Einleitung
Auch wenn die alte Bundesrepublik mit ihren Ballungsgebieten (Hamburg, Köln/Düsseldorf, München, Frankfurt/M. und West-Berlin) Mitte der 1980er Jahre von der Immunschwächekrankheit AIDS in viel geringerem Ausmaß betroffen war als die Metropolen der USA (allen voran New York, Chicago, Los Angeles und San Francisco), hatte das Sterben schwuler Männer traumatisierende Auswirkungen auf die große Mehrheit der Schwulen und Bisexuellen. Der Verlust enger Freunde, bei einigen fast des gesamten Freundeskreises, und die Unsicherheit über den eigenen Serostatus (HIV-positiv oder -negativ) rief Angst und sexuelle Depression hervor.
In dieser Situation erwies sich das Kondom als erleichtert aufgegriffener Angstbändiger. Mit ihm suchten viele Aktivisten der AIDS-Hilfen, und nicht nur diese, eigene Ängste und die ihres Umfeldes zu bannen. Das Kondom wurde so nicht nur zu einem Mittel, das Risiko von Neuinfektionen deutlich zu verringern, es bot gleichzeitig die Möglichkeit, aus dem Imperativ des "Safer Sex" einen Ausweg zum "Save Sex" zu suchen.
Auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise 1986 griff der Berliner Gesundheitswissenschaftler Rolf Rosenbrock in die Debatte über Strategien der Eindämmung der neuen Krankheit ein und gab der Diskussion eine Richtung, die schließlich maßgeblich werden sollte.
Rosenbrock betonte gleichfalls die Notwendigkeit, maximalistische Konzepte zu vermeiden: "(D)ie Zielgröße Null-Risiko (...) führt zu Resignation oder zu totalitären Wahngebilden." Im Rahmen des befürworteten pragmatischen Ansatzes bei der Prävention von HIV-Übertragungen auf sexuellem Wege postulierte der Gesundheitswissenschaftler, "dass der Erfolg von Versuchen der Beeinflussung des Sexualverhaltens u.a. davon abhängig ist, dass die geforderte Änderung des sexuellen Verhaltens möglichst gering ist und möglichst leicht in die gewohnte Lebenspraxis eingefügt werden kann." Die Überlegenheit der Wirksamkeit von Selbsthilfeaktivitäten gegenüber restriktiven staatlichen Interventionen gehörte zu einer zentralen Annahme in diesem Konzept. Alle damals diskutierten gesundheitspolizeilichen Maßnahmen wurden als kontraproduktiv eingestuft: "Etwas überspitzt (...) ließe sich sagen, dass das gesamtgesellschaftliche Klima auch einen Teil des Infektionsklimas ausmacht." Betont wurde schließlich die Notwendigkeit des Auseinanderhaltens subjektiver Vorstellungen vom "richtigen" Leben und erfolgreicher AIDS-Prävention: "Gesundheitspolitik, die in Wahrheit Sittenpolitik zu sein versucht, kann sich auf diesem Wege in ihr glattes Gegenteil verkehren."
Streit im aufklärungsorientierten Lager
Die engagierte Studie Rosenbrocks lieferte eine willkommene konzeptionelle Handlungsanleitung für die AIDS-Hilfen, die sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vehement gegen die Vertreter einer repressiven seuchenpolizeilichen Linie in der AIDS-Politik wehrten. In der alten Bundesrepublik wurde diese politisch vor allem repräsentiert durch CSU-Politiker wie Peter Gauweiler, publizistisch sekundiert von Spiegel-Journalisten wie Hans Halter
In Absetzung von unbefolgbaren Safer-Sex-Katalogen aus den USA und in Anlehnung an die von Rosenbrock formulierte Ablehnung maximalistischer Konzepte beschloss die Deutsche AIDS-Hilfe, die lange Liste von Geboten und Verboten durch wenige klare und knappe Empfehlungen zu ersetzen. Für die Hauptbetroffenengruppe homo- und bisexueller Männer lauteten sie: 1. bei Analverkehr ein Kondom benutzen; 2. kein Sperma in den Mund des Partners. Die Konzentration auf diese Empfehlungen wurde - ganz im Sinne einer "minimalistischen" Strategie - als notwendig empfunden, um nicht nur die Akzeptanz der Normen des Safer Sex zu erhöhen, sondern auch ihre praktische Umsetzung zu erleichtern. Während die AIDS-Hilfen (nicht zu Unrecht) darauf beharrten, dass ihre Präventionsempfehlungen eine "minimal invasive" Schutzstrategie seien, rief das Ansinnen eines generalisierten und "zeitstabilen" Kondomgebrauchs sofort Kritiker in der gay community und in der (west)deutschen Sexualwissenschaft auf den Plan. Schwule Publizisten wie Matthias Frings
