünf Großmächten des ausgehenden 20. Jahrhunderts (USA, UdSSR, China, Indien) veröffentlichte,
Interne Reformen und externe Entwicklungen - einige politisch gewollt oder zumindest beeinflusst, andere ungewollt bzw. durch die Veränderungen der internationalen Situation nach dem Ende des Kalten Krieges hervorgerufen - haben Brasiliens Weg zur Führungsmacht erheblich erleichtert. Dazu gehörten vor allem eine ganze Reihe wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischer Reformen unter den Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) und Luiz Inácio Lula da Silva (2003-2010)
Brasiliens Außenpolitik beruht vor allem auf vier Grundvorstellungen, welche die unterschiedlichen Regierungen den jeweiligen internationalen Rahmenbedingungen anzupassen wussten:
die Vorstellung von einem großräumigen Land, dessen Ressourcenausstattung nicht nur eine Grundlage für die eigene Entwicklung, sondern auch für seinen internationalen Einfluss bietet;
die Vorstellung von einer multiethnischen tropischen Kultur, die in der Lage ist, die Gegensätze zwischen schwarz und weiß, arm und reich, entwickelt und unterentwickelt zu überwinden;
die Vorstellung vom langfristigen Erfolg eines marktwirtschaftlichen Entwicklungsmodells mit einer bedeutenden staatlichen Komponente, die vor allem für die sozialen und infrastrukturellen Fortschritte verantwortlich zeichnet;
die Vorstellung von einem pragmatischen Nationalismus, der nur an den jeweiligen nationalen Interessen orientiert ist.
Diese Selbsteinschätzung lässt sich auch an den vier derzeitigen Zielvorstellungen der brasilianischen Außenpolitik ablesen:
die Teilnahme an den Entscheidungen aller wichtigen internationalen Organisationen;
die Anerkennung durch die Führungsmächte USA, EU, Russland, China und Indien als gleichberechtigter Partner in einer multipolaren Weltordnung;
die Akzeptanz als regionale Führungsmacht in Südamerika;
die Aufnahme des Landes als ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat.
Der aktuelle Präsident und sein Vorgänger waren besonders aktiv in ihren Anstrengungen, diesen Zielvorstellungen näher zu kommen.
Interne Voraussetzungen für den Aufstieg
Außenpolitik ist in Brasilien traditionell Staatsaufgabe und kaum innenpolitischen Auseinandersetzungen ausgesetzt. Brasiliens Diplomaten gelten weltweit als besonders kompetent und einflussreich und spielen bei zahlreichen internationalen Verhandlungen eine herausragende Rolle, die wiederum das Prestige Brasiliens und auch die interne Position des Itamaraty - wie das brasilianische Außenministerium genannt wird - stärkt. Unter Lula da Silvas Präsidentschaft wurden insgesamt 36 neue diplomatische Vertretungen eröffnet, die meisten davon nicht zufällig in Afrika, denn die innenpolitischen Voraussetzungen prägen offensichtlich den außenpolitischen Gestaltungsanspruch eines Landes. Dazu gehört die von Lula da Silva betonte historische Verpflichtung Brasiliens mit seinen 76 Millionen Einwohnern afrikanischer Herkunft zu prioritären Beziehungen mit Afrika.
Zu Gunsten dieses Ziels, das in Brasilien auch als Voraussetzung für eine globale Rolle betrachtet wird, hat Präsident Lula da Silva das in Lateinamerika so geheiligte Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates hinter sich gelassen. Das ist ihm umso leichter gefallen, da sein eigenes demokratisch stabiles und ideologisch weniger festgelegtes Entwicklungsmodell weder wirtschaftlich noch sozial den Vergleich mit anderen Modellen in der Region zu scheuen braucht. Dieser Entwicklungserfolg Brasiliens innerhalb der vergangenen 15 Jahre trägt vermutlich mehr zu seiner regionalen Führungsrolle - die freilich von verschiedenen Regierungen Südamerikas bisher nicht akzeptiert wird - bei, als seine zukünftige Rolle als Erdölexporteur mit den derzeit sechstgrößten Erdölvorräten der Welt. Andererseits zeigen Industrieproduktion und Erziehungssystem, aber auch die ungleiche Einkommensverteilung die Schattenseiten des brasilianischen Entwicklungsmodells. Die generelle Stabilität der demokratischen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in dem fünftgrößten Land der Erde mit der zehntgrößten Volkswirtschaft und annähernd 200 Millionen Einwohnern bildet aber sicherlich die entscheidende Voraussetzung für den weiteren Aufstieg Brasiliens.
