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Stadt, Solidarität und Toleranz | Stadtentwicklung | bpb.de

Stadtentwicklung Editorial Die Zukunft der Städte Stadt, Solidarität und Toleranz Heimischsein, Übernachten und Residieren - wie das Wohnen die Stadt verändert Rekonstruktion! Warum? Gentrifizierung im 21. Jahrhundert Auf Angst gebaut

Stadt, Solidarität und Toleranz

Sophie Wolfrum

/ 16 Minuten zu lesen

Bis in die Moderne war die öffentliche Sphäre diejenige, in der sich der Mensch entfalten und an der Welt teilhaben konnte. Selbsterschaffung wird heute dagegen in der Sphäre des Privaten gesehen. Die Auswirkungen auf das Verständnis von Urbanität sind Gegenstand einer Politik des Städtischen.

Einleitung

Gibt es eine Krise des öffentlichen Raums? Oder leiden wir an Verlustängsten, wie oft, wenn sich etwas Vertrautes ändert? Ändert sich die Definition, die Wahrnehmung oder die Praxis? Ich werde nicht alle Fragen beantworten können, mit denen wir heute konfrontiert sind. Auch werde ich in der Argumentation ausholen, um zu ihrem Kern zu kommen: Wir erleben einen Paradigmenwechsel in der Bewertung des Öffentlichen und Privaten, der große Folgen für die Städte hat.

Die Grenzen zwischen dem Öffentlichen und Privaten waren nie statisch, auch die Inhalte beider Sphären verändern sich ständig. Es gibt keinen über Epochen und verschiedene Kulturen hinwegreichenden allgemeingültigen Katalog, der festlegen könnte, welche Lebensbereiche öffentlich sind und welche privat. Es gab jedoch lange Phasen, in denen eine gewisse Stabilität herrschte. In Schwellenzeiten kann man Verschiebungen in seiner eigenen Lebensspanne wahrnehmen. Für meine Generation ist das der Fall.

Öffentliche Sphäre - Private Sphäre

In den 1960er Jahren gab es schon einmal einen intensiven Diskurs, der den Wandel der bürgerlichen Öffentlichkeit diagnostizierte und diesen mit der Struktur der Stadt in Verbindung brachte. So auch der Titel des bekannten Buches von Jürgen Habermas 1962 "Strukturwandel der Öffentlichkeit". Die harsche Kritik an der Praxis des Städtebaus der Moderne in der Nachkriegszeit beklagte unter anderem einen Verlust an Urbanität. Sie sah in den mangelhaften öffentlichen Räumen eine der Ursachen. Die funktionalistisch zugerichtete Stadt bot zwar bis dahin unbekannten Komfort für die Masse der Bevölkerung, sie ermöglichte erstmalig gesunde Wohnbedingungen, der Zauber des Städtischen blieb dabei auf der Strecke. Monotonie und Homogenität statt Vielfalt und Urbanität stellten sich ein. Alexander Mitscherlich nannte es Unwirtlichkeit.

Hannah Arendt schrieb zu der Zeit ein Buch, das zehn Jahre später in Deutschland veröffentlicht wurde: "Vita activa oder Vom tätigen Leben". Sie beschreibt dort ausführlich die komplexe Verschiebung, die das Verständnis von Privatem und Öffentlichem in der Vergangenheit erfahren hat und weiterhin erfährt. In den Gesellschaften der Antike in Griechenland und im römischen Reich, im Mittelalter und in der Neuzeit in Europa machten jeweils sehr verschiedene Inhalte öffentliches Leben und den Bereich des Privaten aus. Man kann zwar verallgemeinern: Öffentlich sind solche Tätigkeiten, die sich auf eine allen gemeinsame Welt richten, die Arendt als Schülerin Martin Heideggers als "welthaltig" bezeichnet. Privat sind solche Tätigkeiten, die der Erhaltung des Lebens dienen und die im Verborgenen stattfinden. Konkret sind aber jeweils in den Epochen unterschiedliche Aktivitäten in den beiden Sphären zu finden.

Mein Blick in die Geschichte folgt Hannah Arendt: Der schiere Erhalt des Lebens war in der Antike eine Zeit füllende und eine Leben füllende Tätigkeit: Bei den Griechen war der ganze Bereich der Ökonomie privat. Die Polis war von den banalen Notwendigkeiten der Lebenserhaltung befreit. Der freie Bürger brauchte Haushalt, Besitz und Wirtschaft als Basis, um sich überhaupt der Politik in der Polis widmen zu können. Haushalt und Politik waren das Paar, dem das Private und das Öffentliche entsprachen.