Kennzeichnend für die Diskussionen in (West)Deutschland Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre war, und dies unterschied die Debatten deutlich von denen in Frankreich, Großbritannien und den Niederlanden, dass innerhalb des Lagers derer, die auf individuelle Selbstverantwortlichkeit setzten, sich noch einmal zwei Positionen gegenüberstanden. Eine Mehrheit befürwortete einen zunächst unhinterfragten generalisierten Kondomgebrauch, eine bedeutsame Minderheit warnte vor einer blinden "Kondomisierung". Clement unterschied in einem viel beachteten Vortrag im "aufklärungsorientiertem Lager" zwischen "Präventionsrationalisten" und "Triebrealisten": "Die 'Präventionsrationalisten' glauben an die vernunftgesteuerte Lenkbarkeit der Sexualität. Theoretisch gehen sie von einem kognitiven Lernmodell aus und von der vorpsychoanalytischen Annahme, dass das 'Ich Herr im eigenen Haus' sei. Die 'Triebrealisten' beharren auf der Widerständigkeit und dionysischen Unbelehrbarkeit des Triebes. Theoretisch sehen sie einen hohen Stellenwert unbewusster Motive, präventionspolitisch vertreten sie eine kritische Position zur Safer-Sex-Kampagne."
Liberaler Präventionskonsens
Nach einem Höhepunkt der registrierten HIV-Infektionen Mitte der 1980er Jahre stabilisierte sich deren Zahl, um dann zurückzugehen.
Vor dem Hintergrund der brutalen Verfolgung der Homosexuellen im "Dritten Reich" und angesichts des homosexuellenfeindlichen gesellschaftlichen Klimas der Adenauer-Zeit bestand in der liberalen Öffentlichkeit Einigkeit darüber, dass Vorsicht und Behutsamkeit in der AIDS-Politik dringend erforderlich seien. Hiervon profitierte neben der Hauptbetroffenengruppe der Schwulen auch die andere besonders betroffene Gruppe, die der Konsumentinnen und Konsumenten intravenös injizierter Drogen. Vor dem Hintergrund einer "großen Koalition" in der AIDS-Präventionspolitik, die sich Ende der 1980er Jahre durchsetzte und von liberalen CDU-Mitgliedern über die FDP und die SPD bis zu den Grünen reichte,
Waren während des Höhepunktes der AIDS-Krise die Zahl der Sexualpartner und die Frequenz anal-genitaler Kontakte bei homo- und bisexuellen Männern stark zurückgegangen, so erfolgte eine Zunahme von beiden wieder ab Anfang der 1990er Jahre.
Unabhängig von der wechselnden Parteizusammensetzung der Bundesregierungen seit 1990 (ebenso der Landesregierungen) wurde dieser auf Selbstverantwortung setzende Präventionsansatz weiter verfolgt. Der Erfolg der deutschen Präventionspolitik sei hier mit einer kurzen Zahlenreihe illustriert. Unter den postindustriellen westlichen Ländern ist die stärkste Ausbreitung von HIV in den USA und in der Schweiz zu beobachten: 0,6% der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahren sind in beiden Ländern von einer Infektion mit dem HI-Virus betroffen. In der gleichen Altersgruppe sind in Frankreich 0,4%, in Großbritannien 0,2% und in Deutschland 0,1% der Bevölkerung betroffen.
"Altes" und "neues" AIDS
Die seit 1996 verfügbaren antiretroviralen Kombinationstherapien bewirkten einen grundlegenden Wandel in der Situation der von HIV/AIDS betroffenen Menschen. In medizinischer Hinsicht waren jetzt therapeutische Interventionsmöglichkeiten gegeben, welche die wenigen vorher verfügbaren Mittel wie AZT (Azidothymidin) an positiver Wirkung weit übertrafen. Die Lebensqualität vieler Menschen mit AIDS verbesserte sich, und ihre Lebenserwartung stieg deutlich. Kündigte der Ausbruch des Vollbildes AIDS, ja selbst der Nachweis einer HIV-Infektion, für die meisten Betroffenen vor 1995 den nahen Tod an, so machten sich Ende der 1990er Jahre Menschen mit AIDS berechtigte Hoffnung auf viele weitere Lebensjahre. Die Kombinationstherapien machten AIDS zu einer behandelbaren chronischen Krankheit, wenngleich um den Preis einer Reihe von gravierenden Nebenwirkungen für viele Patienten.
Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Martin Dannecker führte vor diesem Hintergrund in die deutschsprachige Diskussion die Unterscheidung vom "alten" und vom "neuen" AIDS ein. Mit dieser Unterscheidung hebt er hervor, dass in den 1980er Jahren eine unmittelbare Verknüpfung von AIDS und nahem Tod gegeben war; diese werde seit der Einführung antiretroviraler (gegen ein Retrovirus gerichteter) Mittel von Vielen so nicht mehr wahrgenommen. Nur die unmittelbare Verknüpfung von HIV-Infektion und Todesdrohung habe die weitgehende Einhaltung von Safer Sex unter schwulen Männern bewirkt, eine deutliche Zunahme von ungeschützten Sexualkontakten sei daher unausweichlich.
Safer Sex auf dem Rückzug?
Dannecker hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass sich für einen bedeutsamen Anteil homosexueller Männer das Kondom trotz langjährigen Gebrauchs (als mehr oder weniger) störend beim Analverkehr erweise. Die bundesweiten Befragungen von MSM im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bestätigten dies.
Die Teilnahme am HIV-Antikörper-Test kann als weiteres Indiz für ein Risikobewusstsein homo- und bisexueller Männer seit den 1990er Jahre angesehen werden. Erst seit etwa 1996 folgen dank der antiretroviralen Medikamente aus einem positiven HIV-Test sinnvolle therapeutische Interventionen. Die Befragungen von MSM seit 1991 zeigen, dass der Anteil der Befragten, die einen HIV-Test haben machen lassen, zunimmt. Der Anteil der Männer, die sich häufiger als zweimal haben testen lassen, ist unter den Männern ab 25 Jahren in Großstädten mit mehr als 500000 Einwohnern von einem Viertel auf die Hälfte gestiegen.
Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission
Die Entwicklung von Routinen im Umgang mit AIDS - vor allem aber der Kontext des "neuen" AIDS - bewirkten in der nach wie vor in Deutschland von HIV/AIDS besonders betroffenen Gruppe der MSM eine zunehmende Verbreitung von Strategien der Risikominimierung, die nicht selten die alten Strategien der vermeintlichen Risikoeliminierung ablösten. Die dabei am meisten verbreitete Strategie ist die des "Serosorting": Darunter wird die Suche nach Sexualpartnern mit dem gleichen Serostatus (Testergebnis) verstanden, um bei Analverkehr vom Gebrauch des Kondoms absehen zu können. Dieser Strategiewandel (weniger der verantwortlichen Präventionsagenturen als der schwulen Männer selbst) ist nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern, in den USA, in Australien und Kanada zu beobachten.
Im Gegensatz dazu zog eine Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (EKAF) von 2008 besondere Aufmerksamkeit auf sich.
Die EKAF hatte ihre Empfehlungen zunächst vor allem im Hinblick auf Partner in Paarbeziehungen mit unterschiedlichem Testergebnis formuliert. Geradezu sensationell für den deutschen medizinischen Diskurs war, dass Ärzte und Präventionsakteure den Mut zu solch einer "starken" öffentlichen Empfehlung fanden. Im Empfinden vieler (behandelter) Positiver wurde ihnen endlich das Stigma genommen, eine permanent bedrohliche Infektionsquelle zu sein.
"Zunehmende Sorglosigkeit" oder anhaltende Medizinergläubigkeit?
Diskutiert wird inzwischen die Frage, ob sich in absehbarer Zeit (vor allem) in den großstädtischen Schwulenszenen das Bewusstsein durchsetzen wird, dass eine Viruslast unter der Nachweisgrenze bei HIV-Infizierten viel bedeutsamer ist als der generalisierte Gebrauch des Kondoms, auch bei Sexkontakten außerhalb von Paarbeziehungen. Die EKAF-Schlussfolgerungen werden gegenwärtig weder im deutschen Mediziner-Establishment noch bei den leitenden Akteuren der AIDS-Prävention uneingeschränkt akzeptiert. Dass neun Zehntel der über 8000 in Deutschland befragten MSM sich 2007 noch sehr skeptisch zur Nichtinfektiosität von antiretroviral behandelten Positiven äußern, lässt auf ein großes Vertrauen in "konservativ" argumentierende Mediziner schließen. Abzuwarten bleibt, wie sich diese Haltung entwickeln wird. Von abrupten Einstellungsänderungen ist allerdings nicht auszugehen.
