Einleitung
Die Ausdifferenzierung des Parteiensystems seit den 1980er Jahren zum heutigen Fünf-Parteien-System stellt auch die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Haben sich die Gewerkschaften auf diese neue Situation eingestellt? Hat sich ihre Stellung im politischen und im Parteiensystem der Bundesrepublik gewandelt? Welche Rolle spielen Gewerkschafter im Parlament überhaupt noch, und wie wählen Gewerkschaftsmitglieder heute? Welche inhaltlich-programmatischen Schnittstellen gibt es zwischen Gewerkschaften und den fünf im Bundestag vertretenen Parteien? Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Dabei werden ausschließlich die Gewerkschaften in den Blick genommen, die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisiert sind, da diese (noch?) eine Monopolstellung in der Bundesrepublik einnehmen - sowohl auf tarifvertraglicher als auch politischer Ebene.
Die amtierende Regierung scheint aus Warte der Gewerkschaften zunächst die ungünstigste aller möglichen Konstellationen darzustellen - gilt doch die FDP als die gewerkschaftskritischste Partei. Noch vor wenigen Jahren bezeichnete ihr Vorsitzender die Gewerkschaften als "Plage für unser Land".
Doch war dies unter der rot-grünen Koalition in den Jahren 1998 bis 2005 nicht anders. Man erinnere sich an die bis heute heftigsten Auseinandersetzungen zwischen SPD und Gewerkschaften aufgrund der Agenda-Politik Gerhard Schröders. Man schreitet seither nicht mehr selbstverständlich "Seit an Seit";
Dies hat sich bis heute tendenziell im Verhältnis zu den Bündnisgrünen, essenziell im Verhältnis zur Partei Die Linke geändert. Der PDS begegneten viele westdeutsche Gewerkschafter noch skeptisch: Obwohl sie sich als Interessenvertreterin der Arbeitnehmer vorstellte, grenzten sich einige Gewerkschaften von der PDS als Nachfolgepartei der SED ab. Dies änderte sich erst mit ihrer Fusion mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG). Keine Partei scheint "von den Daten, der Entstehungsgeschichte und dem Selbstverständnis her in einem so eigentlichen Sinne ,Gewerkschaftspartei' wie die WASG" zu sein.
Verankerung der Gewerkschaften in den Parteien
Die Diagnose in der wissenschaftlichen Debatte scheint eindeutig: Die für das politische und das Parteiensystem der "alten" Bundesrepublik typische Verflechtung mit den Gewerkschaften (und anderen Großverbänden) lockert sich stetig.
Als Indizien für die Verankerung der Gewerkschaften in Parteien werden häufig die Anteile an Gewerkschaftsmitgliedern in den Bundestagsfraktionen, die Präsenz von Gewerkschaftsvorsitzenden im Bundestag und ihre Parteimitgliedschaften herangezogen. Die Berechnung des realen Anteils von gewerkschaftlich organisierten Abgeordneten gestaltet sich allerdings schwierig, da diese Angaben freiwillig und daher unvollständig sind. Zu den umfassendsten Untersuchungen hierüber zählt die Studie von Herbert Hönigsberger.
Die sinkende Zahl von Abgeordneten mit Gewerkschaftsmitgliedschaft spiegelt mehrere Wandlungen wieder. Die Gewerkschaften leiden erstens unter einem anhaltenden Mitgliederschwund. Die abnehmende gewerkschaftlich organisierte Wählerschaft führt dazu, dass auch Einfluss und Bedeutung der Gewerkschaften kontinuierlich sinken. In der SPD war die Gewerkschaftsmitgliedschaft in der Vergangenheit (für einige Sozialdemokraten auch heute noch) Symbol der kulturellen Zugehörigkeit zu dem aus der Tradition der Arbeiterbewegung entstandenen gemeinsamen Milieu. Die Auflösung dieser tradierten Milieubeziehungen durch Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse und das Auseinanderdriften der Sozialisation von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern macht gerade für jüngere Abgeordnete die Identifikation mit den Gewerkschaften schwieriger.
Für den Einfluss der Gewerkschaften auf die Politik muss die Zahl gewerkschaftlich organisierter Abgeordneter aber nicht unbedingt eine Rolle spielen, da sich in der Vergangenheit zeigte, dass bei Abstimmungen in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft selten handlungsorientierend war.
