Einleitung
Es bedurfte nicht erst der Finanz- und der darauffolgenden Wirtschaftskrise, damit die deutschen Gewerkschaften sich ihrer Krise als Organisationen bewusst wurden. Noch bis in die 1980er Jahre galten sie international als ein Hort der Stabilität, als kampfstarke, befestigte, aber auch vergleichsweise flexible Organisationen, die die Interessen ihrer Mitglieder wirkungsvoll zu vertreten wussten. Doch unter der Oberfläche einer institutionellen und organisatorischen Stabilität schwand zusehends ihre Kraft.
Der Charakter dieser Krise lässt sich am besten anhand des Wandels der betrieblichen und gesellschaftlichen Machtressourcen der lohnabhängig Beschäftigten analysieren.
Diesen Verlust von struktureller Macht können Gewerkschaften teilweise durch Organisationsmacht abfedern - allerdings waren sie auch hier in den vergangenen Jahren mit Erosionsprozessen konfrontiert. Organisationsmacht ist keine rein numerische Größe, sondern reflektiert die Fähigkeit zum kollektiven Handeln. Viele junge, qualifizierte Beschäftigte haben aber oft nur noch eine geringe Neigung, sich gewerkschaftlich zu organisieren. Die Gewerkschaften konnten bisher auch viele prekär Beschäftigte nicht erreichen. Gerade in neuen Branchen sind die Gewerkschaften unterrepräsentiert und haben vielerorts zunehmend Schwierigkeiten, ihre Mitglieder zu kollektiven Aktionen zu mobilisieren. Die dritte Quelle der Macht von Lohnabhängigen und Gewerkschaften ist die institutionelle Macht.
Auf der Ebene des Wohlfahrtsstaates bedeuten vor allem die Hartz-Reformen für die Gewerkschaften zahlreiche institutionelle Schwächungen. Die Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, die Reduzierung des Kündigungsschutzes, die eingeschränkte Beteiligung an der Bundesagentur für Arbeit sowie die Novellierung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) bedeuten allesamt eine Schwächung institutioneller Machtressourcen. Wohlfahrtsstaatliche Reformen und betriebliche Umstrukturierungen greifen zusammen, prekäre Beschäftigung und Niedriglöhne sind in den vergangenen Jahren massiv expandiert.
Strategischer Wandel
Sind die Gewerkschaften deshalb zum Niedergang verdammt? Wie können sie verhindern, in eine "strategische Lähmung"
Die deutschen Gewerkschaften haben in den vergangenen Jahren ausführlich über die Erosion ihrer Machtressourcen reflektiert. Ihre starke rechtliche Verankerung und Institutionalisierung führte dazu, dass - obwohl sie seit den 1990er Jahren massiv Mitglieder verloren haben - die Frage der Mitgliedergewinnung lange Zeit eine relativ untergeordnete Rolle spielte. Stattdessen orientierten sie sich vornehmlich auf eine institutionelle Stabilisierung - wie über betriebliche "Bündnisse für Arbeit".
Gewerkschaften sind - wie alle Organisationen - strategische Akteure, die sich nicht nur flexibel an ihre Umwelt anpassen, sondern diese über "strategische Wahlhandlungen" auch prägen können.
Zudem sind Gewerkschaften - in organisationssoziologischer Perspektive - Systeme von "losen Koppelungen".
Die Revitalisierungsprozesse der jüngeren Zeit konzentrierten sich vornehmlich auf den Wiederaufbau von Organisationsmacht, weil dies die einzige Machtressource ist, auf die die Gewerkschaften unmittelbar selbst Einfluss nehmen können - durch Organisationsreformen, Mitgliederwerbung und partizipatorische Strategien, die den Mitgliedern mehr Einfluss auf das Gewerkschaftshandeln einräumen sollen. Hiervon erhoffen sie sich langfristig auch wieder einen Zugewinn an institutioneller Macht, haben aber erkannt, dass sie letztere nicht ohne eine wieder erstarkte Organisationsmacht erlangen werden. Am Beispiel der drei zur Zeit wohl innovativsten Gewerkschaften - der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di), der Industriegewerkschaft (IG) Metall und der IG BAU - werden im Folgenden die Revitalisierungsstrategien diskutiert.