Auch in den folgenden Jahrhunderten, in Zeiten vor der Moderne, musste man den schützenden Bereich von Haus und Hof verlassen, um sein Leben innerhalb der öffentlichen Angelegenheiten einbringen zu können. Es erforderte immensen Mut, man musste sein Leben wagen. Die Kluft zwischen dem Privaten und Öffentlichen war immens. Die mittelalterliche Stadt zeigte das am Beispiel der enormen Differenz von Kathedrale zu Wohnhaus.

In der Moderne stehen Nationalökonomie, Staatshaushalt und kommunale Daseinsvorsorge für die Ausweitung des ehemals Privaten in das Gesellschaftliche. Das, was wir heute das Gesellschaftliche nennen, ist modern, sagt Hannah Arendt: ein Zwischenreich, in dem private Interessen, die des Haushaltens, öffentliche Bedeutung bekommen. "Das auffallende Zusammenfallen des Aufstiegs des Gesellschaftlichen mit dem Verfall der Familie ..." ist die Konsequenz dieser Verschiebung der Sphären. Die Familie wird zunehmend ökonomisch entlastet, als Freizeitunternehmen verliert sie ihre existentielle wirtschaftliche Bedeutung, komplementär verliert sie ihre Kraft zur personalen Verinnerlichung.

Dieses Thema nimmt in den Diskursen der 1960er Jahre breiten Raum ein, es begann mit der Klage über den Autoritätsverfall des Familienvaters. Bis heute ist der "Verfall der Familie" ein Thema der aktuellen Politik. Die traditionelle Form der Familie als Versorgungsinstitution wird zum Randphänomen in unserer Gesellschaft. Das Zusammenleben in kleinen Gruppen wird je nach Bedürfnis jeweils neu verhandelt. Alle Funktionen des Haushaltes können heute durch infrastrukturelle oder warenförmige Angebote abgedeckt werden. "Die moderne Stadtmaschine mit ihrer Überfülle an Gütern, Dienstleistungen und Infrastrukturen kann als die vollständige Vergesellschaftung des privaten Haushaltes begriffen werden." Viele Menschen kochen nicht mehr zu Hause, wenige nähen sich noch Kleider, Wintervorsorge, Vorratshaltung, das alles lässt sich auslagern. Was dabei von kommunaler oder staatlicher Hand oder durch die private Wirtschaft bewältigt werden sollte (Brot: privat, Wasser: kommunal, Infrastruktur: staatlich) ist Inhalt eines darüber hinausgehenden politischen Diskurses, der immer wieder mit Vehemenz geführt wird.

Zurück zu Hannah Arendt: "Ob eine Tätigkeit privat oder öffentlich ausgeübt wird, ist keineswegs gleichgültig. Offenbar ändert sich der Charakter des öffentlichen Raumes, je nachdem welche Tätigkeiten ihn ausfüllen." Auch die Tätigkeiten selbst ändern sich vice versa. Ob also Essen für fünf Personen in einer kleinen Küche gekocht wird oder für viele in einem Schnellrestaurant, das macht einen großen Unterschied. Ist das Schnellrestaurant nun ein öffentlicher Ort oder ist es ein privates Unternehmen?

Das Öffentliche ist welthaltig und das Private ist so weltlos, dass es in letzter Konsequenz nicht kommuniziert werden kann. An eingängigen Beispielen erläutert das Hannah Arendt: Der Schmerz ist eine Empfindung, die schlechterdings nicht mitteilbar ist und nicht wirklich mitempfunden werden kann, er kann höchstens Mitleid erwecken. Er ist die privateste intime Empfindung überhaupt. Und auch die Liebe: "Wegen der ihr inhärenten Weltlosigkeit muten uns daher alle Versuche, die Welt durch Liebe zu ändern oder zu retten, als hoffnungslos verlogen an."

