Einleitung
Bloß die Schwulen", sagt Walter, "die haben wir vergessen." Pessimistisch blickt der von Werner Dissel gespielte ältere Mann in die deutsche Zeitgeschichte der Homosexualitäten zurück. Dabei sitzt er in einem (Ost-)Berliner Lokal vor einem Tisch mit leeren Weinbrandgläsern, während im Hintergrund das lesbischwule Nachtleben gefeiert wird. Die historiografische Schlüsselszene aus Heiner Carows Film "Coming Out" (DDR, 1989) wirft ein resignierendes, aber nicht verzweifeltes Licht auf die Fortschrittshoffnungen, die der männerliebende Mann nach den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten in das demokratische Deutschland gesetzt hatte. Auch heute noch, sagen seine etwas müden Augen dem ihm gegenübersitzenden jungen Lehrer Philipp, zieht der Verstoß gegen die heteronormative Ordnung Strafen und Kummer nach sich.
Hat sich die Lage gleichgeschlechtlich liebender Menschen in Deutschland zwischen 1945 und 1989 tatsächlich nicht verbessert? Oder zunächst weniger wertend gefragt: Wie veränderten sich die Lebensweisen homosexueller Menschen und ihr Umfeld in dieser Zeit?
Intimsphären, Halböffentlichkeiten und Repressionen
Bereits die Begrifflichkeit verweist auf einen Wandel. Während das Adjektiv "homosexuell" in den 1950er Jahren eng mit medizinischen, psychologischen und kriminologischen Diskursen über Devianz und Perversion verknüpft war,
Ähnliches galt für die homophilen Männer. Für sie bestimmte Zeitschriften wie "Der Weg zu Freundschaft und Toleranz" aus Hamburg oder "Der Kreis" aus Zürich konnten sich jedoch im Westen über mehrere Jahre etablieren. Außerdem gab es überwiegend von Männern getragene Organisationen wie den "Verein für humanitäre Lebensgestaltung" in Frankfurt am Main, die mittels wissenschaftlicher Überzeugungsarbeit die gesellschaftliche Ablehnung der Homosexualität in Toleranz verwandeln wollten. Diesem Ziel und dem homophilen Geist der Zeit entsprachen das Leitbild der nicht-sexuellen Kameradschaft sowie die ästhetische und theoretische Überhöhung zwischenmännlicher Intimität.
In der Bundesrepublik erreichte die staatliche Repression um 1960 einen Höhepunkt, und viele Verlage und Vereine mussten ihre Arbeit einstellen. Zudem zwang die Strafbarkeit sexueller Handlungen zwischen Männern diese zur Vorsicht und ins Verborgene. Ein Großteil des häufig anonymen zwischenmännlichen Sexuallebens spielte sich im Halbdunkel öffentlicher Toiletten ab. Rund 45000 Personen wurden zwischen 1950 und 1965 im Westen nach §175 StGB verurteilt.
Entkriminalisierung des zwischenmännlichen Geschlechtsverkehrs
Dieser aus dem Jahr 1872 stammende Strafrechtsparagraf hing wie ein Damoklesschwert über der Geschichte der Homosexualitäten in Deutschland. Im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung war er 1935 verschärft und ausgeweitet worden. Die Justiz der DDR kehrte nach dem Krieg zur etwas milderen Weimarer Version zurück. Nach 1957 wurden homosexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern im Osten kaum noch bestraft, und 1968 strich man den §175 aus dem Strafrecht. Lediglich das sogenannte Schutzalter lag für gleichgeschlechtlichen Sex weiterhin höher als für gegengeschlechtlichen. 1988 schaffte die letzte unfrei gewählte Volkskammer auch diese Unterscheidung ab und setzte damit die juristische Gleichbehandlung von Homo- und Heterosexualität durch.
Die westdeutschen Behörden hielten dagegen zunächst an der Fassung aus dem "Dritten Reich" fest. Beschwerden dagegen wiesen das Bundesverfassungsgericht 1957 und die Bundesregierung unter Konrad Adenauer 1962 zurück. Dabei verwiesen sie - ganz im Stil der repressiven Atmosphäre jener Jahre - auf christliche Normen und die Notwendigkeit, die "gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke" zu schützen.
Schwulenbewegung, Coming-Out und AIDS
Die Liberalisierung des Rechts trug mit dazu bei, dass sich das Selbstverständnis und die Organisationsformen homosexueller Männer nach 1970 grundlegend veränderten. Ein weiterer wichtiger Anstoß kam aus den USA, wo sich nach einem Aufstand gegen polizeiliche Repressionen - den New Yorker Stonewall-Unruhen von 1969 - die lesbischwule Bürgerrechtsbewegung formierte, die als eine Art Vorbild die westeuropäischen Entwicklungen der 1970er Jahre prägte. Entscheidend war außerdem der oft unter dem Kürzel "1968" zusammengefasste gesamtgesellschaftliche Wandel, der auch neue Formen des Umgangs mit den Homosexualitäten mit sich brachte. In den späten 1960er Jahren fanden sich - häufig im Umkreis der Studierendenbewegung - Gruppen zusammen, aus denen sich später die Schwulenbewegung entwickelte.