Organisationsreform und Mitgliederorientierung
Die Frage der abnehmenden Organisationsstärke beantworteten die deutschen Gewerkschaften zunächst mit Fusionen, die einen defensiven Charakter trugen. Vor allem in den 1990er Jahren gab es eine regelrechte Fusionswelle, an dessen Ende sich die Anzahl der Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) um die Hälfte auf acht reduziert hat.
Ver.di:
Die Gründung der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di im Jahr 2001 war bereits kein defensiver Akt der Ressourcenzusammenlegung schwächelnder Einzelgewerkschaften mehr. Ver.di war zugleich ein strategischer Zusammenschluss. Obwohl die junge Dienstleistungsgewerkschaft letztendlich in vielen Bereichen sehr traditionelle Strategien tariflicher Stabilisierung praktizierte, war eines der zentralen Ziele des Zusammenschlusses, neue und bislang wenig organisierte Branchen und Beschäftigtengruppen zu organisieren. Die Matrix-Organisation, vertikale Branchen-Fachbereiche und horizontale Organisationsstrukturen, sollte eine Antwort auf die Differenzierung in der Arbeitswelt bieten.
Doch trotz des strategischen Charakters der Ver.di-Gründung sind Organisationsfusionen immer nur "zweitbeste Lösungen".
IG BAU:
Die IG BAU - eine Fusion aus der IG Bau-Steine-Erden und der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft - hat seit dem Jahr 1996 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und ist dadurch in eine schwierige personelle und finanzielle Lage geraten. Aber gerade dies hat bei ihr zu einer größeren Bereitschaft zur Erneuerung geführt. Die im Jahr 2007 beschlossene Organisationsreform zur "Mitmachgewerkschaft" stellt den Versuch dar, aus der Not der Mitglieder- und der damit verbundenen Finanzverluste eine Tugend zu machen. Man verschlankte den Vorstand und schaffte einige hauptamtliche Stellen auf Landesebene zugunsten der Beteiligung von Ehrenamtlichen ab. So konnte man einerseits mehr Mitglieder in die Organisationsarbeit integrieren und andererseits Ressourcen für Projekte neu disponieren.
IG Metall:
Auch auf der IG Metall lastete in den vergangenen Jahren der doppelte Druck von Mitgliederverlusten und tariflicher Erosion. Gleichwohl finden die jüngst diskutierten Organisationsreformen der größten Industriegewerkschaft der Welt im Kontext einer befestigten Organisation statt, die finanziell solide geführt wird. Im Vergleich zu Ver.di ist die IG Metall wesentlich zentralistischer strukturiert. Dies hat zur Folge, dass Organisationslernen in vielen Fällen nur begrenzt stattfinden kann, die Organisation aber kohärenter lernt und Lernprozesse effektiver umgesetzt werden können.
Bereits im Jahr 2007 diagnostizierte ihr stellvertretender Vorsitzender Detlef Wetzel, dass die deutsche Sozialpartnerschaft brüchig geworden und das System industrieller Beziehungen erodiert sei. Da die Voraussetzungen des alten gewerkschaftlichen Modells hinfällig seien, forderte er eine "grundlegende Veränderung des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses"; künftig solle die IG Metall weniger auf eine Stellvertreterpolitik setzen, sondern mitglieder-, beteiligungs- und konfliktorientiert handeln.
Die Gefahr einer solchen Reduzierung liegt aber auf der Hand: Schon in vielen Unternehmen sind Verschlankungskonzepte dieser Art gescheitert, weil sie oftmals das Kind mit dem Bade ausschütteten. Zudem sind Gewerkschaften - anders als Unternehmen - Mitgliederorganisationen, die auf die Berücksichtigung pluralistischer Positionen und Identitäten sowie ein dialogisches Führungsprinzip angewiesen sind, um überhaupt kollektiv handlungsfähig zu sein.