Hannah Arendt zitiere ich so ausführlich, weil sie eine Protagonistin der Moderne ist, die uns verstehen lässt, wie Erwartungen meiner Generation an den öffentlichen Raum geprägt wurden. Öffentlicher Raum nicht im städtebaulichen Sinne, als architektonisch definierter Ort für öffentliche Tätigkeiten, sondern als allgemeine Sphäre, in der diese bestimmte Art von Begegnung und Austausch, das Gemeinsame zwischen Menschen stattfindet. Wenn ein Mensch zum ganzen Menschen wird, dann hat er Teil an dieser Welt, bringt sich in die Öffentlichkeit ein, er kann die Mühen, Alltagszwänge und Geheimnisse des Privaten hinter sich lassen, sogar über sie hinauswachsen. Im Öffentlichen erfährt man als gesellschaftliches Wesen Bestätigung, es ist der Bereich der Selbstverwirklichung.

Dort lag offenbar der Bereich der Selbstverwirklichung bis in die Moderne hinein. Doch das hat sich geändert.

Paradigmenwechsel

Der Wertewandel wird seit den1970er Jahren erfahrbar. "The Fall of Public Man" von Richard Sennett erhält den deutschen Untertitel: Tyrannei der Intimität. Genuin private Interessen wie das Verlangen nach Ruhe und Sicherheit im privaten Haushalt beginnen öffentliche Entscheidungen zu dominieren. Das ist der Januskopf jeder Bürgerinitiative, welche die Vorlieben und Sonderinteressen ihrer Aktivisten zu einer öffentlichen Angelegenheit zu machen weiß.

Peter Sloterdijk entfaltet in seiner Sphären-Trilogie einen Gegensatz von Immunität und Kommunität, des Ganz-bei-sich-sein und des am Gemeinschaftswerk der Welt Teil-haben. Es ist ein zeitgenössisches Verständnis des Privaten, im Privaten ist man ganz bei sich. Der Mensch versteht sich als Individuum, das dort zur Ruhe kommen kann. Der Hauptcharakter der Wohnung liegt demnach in ihrer Aufgabe als räumliches Immunsystem, sie ist ein Bereich des "Wohlseins gegen Invasoren und Überbringer des Unwohlseins". Die Wohnung ist die Abwehrmaschine des modernen Menschen, sie hat Anteil am Kernprozess der Modernisierung. Wohnen braucht Unaufmerksamkeit und Normalität, Immunität heißt: Freistellung vom Gemeinschaftswerk. Die schillernden Worte, die Sloterdijk benutzt, machen deutlich, dass hier etwas enorm Wichtiges passiert ist im Vergleich zur Welt von Hannah Arendt: Der Bereich des Wohlseins ist der private Bereich. Eine Wertung, die aufmerksam macht auf weitere Autoren, auf einen gegenwärtigen Tenor im Diskus, der das Öffentliche und das Private grundsätzlich anders bewertet. Der private Bereich ist der, in dem sich Individualität leben lässt, er ist die Sphäre persönlichen Ausdrucks und bietet das Plateau der Selbstentfaltung.

Die Sphäre der Selbsterschaffung nun im Privaten zu sehen, während sie bis in die jüngste Vergangenheit in dem Vermögen gesehen wurde, sich in der öffentlichen Sphäre betätigen zu können, werte ich als Paradigmenwechsel. Bei Hannah Arendt noch konnte man erfahren, dass bis in die Moderne die öffentliche Sphäre diejenige war, in der sich der Mensch entfalten, über die Alltagszwänge hinauswachsen und an der Welt teilhaben konnte. Dort wurde er zum "ganzen Menschen". Im Kontext der Reflexiven Moderne, Postmoderne oder Nachmoderne dagegen wird der Mensch dann "er selbst", wenn er im Privaten ganz bei sich sein kann. Selbst, Selbsterschaffung und Selbstentfaltung wird nun mit dem Privaten gleichgesetzt.

Die private Sphäre ist ein von Staat, Gemeinwesen und deren Zumutungen zu schützender Bereich. Die öffentliche ist diejenige, in dem sich das Individuum bewähren, ständig anpassen, neue Rollen einnehmen, auf der Hut sein muss und zum Manager seines Lebenslaufes wird. So argumentiert zum Beispiel die Philosophin Beate Rössler: "In liberalen Gesellschaften hat das Private die Funktion, ein autonomes Leben zu ermöglichen und zu schützen." In der Privatsphäre kann man selbst den Zugang zu dieser kontrollieren. Sie bietet Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer, vor fremden Menschen, Handlungen, Wissen, Räumen, Entscheidungen, Verhaltens- und Lebensweisen. Auch Rössler sieht die Grenzen zwischen beiden Sphären fließend, die historische Dimension spielt da weniger eine Rolle als der Blickwinkel und das jeweilige Interesse, aus dem heraus die Grenze gezogen wird. Die Grenzen zwischen öffentlich und privat stehen nicht fest, sie sind von der Situation abhängig und stehen zur Debatte, sagt auch sie. Ihre Argumentation ist jedoch von einem politischen Interesse geprägt, indem sie fragt: Warum ist Privatheit wertvoll? Ihre Antwort: Weil sie mit dem Wunsch nach Autonomie verknüpft ist.

