Einleitung
Das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon könne man mit einer "echten demokratischen Revolution für die gemeinsame Agrarpolitik" gleichsetzen.
Ein halbes Jahrhundert lang - seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958 - lag die formale Entscheidungsgewalt ausschließlich beim Ministerrat. Die Europäische Kommission verfügte über das Recht der Gesetzesinitiative, was ihr insbesondere bei der Gestaltung von Reformen der GAP eine Schlüsselstellung verlieh. Dem EP blieb nicht mehr als beratende Funktion, was den Eindruck entstehen ließ, dem in der Geschichte der EU kostenintensivsten Politikbereich fehle es an demokratischer Legitimation; es war sogar die Rede von einem "demokratischen Defizit". Unter diesem Gesichtspunkt überrascht es, wie wenig über die Rolle der Agrarpolitik diskutiert wurde, als der Vertrag ausgearbeitet wurde.
Die GAP ist das Herzstück der EU-Agrarpolitik. Heute beansprucht die GAP etwas mehr als 40 Prozent des EU-Jahresbudgets, das sind rund 55 Milliarden Euro pro Jahr.
Landwirtschaft und Sozialpolitik
Die Reform der GAP soll bis 2013 abgeschlossen sein. Reformbestrebungen sind schon seit rund zwei Jahrzehnten im Gange. Die Europäische Kommission und zahlreiche EU-Mitgliedstaaten stehen auf dem Standpunkt, die GAP solle das Ziel eines "Grundeinkommens-Sicherheitsnetzes" für die EU-Bauern im Auge behalten.
Im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus dem Jahr 1957 heißt es, dass die Politik der Gemeinschaft der "besonderen Eigenart der Agrarpolitik" Rechnung tragen solle.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts, als die Nationalstaaten ihre Verwaltungen ausbauten, suchen Politiker engere Beziehungen mit Vertretern der Landwirtschaft. Landwirtschaftliche Verbände begannen sich zu organisieren. Als Anfang der 1920er Jahre eine Agrarkrise ausbrach, wurden in vielen europäischen Staaten Einrichtungen zur Stützung wichtiger landwirtschaftlicher Märkte wie für Getreide, Fleisch oder Milchprodukte geschaffen, und der staatliche Protektionismus nahm zu. Politisches Ziel war es, die Lebensmittelpreise stabil zu halten und zugleich sicherzustellen, dass die Landwirte mit relativ gleich bleibenden Erlösen für ihre Erzeugnisse rechnen konnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Bauernvertreter auf nationaler und lokaler Ebene in den Wiederaufbauprozess einbezogen, da sie über wichtige soziale Netzwerke und die nötige Infrastruktur verfügten, um selbst die entlegensten Ecken des Landes zu erreichen.
Doch während Einkommensniveau und Lebensstandard in Westeuropa stiegen, blieb vielen Beschäftigten der Landwirtschaft ein ähnlicher materieller Aufstieg verwehrt. In einer Zeit, da technologische Innovationen hinter den Wachstumskalkulationen der Industrie standen, wurde es für viele Bauern schwierig, Schritt zu halten. Die Tatsache, dass die Landwirtschaft sehr arbeitsintensiv ist, die Immobilität von Land, komplexe Besitzstrukturen und in vielen Gebieten ein niedriges Bildungsniveau unter den Landwirten - diese grundlegenden Faktoren bedingten eine schlechte Einkommenssituation auf dem landwirtschaftlichen Sektor. Einigen Bauern freilich ging es gut, vor allem jenen, die sich neue und zunehmend billiger werdende technische Errungenschaften wie Traktoren, Mähdrescher und Melkmaschinen zunutze machen konnten. Vielen anderen jedoch fehlten die Mittel, am Modernisierungsprozess teilzuhaben; sie lebten entweder weiterhin von sehr geringen Einkommen oder gaben den Beruf auf.
Bald begannen landwirtschaftliche Interessenverbände in vielen Ländern gegen die sich immer weiter öffnende Einkommensschere zu protestieren. Die Situation in der Landwirtschaft im Zusammenhang mit dem rapiden Wirtschaftswachstum vom Ende der 1940er bis in die 1960er Jahre stand im Widerspruch zu den Zielen einer solidarischen Politik, zu denen sich die Nationalstaaten in der Sozialpolitik bekannten. Die Kampagnen der Landwirtschaftsverbände waren insofern erfolgreich, als die Gesetzgeber in den späten 1940er Jahren damit begannen, Gesetze zu unterstützen, die zum Ziel hatten, die landwirtschaftlichen Einkommen denen anderer Sektoren anzugleichen.