Arbeit, Arbeitskampf und Anerkennung
Der Wandel der Arbeit und der Arbeitsgesellschaft stellt die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Dies hat sowohl zu einem Wandel der Politik der Arbeit als auch des Arbeitskampfes geführt, der sich in seiner Form und seinem Inhalt nach verändert hat. Die finanzkapitalistische Landnahme hat zu einer Verschiebung der Marktgrenzen in den Betrieb, Re-Taylorisierungen (Rückkehr zur Zerlegung der Arbeitsprozesse in kleine Schritte), Entgrenzungen von Arbeitszeiten und Leistungsbedingungen bis zur Hinnahme verstärkter Gesundheitsrisiken geführt. Als Reaktion darauf haben die Gewerkschaften das einst für die Arbeitswelt der fordistischen Ära erarbeitete Konzept zur Humanisierung der Arbeitswelt im strategischen Ansatz Gute Arbeit als betriebliches Handlungs-, aber auch öffentliches Konzept des Agenda settings neu konzipiert.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und der wachsende Niedriglohnsektor haben auch in anderen Bereichen die Gewerkschaften zum Umdenken gebracht. In der Vergangenheit hatte man sich nur wenig um die Organisierung von prekär Beschäftigten gekümmert. Die Beschäftigtengruppe der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter wurde lange Zeit gänzlich ignoriert, da man Leiharbeit als "moderne Sklavenarbeit" betrachtete, die es zu verbieten gelte. So kann beispielsweise die Kampagne der IG Metall "Leiharbeit fair gestalten - gleiche Arbeit, gleiches Geld" zur betrieblichen und tariflichen Besserstellung und Organisierung von Leiharbeitern als wichtige interessenpolitische Innovation gedeutet werden. Gemessen an der Schwierigkeit prekär Beschäftigte zu organisieren, konnte man sogar erste Erfolge verzeichnen.
Die tarifpolitische Defensive der vergangenen Jahre zwang die deutschen Gewerkschaften zu komplexen Rückzugsgefechten. So versuchten sie der "wilden" eine von ihnen "kontrollierte" Dezentralisierung des Tarifvertragssystems entgegenzusetzen. Bereits hierfür waren sie darauf angewiesen, ihre Organisationsstärke im Betrieb wieder zu erhöhen.
Im von Ver.di organisierten öffentlichen Dienst ist die Beschäftigungsunsicherheit trotz Wirtschaftskrise geringer. Beschäftigte fürchten hier weniger, "gegen ihre Jobs" zu streiken, und sind entsprechend stärker geneigt, an Arbeitskämpfen teilzunehmen. Vor allem ist der Staat als Arbeitgeber gerade in der Finanzkrise für Gewerkschaften ein verteilungspolitisch gut politisierbares Terrain, denn er hat bereits in der Finanzkrise bei der Rettung der Banken bewiesen, dass er durchaus massive finanzielle Ressourcen mobilisieren kann.
Insgesamt hat die Krise die Rolle des Staates in der Tarifpolitik vergrößert. Im öffentlichen Dienst ist der Staat selbst der Arbeitgeber. Aber auch in der Privatwirtschaft kommt ihm eine größere Rolle zu. Zwar bleibt die Tarifautonomie nach wie vor als institutionelle Machtressource gewahrt, der Staat als dritte Partei ist aber mehr denn je in die Tarifpolitik involviert. So fordern die DGB-Gewerkschaften einen staatlich garantierten Mindestlohn, weil die Zahl der Branchen, in denen es ihnen an Organisationsmacht für den Abschluss von Tarifverträgen fehlt, stetig zunimmt. Im neuen Tarifvertrag der Metallbranche soll der Staat die tarifvertragliche Möglichkeit zur Kurzarbeit deutlich stärker als bisher unterstützen.
Der Wandel der Arbeitsgesellschaft hat in den vergangenen Jahren auch in den direkten Tarifauseinandersetzungen zu diversen Verschiebungen und Innovationen geführt. Der zunehmende Anteil von Dienstleistungen an der Ökonomie und die Zunahme von Frauenerwerbsarbeit haben auch in Deutschland dazu beigetragen, dass immer mehr Arbeitskämpfe im Dienstleistungssektor geführt werden und die Beteiligung von Frauen zunimmt. Arbeitskämpfe, in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern eher eine Seltenheit, haben sich aber auch in ihrer Form gewandelt. Sie sind heute punktueller, partizipativer und in den Mitteln flexibler geworden.
Generell war in den vergangenen Jahren der Trend zu beobachten, dass Arbeitskämpfe und Tarifbewegungen stärker qualitative Elemente aufnahmen und über Gerechtigkeits- und Anerkennungsfragen mobilisierten. Exemplarisch hierfür sind die von der IG BAU geführten Streiks der Gebäudereinigerinnen und die von Ver.di geführten Arbeitskämpfe in den Kitas. Beim "Aufstand der Unsichtbaren", wie die IG BAU ihren Streik nannte, bestreikte sie öffentliche Gebäude, Universitäten und Finanzunternehmen, und es gelang zum ersten Mal, die schwer organisierbare Gruppe von vornehmlich prekären, weiblichen und häufig migrantischen Beschäftigten zu mobilisieren. Den Kita-Streik führte Ver.di mit einer neuen Partizipationskultur, da die tradierten Systeme der Tarifkommission zu eng geworden waren. Die IG BAU ging während des Streiks gezielt Bündnisse mit Studierendengruppen ein, um an den Universitäten auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.