Die Wertungen von Arendt und Rössler sind extrem unterschiedlich, auch wenn beide in den Begriffen Freiheit, Autonomie und selbstbestimmtes Handeln kulminieren. Ist bei Hannah Arendt der Mensch erst ein aktiv Handelnder, wenn er die Sphäre unmittelbarer Selbsterhaltung übersteigt, in der Welt agiert, so sieht Beate Rössler gerade in der Privatheit das Versprechen eingebettet, als autonomes Subjekt in Freiheit handeln zu können.

Räume der Stadt

Die hohe Wertschätzung des Privaten hat enorme Auswirkungen auf die Produktion von Stadt. Die "urbanen" Konsumenten der Gegenwart fragen nach individuellen Wohnungen, milieuspezifisch abgegrenzten Siedlungen, nach vermeintlich eigensinnig gestalteten kulturellen Umfeldern. Die private Sphäre differenziert sich räumlich aus. Die Nachfrage wird forciert durch den spekulativen Immobilienmarkt bedient. Dieser Prozess ist durch die gegenwärtige ökonomische Krise, das Platzen der Immobilienblase in Teilen der Welt, nur unterbrochen, nicht beendet. Der genuine Ort des Privaten, die Wohnung, wird über alles gesetzt. Sie soll am Meer liegen, oder auf dem Land, oder wenn in der Stadt, dann ungestört von Nachbarn, Verkehr, fremden Geräuschen und Einflüssen. Ein Ort der Autonomie und Immunität. Dort will man nur besucht werden, wenn man Gäste geladen hat. Einfach mal klingeln und vorbeischauen, das machen noch nicht einmal mehr die Kinder.

Nur in der Privatsphäre kann man selbst den Zugang zu dieser kontrollieren. Eine widersprüchliche Entwicklung: einerseits wird die Wohnung zum Ort gesellschaftlicher Positionierung, andererseits zum Schonbereich vor genau diesen Anforderungen. Hinaus geht man gezielt, um wohl dosiert soziale Kontakte zu pflegen. Der soziale Privatraum wird zu einem zu verteidigenden Territorium, das vor Kriminalität oder einfach nur vor Fremden oder auch vor jeglichen Veränderungen abgeschirmt werden muss. Stabilität wird mit aller Macht erzwungen, Zutritte kontrolliert, Homogenität erzeugt. Tyrannei der Intimität.

Zugleich - das erscheint erst einmal widersprüchlich zu der hohen Bedeutung der privaten Räume - ist eine zunehmende Wertschätzung öffentlicher Räume zu beobachten. Die Pflege der öffentlichen Räume gehört zu den Essentials guter Stadtplanung und die Menschen nehmen diese Räume an. Es scheint geradezu eine komplementäre Sehnsucht zum entfalteten Privaten zu geben, die in der öffentlichen Sphäre der Städte erfüllt werden will: Museumsnächte, Stadtstrände, Sommerfeste, Cityreisen, Stadtmarketing. Die Bespielung der Kernstädte scheint immer noch steigerungsfähig zu sein. Zudem verlagern sich Orte öffentlichen Lebens in kommerzielle Entertainment-Center, Flughäfen, Malls. In der Urbanistik gibt es seit Jahren eine Debatte um new public domains und temporäre Orte, die neben Park, Platz und Straße neue Räume des Öffentlichen entdeckt. Andererseits erleben gerade die klassischen Stadträume ein Revival. Sie werden mit Sorgfalt gepflegt, erneuert, neuen Bedürfnissen angepasst, die gesellschaftliche Zuwendung ist unübersehbar, wenn auch kritisch reflektiert als "Themenpark Innenstadt" für ausgewählte soziale Gruppen.

