Einleitung
In Deutschland beherrscht der Rekonstruktionsboom viele Städte und die Frage nach den Gründen dominiert zunehmend die Überlegungen zu historischen Wiederherstellungen. Untersucht man verschiedene Rekonstruktionssituationen, zeigen sich neben stadtspezifischen Gründen durchaus gemeinsame Überlegungen und Strategien, warum historische, meist Stadtsituationen des Barock oder der Renaissance rekonstruiert werden.
Frauenkirche im Dresdner Mythos
Ein vielen Städten gemeinsamer Faktor für die Entscheidung zur Rekonstruktion ist deren Bedeutung für das erwählte oder angestrebte Stadtimage und Stadtmarketing. Nachweislich sind seit 2005, dem Jahr der Weihung der rekonstruierten Frauenkirche, die marketingrelevanten Zahlen Dresdens erheblich gesteigert worden.
Entsprechend der Marketingstrategie Dresdens wird bereits seit 2002 die Wiederbelebung des sogenannten Mythos Dresden angestrebt.
Untersucht man die gängigen Postkartenmotive seit der Zerstörung der Frauenkirche bei Fliegerangriffe britischer Bomber am 13. und 14. Februar 1945, wird deutlich, dass immer dann die Sehnsucht nach einem Wiederaufbau ausgedrückt wurde, wenn sich zugleich auf die historische Stadt und ihre Baukunst sowie ihre einzigartige landschaftliche Lage, also auf den Mythos Dresden, bezogen wurde. Die nach den Bereinigungsarbeiten der Nachkriegszeit noch vorhandenen Trümmer der Frauenkirche wurden 1966 von der DDR zum Denkmal erklärt. Dieser Status und die auf die Trümmer gepflanzte Rosendecke verhinderten weitgehend den Verlust weiterer Steine. Die Sehnsucht nach der Wiedererrichtung und letztlich der Schritt dazu sind Ausdruck des Wunsches nach der Wiederbelebung des Mythos Dresden und damit einer zielgerichteten Imagebildung.
Die Frage, warum gerade der Mythos Dresden als aktiver Teil des Stadtimages vermarktet wird, erklärt sich durch seine Wirkmächtigkeit, die sich an der bereits erwähnten Steigerung der Marketingstatistik
Frankfurt am Main baut auf
... Dresden. Der Dresden-Effekt lässt sich in Frankfurt als einer der Gründe oder Motoren der Altstadtrekonstruktion nachweisen. Bereits der Fund von Fassadenteilen der Frankfurter Altstadt 2004 hätte Auslöser der Rekonstruktionsdebatte sein können. Tatsache aber ist, dass die Rekonstruktion der Frankfurter Altstadt erst nach der Weihe der Frauenkirche zunehmend forciert wurde. Zwar gab es bereits im August die Forderung des in der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung vertretenen Bürgerbündnisses für Frankfurt (BFF), in historisch angemessener Form zu bauen, allerdings war damit die Wahrung des historischen Stadtgrundrisses gemeint und nicht eine komplette Rekonstruktion der Altstadt. Erst zeitgleich mit der Weihe der Frauenkirche im Oktober 2005 wurde von den Altstadtfreunden Frankfurts das Bürgerbegehren Frankfurter Altstadt initiiert.
Die bewusste Orientierung der Mainmetropole an Dresden wird in vielen weiteren Details der Diskussion deutlich, beispielsweise in einer zweitägigen Informationsreise von Stadtverordneten nach Dresden, um dort am Beispiel des Neumarkts Anregungen für die Entscheidung über die Neugestaltung des Areals zwischen dem Rathaus am Römerberg und dem Dom zu gewinnen.
Es ist eindeutig, dass durch das von der "Welt" plakativ betitelte "Dresdener Wagnis"
Und was wollen die Bürger?
Ist es tatsächlich im Sinne der Bevölkerung, unsere Städte zu rekonstruieren? Warum brauchen Bürgerinnen und Bürger rekonstruierte Geschichte? Ist der Bürgerwille so mächtig, dass er Rekonstruktionen erzwingt?