Nachbarschaftsbeziehungen: Integration oder regionale Kooperation?
Dem "Vater" der brasilianischen Außenpolitik, Baron Rio Branco, gelang es während seiner Amtszeit als Außenminister (1902-1912) ohne eine einzige Kriegshandlung, aber mit sechs verschiedenen Schlichtungsverfahren mit den Nachbarstaaten, das Territorium Brasiliens um ein Gebiet in der Größe Frankreichs zu erweitern. Dieses Modell friedlicher Konfliktlösungen ist für Brasilien zur Richtschnur für seine Regionalpolitik in Südamerika geworden. Die Aussöhnung mit dem Erzrivalen Argentinien begann schon gegen Ende der Militärdiktatur (1964-1985) und wurde zum außenpolitischen Leitmotiv beider Staaten in den ersten Jahren ihrer Redemokratisierung. Ein bilaterales Abkommen über die gegenseitige Inspektion der Nuklearanlagen wurde zur Keimzelle für die Gründung des Mercosur (Gemeinsamer Markt des Südens) 1991, der sich unter Einbeziehung der Nachbarstaaten Paraguay und Uruguay zeitweilig zum erfolgreichsten Integrationsprozess Lateinamerikas entwickelte. Aufgrund der asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten blieb jedoch der dauerhafte Erfolg aus. Auch hat sich Brasilien weder zum "Zahlmeister" der Integrationskosten hergeben wollen, noch war es bereit, supranationale Institutionen zu akzeptieren, die einen gewissen Ausgleich zur politischen und wirtschaftlichen Asymmetrie im Mercosur hätten bilden können. Dennoch ist der Mercosur in den fast 20 Jahren seines Bestehens zu einem wichtigen Faktor der politischen Stabilität im Cono Sur (südlichen Teil) Lateinamerikas geworden. Durch politische Assoziation zunächst mit Chile und Bolivien sowie später mit Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela wurde der Mercosur von Brasilien auch als Instrument für die Verbesserung der Nachbarschaftsbeziehungen genutzt. Die politische - aber noch nicht vollzogene wirtschaftliche - Aufnahme Venezuelas in den Integrationsverband stellt angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsmodelle und politischen Allianzen Brasiliens Nachbarschaftspolitik vor neue Herausforderungen.
Brasilien bemüht sich schon seit 1994, als es als Antwort auf die von den USA geplante Gesamtamerikanische Freihandelszone (FTAA) seinen Nachbarn eine südamerikanische Freihandelszone (SAFTA) vorschlug, um eine regionale Institutionenbildung, in deren Mittelpunkt aber weniger die wirtschaftliche Integration als vielmehr die regionale Kooperation steht. So wurde auf seine Initiative 2004 die Südamerikanische Gemeinschaft der Nationen (CSN) gegründet, die alle Staaten des Halbkontinents, also auch Surinam und Guayana, einbezieht. Brasiliens geopolitische Entscheidung für eine südamerikanische Identität wurde damit formalisiert, da es vor allem darum ging, in Zukunft eine strategische Rivalität mit anderen Führungsansprüchen in der Region auszuschließen. Insbesondere den USA wurde zwar ein Anspruch auf Einfluss auf Mexiko, Zentralamerika und die Karibik indirekt zugestanden, um ihnen dafür aber möglichst keinerlei Einfluss auf Südamerika einzuräumen.