Urbanität, Toleranz und Solidarität

Urbanität bedeutet, aus dem privaten Rückzugsbereich in die Welt heraustreten zu können - in eine Sphäre von Fremdheit, die durch Toleranz bis hin zur Blasiertheit gebändigt ist. So sagt Georg Simmel schon 1903: "Die Reserviertheit mit dem Oberton versteckter Aversion erscheint nun aber als Form oder als Gewand eines viel allgemeineren Geisteswesens der Großstadt. Sie gewährt nämlich dem Individuum eine Art und ein Maß persönlicher Freiheit, zu denen es in anderen Verhältnissen gar keine Analogie gibt."

Urbanität ermöglicht fremd sein, anders sein, etablierte Rollen verlassen zu können - um den Preis, die Rolle des Urbanisten (Simmel) zu spielen. Man lässt andere Menschen nicht an sich heran, urbane Verhaltensmuster lassen physische Nähe zu, weil man weiß, dass gleichzeitig die Distanz zur Person gewahrt wird. Diese Kühle in der Nähe macht Toleranz möglich und Fremdheit erträglich. So lautet die klassische Definition von Urbanität in der Stadtsoziologie seit Simmel.

Die Stadt der Moderne setzte das Solidaritätsprinzip in gleichwertige Wohnbedingungen um, also in eine Stabilisierung der Privatsphäre. Ihr Mangel an Urbanität wurde dagegen heftig beklagt. Ihre solidarische Leistung sollten wir jedoch nicht gering schätzen, denn sie bleibt weiterhin eine politische und soziale urbanistische Aufgabe angesichts der politischen Brisanz sozialer Ungleichheit in den wachsenden Städten der Welt. Es könnte sein, dass öffentliche Räume nicht per se Urbanität erzeugen, sondern nur dann erfolgreich sind, wenn sie von großen Teilen der Stadtgesellschaft auch in Gebrauch genommen werden können. Urbanität zu ermöglichen verlangt also zugleich Rückzugsbereiche des Privaten zu schaffen, die dem Individuum erst die Stärke zur Begegnung mit dem Anderen im urbanen Raum verleihen. Heute betonen wir in der öffentlichen Sphäre neben dem Ort der Toleranz, dem klassischen urbanistischen Motiv, auch den der Solidarität. In der Folge verändert sich auch die Definition von Urbanität, denn der politische Aspekt einer gesellschaftlichen Solidarität bekommt zunehmendes Gewicht.

Selbst, Solidarität und öffentlicher Raum

Alle diese gegensätzlichen Tendenzen sind unübersehbar. Wie kann die zeitgenössische Stadt die Privatsphäre so vorrangig bedienen, dass allerorten weltweit territoriale Enklaven für ausdifferenzierte Lebensstile entstehen? Stadtlandschaften wachsen heran, unendliche Teppiche von Einzelhäusern ohne öffentliche Räume außer Straßen. Wie kann man gleichzeitig eine Wiederentdeckung des öffentlichen Raumes konstatieren und seine Krise diagnostizieren? Die unterschiedlichen Tendenzen sind schwer in ein schlüssiges Theoriegebäude zu bringen, das an die urbanistische Praxis konzise anschließt.

Eine Hilfe bietet der amerikanische Philosoph Richard Rorty: Auch er sieht im privaten Raum die Sphäre der Selbsterschaffung der Individuen, im öffentlichen Raum die Sphäre der Solidarität. Der Irrtum, das Vorurteil, unserer Profession besteht darin, beide im Widerspruch und in Konkurrenz zueinander zu sehen. Als ob wie auf einer Waage mehr Privatheit die Schale des Öffentlichen leeren würde. So ist es jedoch nicht, sagt Rorty. Die eine Sphäre entfaltet sich nicht notwendig auf Kosten oder in Abhängigkeit der anderen. Rorty "versucht zu zeigen, wie es aussieht, wenn wir die Forderung nach einer Theorie, die das Öffentliche und das Private vereint, aufgeben und uns damit abfinden, die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten".