Deren Akteure re-interpretierten das bisher meist abwertend gemeinte Wort "schwul" als Grundlage einer positiv besetzten Identität, die sie offen nach außen zeigten.
Ein anderer wichtiger Streitpunkt war die Frage, inwiefern und wie sehr man die eigene Andersartigkeit betonen und nach außen präsentieren sollte. Dabei spielte die bewusste Distanzierung von den Homophilen der 1950er und 1960er Jahre eine entscheidende Rolle.
Allerdings bestand nicht immer Einigkeit darüber, wie weit das Sich-Zeigen gehen sollte. 1973 löste diese Frage den Berliner "Tuntenstreit" aus.
Einen katastrophalen Einschnitt bedeutete in den 1980er Jahren das Auftreten der Immunschwächekrankheit AIDS. Die Trauer über den Tod von Freunden und der Wille zu überleben bestimmten den Alltag vieler männerliebender Männer. Zugleich schürten extreme Forderungen - wie etwa die des CSU-Politikers Peter Gauweiler nach Internierung aller infizierten Homosexuellen - Ängste vor kollektiver Diskriminierung. Im Rückblick kann man jedoch feststellen, dass die Debatten über AIDS und den Umgang mit der Krankheit sich eher in die entgegengesetzte Richtung auswirkten. Selbsthilfe-Vereine und Organisationen wie die Deutsche AIDS-Hilfe wurden gegründet und machten Homosexualität in neuer Weise und in bisher ungekanntem Umfang zum öffentlichen Thema. Sie trugen damit zur Professionalisierung der Schwulenbewegung bei. Zugleich intensivierte die zunehmende Förderung schwuler Organisationen durch staatliche Gelder und private Spenden deren offizielle und gesellschaftliche Anerkennung.
Die zweite Frauen- und die Lesbenbewegung
Die Geschichte der zwischenfraulichen Homosexualitäten in der Bundesrepublik verlief nach 1970 weitgehend in anderen Bahnen als jene der Schwulenbewegung. Zwar arbeiteten einige Lesben Anfang der 1970er Jahre mit schwulen Gruppen zusammen, beispielsweise in der Frauengruppe bei der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW), die 1972 das erste Lesbenpfingsttreffen organisierte und damit eine wichtige Veranstaltungsreihe begründete. Allerdings kam es Mitte der 1970er Jahre zum Bruch zwischen den Männern und den Frauen der HAW, woraufhin letztere ihre Arbeit als Lesbisches Aktionszentrum (LAZ) fortsetzten.
Diese Bezeichnung verweist darauf, dass frauenliebende Frauen in den 1970er Jahren mit den Lebensweisen und dem Sich-Verbergen der 1950er und 1960er Jahre brachen. Den entscheidenden Kontext, innerhalb dessen sie neue Modi der Intimität zwischen Frauen und alternative Organisationsformen entwickelten, bildete die zweite Frauenbewegung. 1972 initiierten lesbische Teilnehmerinnen am Frankfurter Weiberrat eine Debatte über die Diskriminierung homosexueller Frauen. In den folgenden Jahren entstanden Zeitschriften wie die "ukz - unsere kleine Zeitung" oder die "Lesbenpresse". Zudem kam es in mehreren Städten zur Gründung lesbisch-feministischer Gruppen.
Feministische Räume wie Frauenbuchläden und Frauenhäuser boten lesbischen Frauen in den 1970er und frühen 1980er Jahren die Möglichkeit, sich zu vernetzen und auf ihre Belange und ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Dabei verwies das Wort "lesbisch" im feministischen Kontext nicht nur auf die Liebe zwischen Frauen, sondern als politisierte Geschlechtsidentität auch auf das Streben nach einem frauenbezogenen Leben in Unabhängigkeit von der männlich dominierten Gesellschaft.
Unabhängig von diesen Diskrepanzen haben die Frauen- und die Lesbenbewegung zusammen mit fundamentalen Veränderungen im Geschlechterverhältnis auch einen Wandel in der Lebensweise und im Selbstverständnis frauenliebender Frauen bewirkt. Dieser spiegelte sich, ähnlich wie bei den Schwulen, in neuen Formen des Umgangs mit Homosexualität wider. Auch für lesbische Frauen wurde das Coming-Out, das bewusste Sich-Zeigen, zum biografischen Meilenstein. Gleichsam eine Vorlage für diesen Schritt lieferte Angelina Maccarones Film "Kommt Mausi raus?", der 1995 zur besten Sendezeit in der ARD zu sehen war. Diese und frühere Publikationen zu lesbischen Themen, wie die 1974 ausgestrahlte WDR-Dokumentation über die Berliner HAW-Frauengruppe,
Lesben und Schwule in der DDR zwischen Kontrolle und Bewegung
Ähnliche Prozesse veränderten nach 1970 auch die Situation homosexueller Frauen und Männer im östlichen Deutschland, obschon sehr allmählich und aufgrund staatlicher Repressionen nicht ohne Rückschläge. Eine meist auf wenige Cafés und Lokale beschränkte Subkultur hatte es in mehreren ostdeutschen Städten bereits zuvor gegeben.
