Einleitung
Der Tango ist ein trauriger Gedanke, den man tanzen kann."
Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit ist zum einen das Produkt von Erfahrung - der Art und Weise, wie sich Gesellschaften die eigene Geschichte erzählen - sowie von der Wahrnehmung der Gegenwart. Zum anderen bedingt sie die aktuellen Einstellungen und das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder. Diese subjektive Dimension ist entscheidend für die Funktionsweise politischer Institutionen, denn entsprechend ihrer politischen Kultur, also entsprechend ihrer Werte, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen zu politischen Inhalten, Prozessen und Strukturen, nehmen Akteure ihre Rolle im politischen System wahr.
Die Beschäftigung mit der politischen Kultur lehrt uns: Es gibt keine selbstverständlichen Selbstverständlichkeiten.
Ökonomie der Zeit
So unterscheiden sich Argentinier und Brasilianer etwa in ihrer Wahrnehmung von Temporalität. Dies trat beispielsweise in einem vom Anthropologen Alejandro Grimson geleiteten qualitativen Forschungsprojekt zu Tage.
Die unterschiedlichen Zeitperspektiven und damit verbundene Assoziationen kommen auch in den Umfrageergebnissen des Latinobarómetros (Bericht 2009) zum Tragen, das 18 Länder der Region berücksichtigt.
Derartige Einstellungen entstehen natürlich nicht losgelöst von politischen und sozioökonomischen Entwicklungen; sie sind aber auch nicht deren getreues Spiegelbild. Sie basieren weder auf illusorischen Vorstellungen noch auf objektiven Beobachtungen, sondern gründen sich vielmehr auf Interpretationen der Wirklichkeit, die sowohl unter dem Einfluss von Erfahrungen der Vergangenheit als auch der aktuellen Situation stehen. Bezogen auf die Gegenwart liegt zunächst die Vermutung nahe, dass sich hinter diesen Einschätzungen der unterschiedliche Effekt der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf die beiden südamerikanischen Länder verbirgt. So waren im Jahr 2009 in Brasilien 38 Prozent der Befragten mit der Funktionsweise der nationalen Wirtschaft zufrieden, in Argentinien hingegen nur 8 Prozent (letzter Platz). Auch wenn beide Regierungen sehr schnell mit antizyklischen Maßnahmen reagierten, gilt in der Tat Brasilien als besser gegen die Krise gewappnet. Dennoch sind zwischen den Nachbarländern die Unterschiede in den makroökonomischen Veränderungen nicht besonders groß. Im Zeitraum von 2007 bis 2009 ging beispielsweise die jährliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Argentinien von 8,7 über 6,8 auf 0,7 Prozent zurück.
Dessen ungeachtet empfinden die argentinischen und brasilianischen Bürgerinnen und Bürger die Folgen der Krise unterschiedlich. Gefragt nach der Einschätzung der Effekte der Krise im eigenen Land auf einer Skala von 1 (kein Effekt) bis 10 (Effekte in allen Bereichen), kommen Argentinier auf einen Durchschnitt von 8 Punkten, die Brasilianer auf einen von 6,1. Die Diskrepanz zwischen beiden Werten wird beim regionalen Vergleich mit den andern Ländern noch deutlicher. Brasilien liegt unterhalb des lateinamerikanischen Durchschnitts, der bei 7,1 Punkten liegt, auf dem zweiten Platz (geringere Auswirkungen); Argentinien befindet sich oberhalb des Mittelwertes auf Platz 16 (größere Auswirkungen) von 18 untersuchten Ländern des Subkontinents.
Ähnlich verhält sich die Bewertung der negativen Effekte der Krise auf die persönliche ökonomische Situation. Unter den Lateinamerikanern (Durchschnitt 6,9 Punkte) schätzen sich Brasilianer als am wenigsten betroffen ein (5,3 Punkte, erster Platz); die Argentinier hingegen beschreiben ihre Lage als stark beeinträchtigt (8 Punkte, Platz 14). Entsprechend unterschiedlich sind die Erwartungen hinsichtlich der erforderlichen Zeitspanne, um die Krise zu überwinden. Der Tunnel, an dessen Ende Licht erhofft wird, scheint in Argentinien viel länger: Hier geben 79 Prozent der Befragten an, dass die Krise noch lange andauern wird; unter den brasilianischen Befragten sind nur 33 Prozent dieser Meinung. In Brasilien sind 55 Prozent der Interviewten vielmehr der Ansicht, dass die schlimmste Phase der Krise schon vorbei ist und sich das Land bereits auf Erholungskurs befindet; diesen Optimismus teilen nur 18 Prozent der Befragten im Nachbarland. Die abweichende Prognose hängt unter anderem von der Wahrnehmung ab, wie die jeweiligen Regierungen die Herausforderungen der Krise meistern. Nach Chile ist Brasilien das lateinamerikanische Land, in dem die Bevölkerung die Wirtschaftspolitik des Präsidenten am stärksten unterstützt. Indessen erhält die argentinische Präsidentin von ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern die schlechteste Note in der Region.