Mit diesem hilfreichen Hinweis können wir uns wieder dem diffizilen Verhältnis beider Sphären zuwenden. Stadt, die ein öffentliches Leben begünstigt, wird als Indikator oder als Nährboden für Urbanität angesehen. Aber wo ist öffentliches Leben in der Stadt? Was können wir über Straße, Platz und Park hinaus, die Prototypen des bürgerlichen öffentlichen Raumes, als öffentliche Räume bezeichnen? Die möglichen Antworten sind auch von der oben angeführten Bewertung des Privaten beeinflusst. Wo sieht man die Räume autonomen Handelns und könnte damit weiterhin auch Öffentlichkeit eingeschlossen sein?

Das urbane Leben, das Alltagsleben des Städters, ist von der Polarität der öffentlichen und privaten Sphären, dem Wechsel von der einen in die andere Raumsphäre geprägt. Die Zuordnung von Aktivitäten zu öffentlichen oder privaten Räumen, wenn es diese Zuordnung in dieser Trennschärfe je gegeben haben sollte, verschiebt sich heute wiederum. Private Tätigkeiten, die im "Prozess der Zivilisation" (Norbert Elias) in die private Sphäre eingehaust wurden, werden an die Öffentlichkeit gezerrt: Eine Verschiebung der Scham- und Tabugrenzen ist offensichtlich. Was allein beim Telefonieren in die Öffentlichkeit getragen wird! Wird es damit zu einer öffentlichen Angelegenheit? Was offenbaren Menschen über sich in einschlägigen Fernsehshows! Um sich als Teil der Welt zu empfinden?

Privates Territorium wird über die Wohnung hinaus auf ganze Teile der Stadt ausgedehnt, ehemals öffentliche Funktionen werden eingehaust, ein ganzer Ausschnitt der Stadt unter privates Hausrecht gestellt. Die Einhausung von Teilen der Stadt ist das eine Phänomen: die Ausdehnung privat (auch privatrechtlich) kontrollierter Zonen auf Bereiche, die wir als öffentlich zugänglich kannten, Straßen und Märkte vor allem.

Aber hat es eine säuberliche Trennung der Sphären und der realen Räume für das eine oder das andere je gegeben? Viele Räume für Einrichtungen, die wir dem öffentlichen Leben zuzählen, sind schon immer "gated" und haben ein privates Hausrecht: In die Oper kommt man nicht ohne Eintrittskarte hinein, auch nicht ins Fußballstadion. Bibliotheken haben Öffnungszeiten und soziale Zugangscodes. Also wären nur diese Räume urban, die jedem ohne Unterschied und jederzeit zugänglich sind? Die Straße? Aber auch da gibt es eine soziale Kontrolle: Frauen meiden Straßen und Parks in der Nacht: ein temporärer Ausschluss. Kleine Kinder kann man nicht auf öffentliche Straßen lassen, die dem Autoverkehr seit 50 Jahren gewidmet sind.

So wie man nicht nur lesen können, sondern tunlichst auch über eine gewisse kanonisierte Bildung verfügen muss, sowie den Diskurs der Zeit um Politik, Kultur und Wirtschaft verfolgt haben sollte, um eine große Tageszeitung lesen zu können, so muss man auch über gewisse Codes verfügen, um öffentliche Räume überhaupt in Gebrauch nehmen zu können. "Öffentlicher Raum als jederzeit für jedermann zugänglicher Raum hat (...) noch nie in irgendeiner Stadt existiert. Er ist immer auch exklusiver Raum. Verschiedene Städte in verschiedenen historischen Epochen unterscheiden sich vor allem darin, wer auf welche Weise aus welchen Räumen ausgeschlossen wird."

Warum also die Klage, seit ein paar Jahren sei alles anders? Verschwinden nicht immer wieder öffentliche Räume, und dafür entstehen neue?

Kulturen des öffentlichen Raums

Deswegen führt die gegenwärtige Diskussion weg von dem Fokus auf die Funktionalität städtischer Räume, er beschäftigt sich vielmehr mit ihrer oft schillernden Bedeutung und performativen Ingebrauchnahme. Die Urbanistik interessiert sich für temporäre Räume und Möglichkeitsräume, new public domains und kommerzielles Entertainment, Peripherie und Zwischenzonen, Niemandsländer und Prachtplätze, Museen und Theater, Schulen und Tempel, Clubs und Szenen, Strände und Flüsse, Parks und öffentliche Gärten, Straßen und Boulevards.