Brasilien hat auch nach der Umbenennung der CSN in Union der Südamerikanischen Nationen (Unasur) 2007 auf Veranlassung von Venezuelas Präsident Hugo Chávez seinen Führungsanspruch in der Region keineswegs aufgegeben, sondern eher ausgebaut, indem es verschiedene Unterorganisationen des Unasur ins Leben gerufen hat. Darunter stellt der Südamerikanische Verteidigungsrat (CDS) sicherlich das politisch wichtigste institutionelle Kooperationsinstrument dar, weil jetzt zum ersten Mal Verteidigungs- und Außenminister der Region - unter Ausschluss der USA - gemeinsam an der Etablierung einer regionalen Sicherheitsarchitektur arbeiten. Dieser sicherheitspolitische Emanzipationsprozess Brasiliens zeigt am deutlichsten seine Bereitschaft, der Süd-Süd-Kooperation - sei es innerhalb der Region oder auch weltweit - den Vorrang vor der bisher in Sicherheitsfragen weitgehend reibungslosen Zusammenarbeit mit den USA einzuräumen. Dabei stehen freilich nicht nur Überlegungen regionaler Stabilität im Vordergrund, sondern auch der Wunsch nach größerer Unabhängigkeit bei der Rüstungsproduktion, die langfristig von den traditionellen Lieferanten in USA und Europa abgekoppelt und in Brasilien konzentriert werden soll.
Brasiliens Bereitschaft zu größerer sicherheitspolitischer Verantwortung in der Region lässt sich auch an seiner Führungsrolle bei der UN-Stabilisierungsmission (MINUSTAH) in Haiti ablesen. Es war 2004 - auf Wunsch der USA - nicht nur bereit, die militärische Führung mit einem großen Kontingent eigener Truppen zu übernehmen, sondern konnte auch acht weitere lateinamerikanische Länder überzeugen, hier international Flagge zu zeigen. Der relative Erfolg der MINUSTAH beruht deshalb nicht zuletzt auf der erfolgreichen multilateralen Führungsrolle Brasiliens innerhalb der Region. Die dabei gesammelten logistischen Erfahrungen dürften die regionale Sicherheitskooperation im CDS erleichtern und das Land in Zukunft auch für andere internationale Krisenmissionen prädestinieren.
Auf der bilateralen Ebene hat Brasilien gemeinsam mit Argentinien erhebliche Stabilisierungsanstrengungen in der Region unternommen. Dies war sowohl bei innenpolitisch riskanten Entwicklungen in Paraguay, Bolivien und zuletzt in Honduras der Fall, wie auch bei Vermittlungsversuchen zwischen Präsident Chávez und der Opposition in Venezuela 2003 und zwischen Kolumbien und Venezuela 2009. Die ehrliche Absicht, demokratische Regeln im innerstaatlichen wie zwischenstaatlichen Verhalten zu stärken, wird man Brasiliens Regierung dabei nicht absprechen können. Der brasilianische Pragmatismus und das offensichtliche Bemühen, auch schwierige Partner nicht auszugrenzen, ist freilich in der Region selbst und vor allem von Seiten der USA häufig kritisiert worden. Wenn eigene wirtschaftliche Interessen im Spiel waren, wie im Falle der Beziehungen zu Bolivien, Ecuador und Paraguay, ließ sich allerdings oft ein Konflikt mit den politischen Stabilisierungsbemühungen kaum vermeiden, denn positive Wirtschaftsbeziehungen garantieren keineswegs immer harmonische Nachbarschaftsbeziehungen
"Anti-Status-quo-Macht" im internationalen System
Während gelegentlich behauptet wird, dass Brasilien die regionale Führungsrolle eher zugefallen wäre, als dass sie von ihm wirklich angestrebt worden sei
Das Bemühen mit Hilfe der G-4-Initiative (Japan, Deutschland, Brasilien und Indien) seit 2005 die Reform des UN-Sicherheitsrats voranzutreiben und selbst als Vertreter Lateinamerikas dort einen ständigen Sitz zu erhalten, ist vermutlich die international bekannteste Form seines Einsatzes für eine neue Weltordnung. Es lag weniger an der lautstarken Opposition von Argentinien und Mexiko, die sich nicht von Brasilien im Sicherheitsrat vertreten lassen wollten, sondern eher an der generell ablehnenden Haltung der ständigen Mitglieder gegenüber der G-4-Initiative, dass es bisher zu keiner Reform der Zusammensetzung des Sicherheitsrats gekommen ist. Erfolgreicher war der Versuch Brasiliens, innerhalb der Verhandlungen der Doha-Runde der Welthandelsorganisation (WTO) eine Gegenmacht gegen die aus seiner Sicht "unheilige Allianz" von USA und EU in Fragen der Agrarsubventionen zu organisieren. Während des Verhandlungsprozesses in Cancún 2003 rief Brasilien mit tatkräftiger Unterstützung Chinas und verschiedener Staaten des Südens die G-20 innerhalb der WTO ins Leben, deren strikte Ablehnung des "westlichen" Verhandlungsangebots zum Scheitern der Verhandlungen beitrug.