Den ersten Versuch in dieser Richtung unternahm 1973 die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB). Wichtige Anregungen für die Gründung dieses Netzwerks lieferten Rosa von Praunheims Film aus dem Jahr 1972 und ein Vortrag über Homosexualität in der (Ost-)Berliner Stadtbibliothek.
In den 1980er Jahren kam es trotzdem zur Gründung weiterer lesbischwuler Gruppen, entweder unter dem Dach der evangelischen Kirche oder im Umfeld staatlicher Organisationen und Einrichtungen.
Parallel dazu wandelte sich in den 1980er Jahren die gesellschaftliche Wahrnehmung der Homosexualitäten. Darauf verweisen die zunehmenden und wohlwollenden Erwähnungen des Themas in verschiedenen Zeitschriften
Resümee und Ausblick
Nach dem Mauerfall am 9. November 1989, dem Tag der Uraufführung von Heiner Carows "Coming Out" im (Ost-)Berliner "Kino International", griffen die west- und die ostdeutsche Geschichte der Homosexualitäten eng ineinander. Die Debatten und Tendenzen der vergangenen zwanzig Jahre können hier nur kurz skizziert werden: Zunächst begannen Lesben und Schwule - dem ostdeutschen Vorbild folgend - stärker zu kooperieren. Als lesbischwule Bürgerrechtsbewegung forderten sie in den 1990er Jahren die Gleichstellung homosexueller Lebensweisen. Ein prominentes Ergebnis dieser Politik war das Lebenspartnerschaftsgesetz von 2001, das die sogenannte Homo-Ehe ermöglichte und zugleich Debatten über "Regenbogenfamilien" beflügelte. In diesem Kontext kam es zum Streit darüber, ob diese Entwicklung als Errungenschaft zu begrüßen oder als Anpassung an heterosexuelle Beziehungsmuster abzulehnen sei, und zum Wiederaufflammen des Konflikts zwischen denen, die sich um Integration bemühten, und denen, die ihre Andersartigkeit betonten. Auch das Mischungsverhältnis von politischem Engagement und Szenetreiben - Stichwort Hedonisierung - wurde erneut diskutiert.
Wenn man auf das eingangs über die 1950er und 1960er Jahre Gesagte zurückblickt, bleiben wenig Zweifel daran, dass sich die Lebensweisen homosexueller Menschen und ihr Umfeld in den vergangenen sechzig Jahren grundlegend verändert haben. Die Zeitgeschichte der Homosexualitäten in Deutschland weist dabei zwei besonders interessante Aspekte auf. Zum einen war sie geprägt von einem Dialog zwischen Ost und West, der die oft allzu eindeutig gezogene Grenze zwischen der "vorbildlichen" Bundesrepublik und der "defizitären" DDR unterläuft. Zum anderen fügt sie sich nicht in eine kontinuierliche Fortschrittserzählung. Zwar verbesserte die Entkriminalisierung der Homosexualitäten und die auch jenseits des Strafrechts wirksamen, liberalisierenden und emanzipatorischen Prozesse die Situation männerliebender Männer und frauenliebender Frauen. Aber diese Entwicklungen setzten mitnichten 1945, sondern erst um 1970 ein, also nach einer langen, von Repressionen geprägten Phase der Nachkriegszeit.
Die Zäsur der 1970er Jahre sollte allerdings den Blick auf die Zeit davor nicht über Gebühr verdunkeln. Die Entgegensetzung der früheren Periode gleichsam als Zeit der bloßen Unfreiheit und der schwulen- und frauenbewegten Jahre nach 1970 als Phase der umfassenden Befreiung wird der Geschichte der Homosexualitäten nicht gerecht. Vor allem unterschlägt sie die Handlungsspielräume, die sich "Homophile" und "Freundinnen" in den 1950er und 1960er Jahren schufen, sowie deren positive Erfahrungen in jener Zeit. Deswegen sollte man allzu plakative Gegensätze meiden und stattdessen darauf achten, wie sich in je spezifischen historischen Situationen unterschiedliche homosexuelle Lebensweisen entwickelten. Diese waren einerseits von je besonderen Vorgaben und Zwängen geprägt, räumten den Akteuren aber andererseits immer auch Gestaltungsmöglichkeiten ein. Diese Ambivalenz zwischen emanzipatorischen Bemühungen und der Beharrlichkeit heteronormativer Ordnungsmuster prägt bis heute die Situation der Homosexualitäten.