Für die zunehmende Abstinenz von (hohen) Gewerkschaftsfunktionären im Parlament können mehrere Gründe genannt werden. Zunächst ist die heutige Politikergeneration professionalisiert: Die Zahl jener, die neben ihrer Abgeordnetentätigkeit noch in ihrem ehemaligen Beruf tätig sind, ist zurückgegangen. Die Berufspolitiker verdrängen zunehmend den Typus des Verbandspolitikers früherer Jahre. Zudem hat sich die Rekrutierungspraxis in den Parteien gewandelt: Die Verankerung in der Parteiorganisation ist heute oft entscheidender, als erfolgreicher Gewerkschaftsvorsitzender mit entsprechendem Parteibuch zu sein.
Aber auch auf Seiten der Gewerkschafter hat die Bereitschaft, ein politisches Amt zu übernehmen, abgenommen. Dafür ist - neben oben stehenden Gründen - die Tatsache mitverantwortlich, "dass das Bundestagsmandat ihre Durchsetzungskraft eher mindert und kaum zusätzliche Gestaltungsmöglichkeiten zu gewinnen sind".
Eine Ausnahme bildet hier die Linkspartei: Bei ihr "erlebt das politisierende Gewerkschaftertum alten Zuschnitts eine Art Renaissance,"
Wahlverhalten der Gewerkschaftsmitglieder
Die SPD war traditionell die Partei, welche die meisten Stimmen aus dem Lager der gewerkschaftlich organisierten Angestellten und Arbeitenden erhielt, Schwankungen nach oben und unten inbegriffen. Sie ist es auch heute noch, doch verliert sie seit dem Jahr 2002 beständig bei den gewerkschaftlich organisierten Wählern.
Im Jahr 1998 wählten noch 56% aller gewerkschaftlich organisierten Wähler die SPD, die CDU/CSU lag mit 22% auf dem zweiten Platz. PDS und Bündnisgrüne bewegten sich um die 6%, während die FDP auf einen Anteil von 2,9% kam.
Auffällig ist der drastische Stimmenverlust der SPD im Jahr 2009, der den Bundestrend (minus 11,2%) noch überholte. Die unpopulären sozialpolitischen Reformen der vergangenen Jahre (vor allem "Hartz IV" und die "Rente mit 67") dürften wie in anderen Wählergruppen auch, die traditionell zur Sozialdemokratie tendierten, noch immer verantwortlich sein für den Vertrauensverlust in die SPD bei dieser Wahl. Hingegen konnte die Union, vor allem durch die Person der Bundeskanzlerin und der viel diskutierten "Sozialdemokratisierung" der CDU mit weniger Schaden aus der Großen Koalition hervorgehen.
Schnittstellen zwischen Gewerkschaften und Parteien
Im Folgenden werden Positionen der Parteien und des DGB zu für die gewerkschaftliche Praxis bedeutenden Themen wie Tarifautonomie und Mindestlohn, Mitbestimmung, Flexibilisierung beziehungsweise Regulierung des Arbeitsmarktes, Arbeitnehmerdatenschutz und soziale Sicherung gegenübergestellt, um zu eruieren, in welchen Feldern inhaltliche Schnittstellen bestehen, die die Gewerkschaften nutzen können. Grundlage bilden die Bundeswahlprogramme 2009 von CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen sowie die politischen Forderungen des DGB zur Bundestagswahl 2009. Zu beachten ist dabei, dass einige DGB-Gewerkschaften vom Dachverband abweichende Forderungen vertreten können.
Tarifautonomie und Mindestlohn.
Die Tarifautonomie steht in engem Verhältnis zum Mindestlohn, greift dieser doch in die Tarifautonomie ein. Die Forderung nach einem allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn hat sich im DGB entsprechend erst allmählich und noch immer nicht in allen Einzelgewerkschaften durchgesetzt. Die FDP will die Tarifautonomie vor "staatlichen Lohndiktaten"
Mitbestimmung.
Mit dem Ziel einer Demokratisierung der Wirtschaft plädiert der DGB für die Ausweitung der Mitbestimmung bei Übernahmen, Standort- und Investitionsentscheidungen.
Flexibilisierung und Regulierung des Arbeitsmarktes.
Hier stehen insbesondere der Kündigungsschutz und prekäre Beschäftigungsverhältnisse im Mittelpunkt. Der DGB nennt den Abbau von Stammbelegschaften zugunsten von Leiharbeit und befristet Beschäftigten einen "Irrweg"; sozialversicherungspflichtige Vollzeitarbeit mit Kündigungsschutz sei dagegen deutlich zu stärken, die prekäre Beschäftigung aktiv zu bekämpfen.
Arbeitnehmerdatenschutz.