Auch andere multilaterale Initiativen haben dazu beigetragen, das Profil Brasiliens als Führungsmacht des Südens zu schärfen. Gleich zu Beginn der Amtszeit Lula da Silvas wurde 2003 die trikontinentale IBSA-Gruppe (Indien, Brasilien, Südafrika) ins Leben gerufen, deren intensive Zusammenarbeit darauf abzielt, ein Gegengewicht zu der unilateralen Politik der USA zu etablieren.
Seine Rolle als Führungsmacht im Geflecht "neuer Mächte" hat das Profil Brasiliens in seinen stärker traditionellen bilateralen Beziehungen mit den USA und der EU erheblich verändert. Obwohl alle brasilianischen Präsidenten immer bemüht waren, ein möglichst konfliktfreies Verhältnis mit den USA zu unterhalten, war die historische Zielvorstellung immer davon geprägt, als wichtigstes Land des Südens in der westlichen Hemisphäre auf "gleicher Augenhöhe" mit den USA zu verhandeln.
Zusätzliche bilaterale Konfliktpunkte ergaben sich immer dann, wenn die USA Entscheidungen in Lateinamerika trafen, die mit den Interessen Brasiliens nicht übereinstimmten. Kuba war in diesem Zusammenhang schon immer ein besonderer Zankapfel, zumal die bilateralen Beziehungen zwischen Brasilien und Kuba unter der Präsidentschaft Lula da Silvas erheblich ausgebaut worden sind.
Brasiliens Beziehungen zur EU sind zwar weniger konfliktreich als die zu den USA, aber sie sind auch weniger intensiv, als sie angesichts der Bedeutung Brasiliens sein sollten.
Eine noch nicht konsolidierte Führungsmacht
Brasilien teilt mit der EU das Schicksal, sich als Führungsmacht noch nicht konsolidiert zu haben. Angesichts der grundlegenden und keineswegs abgeschlossenen Veränderungen im internationalen System ist dies nicht verwunderlich, zumal die internationale Anerkennung als Führungsmacht nicht hauptsächlich von der eigenen Wirtschaftskraft oder gar der Kapazität zur Durchsetzung der eigenen Interessen abhängt, sondern vielmehr von der Fähigkeit, in der eigenen Region Krisenmanagement zu betreiben und von den etablierten bzw. sich etablierenden Führungsmächten als solche anerkannt zu werden. Hier lassen sich bei Brasilien vier - nicht unbedingt selbst verschuldete - Defizite erkennen:
Seine Rolle als Führungsmacht ist in der eigenen Region - selbst in Südamerika und erst recht in Lateinamerika - umstritten.
Von Seiten der etablierten Führungsmacht USA ist eine eindeutige Anerkennung der neuen internationalen Rolle Brasiliens bisher ausgeblieben.
Unter den sich etablierenden Führungsmächten ist die Akzeptanz Brasiliens bei China und Indien ausgeprägter als bei Russland und der EU.
Seine Rolle als weltwirtschaftlicher Akteur in Handel, Dienstleistungen und Investitionen bleibt ebenso wie seine militärische Stärke weit hinter der hard power der übrigen Führungsmächte zurück.
Inwieweit in Zukunft noch mit weiteren Defiziten zu rechnen ist, weil sich in Brasilien kein innerpolitischer Konsens über die politischen und wirtschaftlichen Kosten einer Führungsmachtrolle erzielen lässt, ist noch nicht abzusehen. Die Kalkulierbarkeit des außenpolitischen Engagements Brasiliens wird vom zügigen Abbau bzw. der Überwindung dieser Defizite ebenso abhängen wie von den zukünftigen Veränderungen eines internationalen Systems auf dem Wege zur Multipolarität. Während des Konsolidierungsprozesses Brasiliens als Führungsmacht können weder die USA noch die EU mit einer umfassenden und belastbaren Allianzfähigkeit Brasiliens rechnen, weil das Land zwar gute Beziehungen zu "dem Westen" pflegen, aber die entscheidende Unterstützung für seinen weiteren internationalen Aufstieg vor allem aus dem Süden erhalten dürfte.