Die anhaltende Vorsicht unter homosexuellen Männern scheint die immer wieder vorgebrachte Behauptung zu widerlegen, es mache sich unter ihnen "zunehmende Sorglosigkeit" breit. Vor dem Hintergrund der seit 2002 vom Robert Koch-Institut (RKI) beobachteten Zunahme von registrierten HIV-Infektionen vor allem unter MSM wurde in unterschiedlichsten Zusammenhängen ein wachsendes Risikoverhalten in dieser Gruppe vermutet. Die Behauptung "zunehmender Sorglosigkeit" von MSM (oder generell von jungen Erwachsenen) wurde nicht nur von Vertretern der AIDS-Hilfen mehrfach geäußert, sondern vor allem auch in der Boulevardpresse kolportiert.
Die empirische Evidenz, die aus den in Deutschland bislang erhobenen Daten abgeleitet werden kann, bestätigt die These von der "zunehmenden Sorglosigkeit" vorerst nicht. Die fachlich zuständigen Epidemiologen des RKI schlagen - traditionell vorsichtig formulierend - eine sehr differenzierte Interpretation der ihnen zugänglichen Informationen vor. Als "wahrscheinlichste Deutung" der vorliegenden Daten gilt für sie, "dass sich die Zunahme der neudiagnostizierten HIV-Infektionen zu einem kleineren Anteil aus vermehrter Testdurchführung und zum größeren Teil aus einer tatsächlichen Zunahme von Neuinfektionen zusammensetzt". Die Zunahme der Neuinfektionen wiederum kommt nach Einschätzung der RKI-Epidemiologen
Safer Sex: Quo vadis?
Ob sich die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland inzwischen stabilisiert hat oder weiter zunimmt, kann gegenwärtig nicht beurteilt werden.
Wenig hilfreich wären in dieser Situation Versuche, von homosexuellen Männern wieder strikte "Safer-Sex-Compliance", die gleichgesetzt wird mit "Kondom-Compliance", zu verlangen. Erfolgversprechender dürften massenmediale und personalkommunikative Interventionen sein, die homo- und bisexuellen Männern bei ihren Risikominderungsstrategien helfen, fatale Irrtümer zu vermeiden und illusionäre Verkennungen zu durchschauen. Trotz der mit der erfolgreichen Behandlung der HIV-Infektionen einhergehenden primärpräventiven Effekte bedarf es auch weiterhin einer auf individuelle Lernstrategien setzenden und gesellschaftliche Rahmenbedingungen beachtenden Prävention, wie sie Rosenbrock schon 1986 gefordert hat.
Ausblick
Eine solche Prävention benötigt nicht nur intelligente Konzepte, sondern auch hinreichende materielle und personelle Ressourcen, um sie sowohl in den großstädtischen Ballungsgebieten mit Schwulenszenen wie auch in den virtuellen Welten des Internets, die sich in den vergangenen zehn Jahren rasant entwickelt haben, umzusetzen. Zu einer langfristig angelegten Präventionsarbeit gehört, dies nicht nur den Verantwortlichen in den Kommunen, Ländern und auf Bundesebene, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit deutlich zu machen.
Die gegenwärtig auf allen Ebenen diskutierten Sparprogramme, vor allem auch im Gesundheitsbereich, stimmen in dieser Hinsicht nicht optimistisch. Sozioökonomische und soziokulturelle Rahmenbedingungen, die einen hedonistischen Individualismus und Egoismus forcieren und Ansätze zu kollektivem Handeln und gemeinschaftlicher Solidarität entmutigen, lassen zukünftige anspruchsvolle und breit ansetzende Programme wenig wahrscheinlich erscheinen. Es bleibt abzuwarten, ob die gay community auf diese Entwicklung ähnlich phantasievoll und innovativ reagiert, wie sie es in der AIDS-Krise der 1980er Jahre vermocht hat.