Der Kunsthistoriker Matthias Donath schreibt von Protesten einer breiten Öffentlichkeit unter Mitwirkung von Bürgervereinen und Initiativen, die sich für die Erhaltung von bestimmten Elementen des 19. und 20. Jahrhunderts engagieren und damit die Richtung, was ästhetisch und zu erhalten ist, vorgeben.
1989 wurde der "Ruf aus Dresden" von einer Gruppe Intellektueller verfasst, die damit zum Wiederaufbau der Frauenkirche aufriefen. Anfangs war diese Gruppe eine Bürgerinitiative, aus der ein Förderverein (Gesellschaft zur Förderung des Wiederaufbaus der Frauenkirche Dresden) und schließlich die Stiftung Frauenkirche e.V. hervorging. Die zentrale Aufgabe dieser Stiftung war es, ein Drittel der gesamten Bausumme als Spendengelder anzuwerben, worin der Hauptverdienst der ursprünglichen Bürgerinitiative liegt. Zwar hat sie mit dem Ruf aus Dresden den Anstoß zur Rekonstruktion gegeben, aber als Projekt tatsächlich durchgesetzt wurde es allein aufgrund dieser Bürgerbewegung nicht.
Die Bürgerinitiative in Frankfurt hat einen vollkommen anderen Charakter. Zwar ist die Ausgangsforderung nach einer Rekonstruktion dieselbe, doch hat die Bürgervereinigung dort eine politische Funktion beziehungsweise als angeblicher Spiegel der Bevölkerungsmeinung einen politischen Einfluss. Die vermeintlichen Interessen der Bürger werden öffentlich hauptsächlich über die Bürgerinitiative Pro Altstadt vertreten, die sich auch Altstadtfreunde nennt. Allerdings sind einige Mitglieder dieser Initiative im BFF vertreten, das Sitze im Magistrat innehat, also politisch tätig ist. Die Bürgervereinigung in Frankfurt tritt für die Interessen einer kleinen Gemeinschaft ein, die es geschafft hat, den Wunsch nach der Rekonstruktion der historischen Altstadt politisch durchzusetzen. Der zeitgenössische Siegerentwurf eines Architekturwettbewerbs von Ende 2005 für das Areal wurde von der Bürgerinitiative erfolgreich abgelehnt. Sie forderte im Magistrat, stattdessen auf der Grundlage des historischen Quartiersgrundrisses das Areal nicht nur im historischen Maßstab, sondern mit historischen Fassaden mit entsprechender Handwerkstechnik wieder aufzubauen. Dass sie sich damit vorerst durchgesetzt hat, ist auf eine günstige politische Konstellation der Parteien und Magistratsmitglieder und die finanzielle Planung beziehungsweise Investitionsabsicht der Stadt zurückzuführen.
Sich wandelndes Geschichtsbewusstsein
Die Bestrebungen der Bürgerinitiativen zum historischen Wiederaufbau treffen zum Teil auf fruchtbaren Boden. Besonders in Dresden lagen bereits vor dem offiziellen Ende des Zweiten Weltkriegs im Stadtbauamt Bürgerwünsche zum Wiederaufbau der historischen Monumente vor, bei gleichzeitig herrschender Wohnungsnot. Ist also das Bedürfnis nach Geschichte ein Grund für Rekonstruktionen?
Der kulturelle Erinnerungsspeicher wurde von der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann
Mit der Frage, was wir erinnern wollen, und mit der Suche nach dem Inhalt der Identitätsvergewisserung hat sich der Historiker Karl Heinz Bohrer Anfang des neuen Jahrtausends intensiv beschäftigt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer radikalen Verkürzung der deutschen Geschichte, die sich hauptsächlich auf den Holocaust reduziere. Verbunden mit dieser "Erinnerungsstörung" sei der Verlust der deutschen Nationalgeschichte. Er spricht von einem Erinnern des Einen und dem Vergessen des Vielen. Aus dem deutschen Geschichtsdenken seien die Epochen zwischen der Reformation und der Französischen Revolution verschwunden, ebenso das Mittelalter.