Bei Betrachtung einer längeren Zeitspanne stellt sich die vergleichsweise kritischere Einstellung der argentinischen Gesellschaft in Zukunfts- und Wirtschaftsfragen - wenn auch mit punktuellen Ausnahmen - als Trend heraus. Ein Vergleich von Schlüsselindikatoren (Wirtschaftswachstum, Armutsreduzierung etc.) beider Länder zeigt, dass in den vergangenen zehn Jahren die sozioökonomischen Verbesserungen in Argentinien ausgeprägter waren als in Brasilien. Allerdings unterschieden sich die Ausgangslagen in beiden Ländern erheblich: Während Argentinien sich von einer seiner tiefgreifendsten politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Krisen erholte, blieb Brasilien eine solche dramatische Erfahrung erspart.
Wellen der Zeit
Auch im neuen Jahrtausend prägten Erfahrungen von Wandel und Kontinuität sowie von Turbulenzen und Stabilität die argentinischen und brasilianischen Bürger und Bürgerinnen unterschiedlich. Zwar markierte das Jahr 2003 den Eintritt beider Länder in die "rote Welle" linker Regierungen in Lateinamerika. Aufgrund der spezifischen nationalen Kontexte und der unterschiedlichen Regierungspolitiken verdienen jedoch die Wahlsiege Néstor Kirchners und Luiz Inácio Lula da Silvas eine jeweils andere Bewertung. Erstens waren die Startbedingungen in beiden Ländern deutlich verschieden: Kirchners Aufstieg zur Macht folgte auf den frühzeitigen Rücktritt des Radikalen Fernando de la Rúa (von der Unión Cívica Radical, UCR) inmitten der dramatischen "Argentinienkrise" sowie auf vier Interimspräsidenten zwischen Dezember 2001 und Mai 2003. Lula da Silva löste in Brasilien Fernando Henrique Cardoso (von der Partido da Social Democracia Brasileira, PSDB) in der Präsidentschaft ab, der zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten lang mit relativ großem Erfolg regiert hatte.
Zweitens verlieh die jeweilige parteipolitische Zugehörigkeit der siegreichen Kandidaten den Wahlerfolgen jeweils unterschiedliche Bedeutung: Mit dem Peronisten Kirchner kam eine der zwei traditionellen argentinischen Regierungsparteien,
Drittens lässt sich die von Kirchner und Lula da Silva betriebene Politik hinsichtlich des Grades an Kontinuität und Wandel zu den Vorgängerregierungen jeweils anders einordnen: Kirchner setzte sich an die Spitze einer linksorientierten Strömung innerhalb des Peronismus, die sich vom neoliberalen Kurs der Regierung Menem abwendete und die Partei als Repräsentant nationaler und populärer Interessen neu ausrichtete.
Zeit für soziale Gerechtigkeit
Ebenfalls charakteristisch sowohl für die beiden Kirchner- als auch die Lula-Regierungen
Am stärksten kritisieren die argentinischen Bürgerinnen und Bürger die herrschenden Verhältnisse von Armut und Reichtum. Hierbei halten nur 4 Prozent der Befragten die Einkommensverteilung im eigenen Land für gerecht (letzter Rangplatz). In Brasilien fällen 16 Prozent der interviewten Personen dieses Urteil. Ähnlich pessimistisch fallen in beiden Ländern die Antworten auf die Frage aus, ob die Demokratie imstande ist, eine gerechte Umverteilung zu sichern. Dies liegt daran, dass eine breite gesellschaftliche Mehrheit den gewählten Regierungen die Gemeinwohlorientierung abspricht. Danach gefragt zeigen sich die Bürger und Bürgerinnen Argentiniens deutlich skeptischer als ihre Nachbarn. Laut Latinobarómetro 2009 sind hier nur 7 Prozent der Befragten der Meinung, dass im Sinne des ganzen Volkes regiert wird (letzter Rangplatz), in Brasilien sind es 42 Prozent. Im Jahr 2008 waren 87 Prozent der argentinischen und 66 Prozent der brasilianischen Interviewten der Ansicht, dass die Regierung zu Gunsten mächtiger Interessengruppen handelt.