Während bei den Kita-Streiks die Mobilisierung unter anderem durch Aufklärung über die Gesundheitsrisiken der Erzieherinnen geführt wurde, konzentrierte sich die IG BAU auf die schlechten Arbeitsbedingungen in der Branche. In beiden Streiks, vor allem jedoch im letzteren, betonten die Gewerkschaften den gesellschaftlichen Wert der Tätigkeit der Beschäftigten. In die Frage der Anerkennung wurde die der Verteilung eingeschlossen.
Organizing und die neue partizipative Politik
Bereits seit einigen Jahren gibt es eine intensive Debatte über Organizing, einem vor allem in den USA, Australien, Südkorea, Südafrika und Großbritannien zum Teil erfolgreich praktizierten Ansatz zur Mitgliedergewinnung und schließlich auch zur Wiedererlangung von gewerkschaftlicher Organisationsmacht.
Bei Ver.di, der IG BAU und der IG Metall gibt es mittlerweile eine Vielzahl von größeren, aber vor allem kleineren Organizing-Projekten. Die meisten können noch nicht an die Erfolge US-amerikanischer oder britischer Gewerkschaften heranreichen. Dies hat mehrere Gründe. Zunächst sind viele Projekte noch in der Erprobungsphase. Ein Problem ist paradoxerweise die nach wie vor große organisatorische und institutionelle Stärke der deutschen Gewerkschaften. Die tiefgreifende Defensive der Organizing-Gewerkschaften, beispielsweise in den USA, hat sie auch zu radikalen Maßnahmen greifen lassen: Die amerikanische SEIU (Service Employees International Union) stellt beispielsweise 30 Prozent ihres Etats für Organizing zur Verfügung. Hiervon sind die deutschen Gewerkschaften weit entfernt. Viele Projekte leiden an personeller Unterfinanzierung und mangelnder strategischer Recherche - beides Kriterien, die in der internationalen Forschungsliteratur einhellig als essenziell für den Erfolg von Organizing-Kampagnen analysiert wurden.
Vor allem Ver.di hat erste Organizing-Projekte im Sicherheitsgewerbe, in der Telekommunikation, im Versandhandel, im Gesundheitswesen und im Einzelhandel durchgeführt. Die Druckkampagne gegen den Lebensmitteldiscounter Lidl erreichte eine bundesweite Aufmerksamkeit, weil die Gewerkschaft gezielt das Bündnis mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen gesucht hatte und es ihr gelang, in der Öffentlichkeit die Praktiken des Discounters zu skandalisieren. Doch trotz der in Deutschland bislang hervorstechenden Innovationsfähigkeit von Ver.di wurden viele Organizing-Projekte in den Landesfachbereichen entwickelt und konnten auf Bundesebene keine hinreichende Ressourcenunterstützung bekommen. Die IG Metall hat seit dem Jahr 2008 eine zentrale Abteilung für Organizing-Projekte geschaffen und auf bundesweiter Ebene mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt. Nach zahlreichen lokalen Experimenten beginnen hier erst in diesem Jahr sogenannte "umfassende Kampagnen" - das sind größer angelegte Organizing-Projekte mit speziell ausgebildeten Organizern.
Ein wichtiger Teil der Erneuerung der deutschen Gewerkschaften geschieht nicht als übergreifendes Organisationslernen, sondern auf lokaler Ebene, wo Akteure mit den überlieferten Handlungsmustern und Alltagsroutinen an Grenzen stoßen und innovative Praktiken entwickeln.
Dies ist keineswegs der einzige Fall von lokaler Erneuerung. So entstanden im Bezirk Küste der IG Metall "lokale Arbeiterbewegungen", die beteiligungsorientierte Politik vor allem in Auseinandersetzungen um den Abschluss von Sozialtarifverträgen mit zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen verbanden.
Bei der IG BAU hat man ebenfalls erste Organizing-Projekte durchgeführt und Elemente hiervon auf Tarifauseinandersetzungen übertragen.