In jeder Stadt sind zudem Räume wichtig, die außerhalb der Aufmerksamkeit stehen, die von neuen Gruppen entdeckt werden können. Eine Brache in der Innenstadt, ein temporär der Jugendszene überlassenes Haus in zentraler Lage, das sind die interessanten Orte, wo etwas Neues entstehen kann. Aber nur dank dieses temporären Status, der ökonomische Verwertbarkeit und tradierte Bedeutung für eine kurze Zeit außer Kraft setzt und Experimente zulässt. Denn schnell würden sie wieder belegt und exklusiv für eine kleine Szene sein. Temporäre Orte, die urbane Qualität haben, sind letztendlich nicht planbar. Ihr sozialer Effekt, Randgruppen und Szenen einen Ort für Aufführung, Darstellung, Zuhause oder Experiment zu bieten, ergibt sich gerade daraus, dass diese Orte im Windschatten der Aufmerksamkeit, oft auch in dem der Ökonomie, liegen.

Wichtiger werden auch die Schnittstellen und Schwellen zwischen beiden Sphären, Übergangsräume, die zwischen Privatem und Öffentlichem vermitteln können, oder auch die nötige Distanz erlauben. Die Erdgeschosszone von Wohnhäusern bietet einen solchen Schwellenbereich. Vorgärten, kleine Plätze in den Stadtteilen, breite Gehwege, es gibt viele beiläufige Orte, die dem dienen können.

Die Kulturen des Öffentlichen sind so vielfältig wie die Orte des Öffentlichen. Gleichzeitig ist die Pflege der öffentlichen Räume eine öffentliche Aufgabe der jeweiligen Stadtgesellschaft. Wir fragen uns heute, welches öffentliche Potential ein Themenpark, ein Flughafen, ein Einkaufscenter hat. Entstehen nicht in einer sich ändernden Gesellschaft zwangsläufig neue öffentliche Räume, die wir als solche erkennen müssen, um sie auch im Sinne der Stadt gestalten zu können? Die Herausforderung der Urbanistik, der Stadtplanung und des Städtebaus liegt heute darin, in diesem komplexen Feld zu agieren. Die sich ausdifferenzierende Gesellschaft erzeugt einen großen Teil der Stadtproduktion über den privaten Markt. So entstehen auch Räume, die öffentliche Rollen spielen können, obwohl sie nicht offensichtlich öffentlich sind. Weiterhin wird es jedoch eine explizit politische Aufgabe sein, die Räume der Solidarität und der Toleranz in einer Gesellschaft aktiv bereitzustellen. Sie machen die Kultur des Städtischen aus, sie ermöglichen ein großes Spektrum an Kulturen des Öffentlichen. Schauen wir uns die sozialen Konflikte in vielen Städten der Welt an, so erkennen wir leicht die immense Bedeutung einer guten Politik des Städtischen, die die Pflege der öffentlichen Räume einschließt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied-Berlin 1962.

  2. Vgl. Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt/M. 1965.

  3. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 1967, zitiert nach Ausgabe 1981.

  4. Vgl. ebd., S. 36, 37.

  5. Vgl. ebd., S. 40.

  6. Vgl. J. Habermas (Anm. 1), S. 189. In Berufung auf Helmut Schelsky.

  7. Walter Siebel/Jan Wehrheim, Öffentlichkeit und Privatheit in der überwachten Stadt, in: DISP, Heft 153 (2003), S. 5.

  8. Vgl. H. Arendt (Anm. 3), S. 47.

  9. Vgl. ebd., S. 51.

  10. Richard Sennett, The Fall of Public Man, New York 1974. Deutsche Ausgabe: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/M. 1986.

  11. Peter Sloterdijk, Sphären 3. Schäume, Frankfurt/M. 2004.

  12. Beate Rössler, Der Wert des Privaten, Frankfurt/M. 2001, S. 10.

  13. Vgl. Maarten Hajer/Arnold Reijndorp, In Search of New Public Domain, Rotterdam 2001.

  14. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Brücke und Tür, Stuttgart 1957, S. 234.

  15. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 14.

  16. Vgl. Walter Siebel, Wesen und Zukunft der europäischen Stadt, in: DISP, Heft 141 (2000), S. 31.

  17. W. Siebel/J. Wehrheim (Anm. 7), S. 4.

Prof. Dipl.-Ing., geb. 1952; Ordinaria für Städtebau und Regionalplanung an der Architekturfakultät der TU München, Arcisstraße 22, 80333 München. E-Mail Link: ls.wolfrum@lrz.tum.de