Die Messung des Grades an faktischer sowie an wahrgenommener Korruption stellt ein wissenschaftliches Desiderat dar. Die Schwierigkeit bei der Ermittlung liegt zum einen in der Natur der Sache. Als "nicht ganz legales" bzw. kriminelles Phänomen erfolgt sie im Verborgenen. Zudem kann unter den beteiligten Parteien nicht eindeutig zwischen Tätern und Opfern unterschieden werden, denn it takes two to tango. In korrupte Praktiken sind meistens mehrere Akteure und Strukturen involviert, und häufig fehlt es an einem "Geschädigten", der den Vorfall melden könnte. Die öffentliche Aufdeckung von Korruptionsfällen kann zum anderen zu zweierlei Interpretationen einladen: Einerseits bedeutet dies, dass solche Delikte bekannt gemacht und verfolgt werden. Andererseits impliziert dies jedoch überhaupt erst die Existenz von Korruption. Eine rege öffentliche Korruptionsdebatte kann also sowohl ein Zeichen für die Verschlechterung der Situation als auch für eine verstärkte Korruptionsbekämpfung sein. Die Berichterstattung der Medien ist bei der Aufdeckung von Korruptionsaffären häufig besonders intensiv; wie solche Fälle aber dann enden, welche Konsequenzen sie für die Beschuldigten nach sich ziehen, bekommen die meisten Bürgerinnen und Bürger nicht mehr mit.
Laut Corruption Perceptions Index (CPI) 2009 von Transparency International, der die Wahrnehmung von Korruption im öffentlichen Sektor auf der Grundlage von Umfragen sowie von Experteninterviews und der Befragung von Geschäftsleuten ermittelt,
Dennoch stellt die Korruptionswahrnehmung in Lateinamerika nach wie vor ein "Armutszeugnis" für die Politik dar. In den meisten Ländern der Region ist eine breite Mehrheit der Ansicht, dass es mehr Korruption innerhalb der politischen Klasse gibt als im Rest der Gesellschaft.
Demokratie in Zeitperspektive
Die bereits zitierte Studie von Grimson zur politischen Kultur in Argentinien und Brasilien gelangt unter anderem zu dem Befund, dass in beiden Ländern der Bestand demokratischer Ordnung als eine wichtige Errungenschaft angesehen und daher positiv bewertet wird. Diese Wertschätzung scheint jedoch vor jeweils unterschiedlichen Zeitfolien zu erfolgen. In Brasilien, wo die Idee des Fortschritts im Kontrast mit ernüchternden Aspekten der Realität bisweilen unter Druck gerät, wird Demokratie als Moment der Aussöhnung und der Erneuerung gesellschaftlicher Kräfte und somit als Beginn eines neuen Zeitabschnitts aufgefasst. Bedauert wird zwar der bisher bescheidene Fortschritt; die Demokratie ist aber dennoch Ausgangspunkt für einen in die Zukunft gerichteten Blick voller Optimismus. In Argentinien wird in der Demokratie dagegen weniger ein Sprungbrett zum ersehnten Fortschritt gesehen, als vielmehr der friedliche Ort, an den die Gesellschaft nach dem "Schiffbruch" gelangt ist. Sie wird also als eine der seltenen glücklichen Stationen im Kontext einer insgesamt frustrierenden Seefahrt aufgefasst. Beklagt wird die Dekadenz; Demokratie ist damit eher als Endpunkt für einen retrospektiven Blick zu sehen, der Gefühle der Enttäuschung hervorruft. Aus dieser Gegenüberstellung wird deutlich, dass "Demokratie" im Zusammenhang mit verschiedenen Zeitperspektiven und historischen Entwicklungen einen jeweils nationalspezifischen Stellenwert einnimmt. Ebenfalls unterschiedlich kann das Verständnis von Demokratie sein, wovon wiederum der Ausprägungsgrad der gesellschaftlichen Präferenz für dieses Regime abhängt.