Neujustierungen im Verhältnis von Gewerkschaften und Wissenschaft
Die ersten systematischen Erfahrungen mit Organizing-Kampagnen in Deutschland schreiben auch den Trend fort, dass Gewerkschaften heutzutage immer stärker auf der Basis betriebswirtschaftlicher und wirtschaftssoziologischer Kenntnisse agieren (müssen). So identifizieren sie in den Kampagnen Schwachstellen der Unternehmen in Zuliefererketten, gesellschaftlichen Netzwerken oder ihrer öffentlichen Reputation. Auch die Strategie der IG Metall "Besser statt billiger" setzt auf die fachlich und wissenschaftlich fundierte Kompetenzerweiterung von Betriebsräten und Gewerkschaftern. Diese partielle Verwissenschaftlichung der Gewerkschaften ist in Deutschland jedoch kein Novum. So sind Arbeitskämpfe seit der Änderung des Paragraphen 116 des Arbeitsförderungsgesetzes in den 1980er Jahren, die die Neutralität der Arbeitslosenversicherung in Arbeitskämpfen garantiert - unter Berücksichtigung von Wertschöpfungs- und Zuliefererketten -, oft komplex und strategisch geplant.
Im gleichen Zuge fällt auf, dass die Spitzen der Gewerkschaften und ihre Stäbe immer höhere Bildungsabschlüsse aufweisen, sich geradezu professionalisieren und akademisieren. Sowohl der Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske als auch der IG Metall-Vorsitzende Bertold Huber haben studiert, und in ihren Stäben gibt es eine Reihe von Akademikern, die auch außerhalb der Gewerkschaftsöffentlichkeit erfolgreich publizieren und gesellschaftliche Debatten prägen. Vorstandsmitglieder der IG Metall führen auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie Debatten mit der wissenschaftlichen Zunft oder edieren Bücher zur Rückgewinnung gewerkschaftlicher Macht in Australien.
Dazu passt, dass vom Vorstand der IG Metall seit einiger Zeit neue Gesprächsofferten an die Arbeitswissenschaften ausgehen - wohl wissend, dass eine Forschung zu Gewerkschaften oder gewerkschaftlich interessanten Themen keine Selbstverständlichkeit im heutigen Universitätsalltag mehr ist. Auf beiden Seiten setzt dies natürlich ein tiefes Verständnis für die Funktionslogik des Gegenüber in dessen gesellschaftlichem Umfeld voraus - auch dies war nicht immer selbstverständlich.
Fazit und Perspektiven
Die Krise des Finanzmarkt-Kapitalismus, die zur größten ökonomischen Erschütterung der Nachkriegszeit geführt hat, erhöht die Dringlichkeit des strategischen Wandels der Gewerkschaften. Trotz der Krisendiagnosen, die den deutschen Gewerkschaften seit über zwei Jahrzehnten ausgestellt werden, haben sie sich als erstaunlich zäh und überlebensfähig erwiesen. Dass es zu einem "Kapitalismus ohne Gewerkschaften" kommt, ist nicht zu erwarten.
Die weitere Entwicklung scheint nicht zuletzt davon abzuhängen, welche Schlussfolgerungen man aus dem Misslingen des Wettbewerbskorporatismus zieht. Hier zeichnen sich zwei Varianten ab:
Zugespitzt formuliert setzt die eine weiter auf die korporatistische Einbindung und hofft, auch in Krisenzeiten über die Nutzung verbliebener Ressourcen Einfluss auszuüben. Das Problem dieses Krisenkorporatismus ist seine mangelnde Absicherung, weil er vor allem auf der - jederzeit umkehrbaren - Offenheit der gesellschaftlichen Eliten und nicht auf eigener Stärke beruht. Da man sich unter die strategischen Erwägungen anderer Akteure einordnen muss, sind nicht nur die Vorbedingungen einer selbstbewussten Strategic Choice unerfüllt, sondern auch die gewährten Teilhabemöglichkeiten eher unverbindlich und situativ.
Die andere Variante setzt auf die Stärkung der Primär- und Organisationsmacht mit der Betonung von Organizing und Konfliktorientierung. Sofern sie nicht von krisenbedingten Lähmungserscheinungen geschwächt wird, deutet sich hier eine zukunftsträchtige, moderate Weiterentwicklung des überlieferten Modells an.
Die Krise hat gleichwohl auch dazu geführt, dass die Gewerkschaften die Grundlagen des Wirtschaftens wieder thematisieren und auch die Frage der Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft intensiver diskutieren.