Angesichts der jüngeren Enthüllungen über den Missbrauch von Arbeitnehmerdaten und die Überwachung von Beschäftigten ist der Arbeitnehmerdatenschutz in den Fokus von Gewerkschaften und Parteien gerückt. Die Aufnahme dieses Themas in den Vergleich der Positionen von Gewerkschaften und Parteien ist der Tatsache geschuldet, dass es hierbei grundlegende Überlappungen der Forderungen von FDP und Gewerkschaften gibt, was, wie oben gezeigt wurde, selten ist auf dem Feld der Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die FDP setzte sich in ihrem Wahlprogramm für die institutionelle Stärkung der betrieblichen Datenschutzbeauftragten sowie eine generelle Verbesserung des Arbeitnehmerdatenschutzes ein.
Soziale Sicherung.
Im Bereich der sozialen Sicherung gab es in den vergangenen Jahren die größten Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Regierung, vor allem "Hartz IV" und die "Rente mit 67" waren Anlass zum Streit. Der DGB fordert, dass "niemand zur Annahme von Arbeit zu Dumpinglöhnen oder zu entwürdigenden Bedingungen gezwungen wird", lehnt Leistungskürzungen beim Arbeitslosengeld I und II ab und verlangt eine bessere Absicherung von Arbeitslosen, zumal bei Hartz-IV-Regelsätzen, die alles andere als "armutsfest" seien.
Insgesamt gibt es inhaltlich - wenig überraschend - die meisten Übereinstimmungen zwischen dem linken Spektrum (SPD, Grüne und Linke) und den Gewerkschaften, die wenigsten mit der FDP. Die Linke formulierte oft weitergehende Forderungen als der DGB selbst, um Rechte und Einfluss von Arbeitnehmerschaft und Gewerkschaften auszubauen - politisch bestehen mussten diese Forderungen bislang nicht. Die CDU/CSU verzichtete in ihrem Wahlprogramm 2009 darauf, Positionen aus der Wahl 2005 wie die Lockerung des Kündigungsschutzes oder Eingriffe in die Tarifautonomie zu wiederholen, womit wichtige Konfliktlinien mit den Gewerkschaften vermieden wurden.
Neue strategische Optionen im Fünf-Parteien-System?
Die Gewerkschaften haben sich nicht erst seit der Herausbildung eines stabilen Fünf-Parteien-Systems auf veränderte Rahmenbedingungen eingestellt. Das Abrücken der SPD und der CDU/CSU von grundlegenden Entscheidungen der Nachkriegszeit in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und die konfrontative statt konsensuale Durchsetzung der Reformpolitik zwischen den Jahren 1998 und 2007 (letzteres war das Jahr, in dem die "Rente mit 67" verabschiedet wurde) bestätigte nur die Einschätzung in großen Teilen der Gewerkschaften, sich eher auf die eigene politische Kraft verlassen zu können denn auf die Vermittlung über die beiden großen Volksparteien.
Die Entfremdung ist beiderseits, sichtbar in der abnehmenden Präsenz von Gewerkschaftsmitgliedern und -funktionären im Parlament, der sinkenden Bedeutung der parteipolitischen Zuordnung der Vorstände und der Ausdifferenzierung des Wahlverhaltens der gewerkschaftlich organisierten Wählerschaft, insbesondere zu Ungunsten der SPD. Dies führt dazu, dass die Gewerkschaften immer mehr zu einem "normalen" Interessen- oder Lobbyverband neben anderen werden, auch wenn sie noch von ihrem privilegierten Zugang zum politischen Entscheidungsprozess und zu den Parteien zehren können.
Eine andere strategische Option besteht in der engen Zusammenarbeit mit der Linkspartei, die mehr gewerkschaftlich organisierte Wähler an sich bindet. Die Beteiligung maßgeblicher Teile der Gewerkschaften an der Gründung der WASG, die Tatsache, dass Die Linke eine dezidiert pro-gewerkschaftliche Programmatik vertritt, und ihre Rolle (auf Bundesebene) als Oppositionspartei machen eine Zusammenarbeit mit ihr für Gewerkschafter einfach - musste die Partei bislang ihre politischen Vorstellungen nicht den Logiken des Regierungshandelns unterwerfen. "Der Austritt aus der SPD und der Übertritt in WASG und Linke ist letztlich nur der zugespitzte Ausdruck eines Differenzierungsprozesses, der letzte Schritt, die letzte Konsequenz eines Entfremdungsprozesses zwischen Partei- und Regierungspolitik und gewerkschaftlicher Praxis."
Eine weitere Alternative wäre die ideologiefreie Zusammenarbeit mit allen Parteien. Dazu fehle den Gewerkschaften zwar derzeit noch eine entsprechende Diskussionskultur.