Umfrageergebnissen zufolge genießt die Demokratie als Herrschaftsform traditionell breitere Unterstützung in Argentinien als in Brasilien. Im Zeitraum von 1995 bis 2009 belief sich diese - laut Latinobarómetro 2009 - auf 68 Prozent in Argentinien und auf 43 Prozent in Brasilien. Hiermit korrelieren die Antworten auf die Frage nach der Bereitschaft, eine Militärregierung zu unterstützen. Auch wenn sich in beiden Fällen zwei Drittel der Befragten gegen eine solche autoritäre Herrschaft aussprechen, zeigen sich Brasilianer etwas "weniger dogmatisch" in dieser Position. So sehen sie es zu 61 Prozent als gerechtfertigt an, dass ein gewählter Präsident vom Militär abgesetzt wird, wenn er die Verfassung verletzt (Argentinien: 30 Prozent). Mit dieser Antwort katapultieren sich Brasilianerinnen und Brasilianer auf den ersten Rangplatz unter jenen Lateinamerikanern, die eine solche Ausnahme akzeptieren. Gleiches gilt für die Frage, ob es in schwierigen Situationen annehmbar ist, dass die Regierung die Gesetze missachtet, um Probleme zu lösen. Brasilien steht hier mit 44 Prozent an der Spitze der Befürworter. Auf dem untersten Platz befinden sich hingegen die Argentinier, die dem nur zu 18 Prozent zustimmen. Im Einklang mit diesen Werten steht das Umfrageergebnis auch in Bezug auf die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit eines Staatsstreichs im eigenen Land. Nach Ecuador ist Brasilien dasjenige Land, in dem die Möglichkeit eines Putsches am höchsten eingeschätzt wird (34 Prozent). Die argentinischen Bürgerinnen und Bürger sind diesbezüglich skeptischer (21 Prozent).
Zeitlichkeit der Erfahrung
Wie sind nun diese Zahlen zu deuten? Welche Rolle spielt hier die Zeit bzw. die Zeitwahrnehmung? Zweifelsohne sagen die gegebenen Antworten nicht nur etwas über die aktuelle Verfassung der Demokratie aus, sondern auch über die Erfahrungen, welche die argentinische und die brasilianische Gesellschaft mit Militärregierungen jeweils gemacht haben. Die argentinische Militärdiktatur war ungleich repressiver als die brasilianische. Nicht nur waren die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien gravierender, sondern auch die Restriktionen im politischen Wettbewerb. Im Unterschied zum argentinischen Fall ließen die regierenden Generäle in Brasilien beispielsweise den Kongress weiter funktionieren, wenn auch unter starken Einschränkungen. Ein künstliches Parteiensystem wurde errichtet, in dem ein Regierungs- und ein Oppositionslager begrenzten Zugang zu parlamentarischen Mandaten erhielten. Innerhalb eines engen Korsetts wurde ein gewisser Raum für parteipolitische Aktivitäten gelassen. In Argentinien hingegen verfolgte das Militärregime nicht nur eine systematische Entpolitisierung, sondern auf extreme Weise auch eine große Zahl "Regimegegner". Sehr unterschiedlich gestaltete sich zudem der Übergang zur Demokratie in den beiden Ländern. Dieser erfolgte in Argentinien ungleich abrupter. Seitdem das argentinische Militär nach der Niederlage im Falkland/Malwinen-Krieg vollkommen diskreditiert 1983 die Macht abgab, ist es ihm nicht mehr gelungen, sich als Institution erneut Respekt in der Gesellschaft zu verschaffen. Dementsprechend ist das Vertrauen in das Militär in Argentinien niedriger als in Brasilien.
In jüngster Vergangenheit reihte sich in Argentinien zudem die traumatische Erfahrung zum Jahreswechsel 2000/2001 in eine Kette von "Rückschlägen" ein, die die politische Entwicklung des Landes immer wieder erlitten hat. Dagegen blieb die junge brasilianische Demokratie von derartigen Höhen und Tiefen verschont. Historisch betrachtet stellt sich die politische Entwicklung Brasiliens generell weitaus stabiler dar. Einen klaren Hinweis hierauf liefert der Umstand, dass die verfassungsrechtliche Ordnung in Argentinien ungleich öfter durch Staatsstreiche bzw. Phasen eingeschränkten parteipolitischen Wettbewerbs unterbrochen wurde. Im Einklang mit diesen Unterschieden steht die eingangs beschriebene divergierende Zeitwahrnehmung: eher als Kontinuum in Brasilien und als brüchiger Verlauf in Argentinien. Vor diesem Hintergrund scheinen argentinische Bürgerinnen und Bürger weniger Anlass zur Hoffnung zu sehen als ihre brasilianischen Nachbarn. Sie verbinden mit der Zukunft eher düstere Vorahnungen: Uno, ein sehr berühmter argentinischer Tango, der von naiven Hoffnungen und bitterer Enttäuschung handelt, hat im Refrain den folgenden Vers: "Hätte ich noch jenes Herz, das ich einst gegeben habe, könnte ich noch, wie gestern, ohne Vorahnungen lieben."