Rekonstruktion der Identität
Bedenkt man, dass die Geschichte im (gesellschaftlichen) Gedächtnis als Teil des öffentlichen Lebens und Bewusstseins gemeinsamer emotionaler Bezugspunkt einer Nation ist, so wird deutlich, warum sich so viele Bürger in die Debatten für oder wider Rekonstruktionen einschalten. Assmann formuliert es als ein Bedürfnis zur Mitgestaltung von Geschichte im Gedächtnis. Die Beteiligung an den entsprechenden Diskussionen und der Zuspruch zu historischen Rekonstruktionen drücken den Wunsch aus, den durch die stetige Modernisierung bedingten ständigen Veränderungen eine Konstante entgegenzusetzen. Architektur als die am meisten öffentliche Kunst ist in besonderem Maß dazu geeignet, Konstantes, konkreter Historisches oder, wenn dieses nicht verfügbar ist, vermeintlich Historisches in Form einer Rekonstruktion im öffentlichen Lebensraum zu erhalten, denn urbane Bausubstanzen sind als "verräumlichte Geschichte" oder als "gebauter Geschichtsspeicher"
Architekturen sind Erinnerungsmedien, die emotionale Werte tradieren, die dem kollektiven Kulturgedächtnis angehören. Sie bilden die Grundlage einer kulturellen Gesellschaft und sind notwendige Faktoren, um Identität zu stiften. Identität dient als Konstante, um die sich die notwendigen Grundbedürfnisse Erinnern und Erleben entwickeln lassen. Die "Geschichte und ihre architektonischen und städtebaulichen Momente bilden damit eine wesentliche Dimension, in der eine demokratische Nation ihr Selbstbild konstruiert und sich der eigenen Identität vergewissert"
"Jede Generation teilt gewisse Grunderfahrungen, Deutungsmuster und Obsessionen, sie verkörpert damit einen jeweils anderen Blick auf die Geschichte."
Einheitliche Wertebestätigung mit Hilfe der Medien?
Erstaunlich ist, dass trotz verschiedener Generationen mit vermeintlich unterschiedlichen Werten offensichtlich früher oder später eine Einigkeit hinsichtlich einer Rekonstruktion erzielt werden kann: Wurde der Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche anfangs heftig diskutiert, gab es nach der Weihe keine lautstarken Gegner mehr. Untersucht man die seit 1996 bis 2005 immer wieder veröffentlichten Meinungsbilder und Umfragen aller überregionalen Tageszeitungen, so lässt sich eindeutig ein Trend ablesen: Die frühen Artikel sind sachlich, dokumentieren die Hochbauarbeiten und werden begleitet von sachlichen Berichten zu Entscheidungen und Veranstaltungen. Daran schließt sich eine kritische und immer hitziger werdende Auseinandersetzung über die Wiederherstellbarkeit historischer Monumente und die Rolle der Denkmalpflege an. Einige weitere Kontroversen ergänzen den kritischen Blick, der, mit Näherrücken der Weihe, durch überschwängliche Berichterstattungen und von Würdigungen der baulichen Leistung ersetzt wurde. Die Rede ist nun vom "Dresdner Wagnis", "schwebenden Wunder", "Traum aus Stein" und "Glücksfall"
Dass diese Feststellung anscheinend zutreffend ist, belegt eine Umfrage von 2004
Nach Assmann muss eine Architektur, über deren Rekonstruktion nachgedacht wird, in den verschiedenen, zeitgleich existierenden Generationen in ihrer Wertigkeit bestätigt werden, d.h. sie muss für die Identität eines Großteils der jeweiligen Generation von Bedeutung sein. Medien können auf Grund ihrer Breitenwirkung die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit eines Bauwerks für die eigene Stadtgeschichte, Identität oder das kollektive Miteinander überzeugen. An den Beispielen von Frankfurt und Dresden lassen sich sehr gut mögliche Strategien darstellen:
Unter der Schlagzeile "Die Neue Römerzeile passt auch ins Wohnzimmer"
Andere Angebote dieser Art, die medial begleitet werden, sind zum Beispiel Stadtfeste. So fand in Dresden 2006 die 800-Jahr-Feier statt. In deren Rahmen sollte ursprünglich die Weihung der Frauenkirche stattfinden, die Rekonstruktion war aber bereits ein Jahr früher als geplant abgeschlossen. Die Verbindung beider Feiern hätte ein immenses Identifikationspotential gehabt, das sich nun etwas abgeschwächt dennoch bot: Die Frauenkirche und insbesondere der gelungene Wiederaufbau wurden im Festumzug entsprechend gewürdigt; von den Hunderttausenden Zuschauern konnten wichtige Stationen ihrer Geschichte - Modell für die geplante Barockkirche - Originalbau - Zerstörung - Rekonstruktion nachvollzogen werden, alles vor der Kulisse des nun erfolgten Wiederaufbaus. Den Generationen, welche die Frauenkirche nicht mehr im Original kennen, wurde so die Möglichkeit zur Identifikation gegeben - solche Aktionen schaffen persönliche Erinnerungspunkte, die eine Wertebestätigung der Objekte ermöglichen.
Diese Form der Angebote und entsprechende Berichterstattungen lassen es denkbar erscheinen, dass der Wunsch vieler Bürger nach rekonstruierter Architektur als Teil des realen Alltags wächst. Medien erzeugen Visionen und Wunschbilder, die in gebaute Realitäten, Rekonstruktionen, gipfeln können.
Selektierte Bilderwelten
Medien haben damit die Macht die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen - zunächst als Vision oder Bild. Zugleich können neue Bilder erzeugt werden, indem man Elemente der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kombiniert. Die Gleichzeitigkeit verschiedener, historisch ungleichzeitiger Situationen wird dadurch ermöglicht.
Besonders in der Werbung wird diese Fähigkeit immer wieder deutlich: In Dresden auf der Prager Straße, vor dem Centrum-Warenhaus (damals Karstadt; inzwischen abgerissen), befand sich im Juni 2006 eine Plakatwerbung der Sparkasse mit dem Titel "Königliche Zinsen". Das Paradoxe an der Situation war die zeitgleiche Präsenz der 1960er Jahre und des Heute durch den Straßenraum der Prager Straße, der endenden 1970er Jahre symbolisiert durch das Centrum-Warenhaus, der 1990er Jahre oder Gegenwart durch den Schriftzug "Karstadt" auf der Fassade, kombiniert mit der Szene auf dem Plakat: vor dem Zwinger steht ein mit barocker Kleidung und Frisur dargestelltes Paar, das wohl dem Dresdner Augusteischen Adel angehören soll. Noch grotesker wirkt diese Kombination durch eine auf dem Plakat im Hintergrund zu sehende Touristin, die diese barocke Szene fotografiert. Der auf dem Foto deutlich hervorstechende Hinweis auf das Dresdner Stadtfest verstärkt die Akkumulation von Zeitzuständen noch, verweist er doch auf ein in der Zukunft liegendes Ereignis.
Dieses Beispiel zeigt, wie willkürlich durch den Einsatz von Medien verschiedene historische Epochen kombiniert werden können, um die gewünschte Bild- oder Werbeaussage "Königliche Zinsen" zu erreichen. Es kann davon ausgegangen werden, dass durch das Erzeugen solcher Bildkompositionen bestimmte Erwartungshaltungen an das heutige Stadtbild geschürt werden, beziehungsweise sie dazu beitragen, dass jenes nicht mehr kritisch betrachtet wird. Die Möglichkeit einer virtuosen Kombination von zuvor historisch nicht zu Vereinbarendem wird gezeigt - was spricht dann noch gegen ein entsprechend virtuos aus verschiedenen historischen Stilen zusammenrekonstruiertes, inszeniertes Stadtbild?