Der auf die Landwirtschaft angewandte sozialpolitische Gedanke stand im Wesentlichen auch hinter der GAP. Wie die Römischen Verträge stipulierten, bestand das Ziel der GAP darin, "einen gerechten Lebensstandard für die landwirtschaftliche Bevölkerung sicherzustellen, insbesondere durch eine Erhöhung der individuellen Einkommen der in der Landwirtschaft Beschäftigten".
GAP im Wandel
Die GAP in ihrer ursprünglichen Form wurde bereits von Ende der 1960er Jahre an umgesetzt und blieb bis Anfang der 1990er Jahre relativ unberührt. Seither war die GAP-Reform ein ständiges Thema. Insbesondere die Lebensbedingungen auf dem Land haben sich drastisch gewandelt. Rund ein Viertel der Bevölkerung der sechs ursprünglichen Mitgliedstaaten lebte 1958 von der Landwirtschaft. Heute sind, bei 27 EU-Staaten, rund sechs Prozent im Primärsektor beschäftigt, wobei die Spanne von nur einem Prozent in Großbritannien bis zu 30 Prozent in Rumänien reicht.
Am Beispiel der Milch lässt sich gut erkennen, welche Schwierigkeiten eine Reform der GAP bis heute begleiten. Die Milch wurde 1980 von der Kommission als das "Problemkind der europäischen Landwirtschaft" bezeichnet.
Grundsätzlich steht das bäuerliche Einkommen als politisches Anliegen immer noch auf der EU-Tagesordnung, wie die jüngste Krise auf dem Milchsektor deutlich vor Augen geführt hat. Das komplexe Zusammenspiel von verändertem Verbraucherverhalten während der derzeitigen Wirtschaftskrise und steigenden Energie- und Düngemittelpreisen hatte zur Folge, dass die Preise, welche die Milchbauern für ihre Erzeugnisse erhielten, 2009 ins Bodenlose fielen. Verärgerte Milchbauern protestierten, indem sie vor der EU-Zentrale in Brüssel einen Milchsee inszenierten und Millionen Liter frischer Milch auf die Felder entleerten. Während sich die Kommission zunächst weigerte, weitere unterstützende Maßnahmen für den Milchsektor zu setzen, gingen 16 EU-Regierungen in die entgegengesetzte Richtung, damit die Milchbauern nicht zum Opfer der instabilen Märkte würden.
Die Probleme, mit denen der Milchsektor zu kämpfen hatte, zeigen beispielhaft, wie schwer es ist, die Dynamik der Agrarpolitik vom eingefahrenen interventionistischen Pfad, auf den sie die GAP geführt hat, herauszulenken. Es ist eine wissenschaftliche Binsenwahrheit, dass es sich bei Änderungen in der Sozialpolitik um eine verzwickte Angelegenheit handelt, weil Reformvorschläge von deren Nutznießern oft als Zeichen interpretiert werden, dass sie ihre Privilegien verlieren könnten. Das ist auch bei der GAP der Fall, wo Landwirtschaftsverbände gewöhnlich voraussetzen, dass Veränderungen grundsätzlich zum Schlechteren sein würden und daher bestehende Regelungen unterstützen, auch wenn diese nicht optimal sind.
Die erste durchgreifende Reform der GAP wurde 1992 von Ray MacSharry (Kommissar für Landwirtschaft) in Angriff genommen, wobei es um die wichtigsten Instrumente der GAP ging. Der Durchbruch in der EG kam inmitten festgefahrener Verhandlungen über eine Liberalisierung des Welthandels im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT, Vorläufer der WTO) im Jahre 1990. Das Neue an dieser Reform war, dass man von Preisgarantien zur Einführung direkter Ausgleichszahlungen für die Landwirte überging. Die GAP behielt ihren Umverteilungscharakter und wurde sogar darin bestärkt. Die Reform war insofern erfolgreich, als ein Ende der Überproduktion und eine Reduzierung der Ausgaben für die GAP zu Lasten des EU-Budgets erreicht wurden. In diesem Sinne wurde MacSharrys Reformweg auch von seinen Nachfolgern, Franz Fischler und Mariann Fischer-Boel fortgeführt.
Es muss betont werden, dass die Reformen nicht in einem politischen Vakuum vonstatten gingen, sondern, obgleich es seit Beginn der 1990er Jahre Druck von außen gab, sich auch die Standpunkte hinsichtlich der Rolle und Aufgabe von Agrarpolitik änderten. Waren landwirtschaftliche Verbände bei der Gestaltung der GAP anfangs maßgeblich beteiligt gewesen, begannen sich zahlreiche neue Belange mit der GAP zu überschneiden, angefangen von Handelskonflikten bis zu umweltpolitischen Themen. Es wurden immer weitere Expertengruppen in die Agrarpolitik einbezogen. Daraus folgte eine schrittweise Öffnung der GAP, deren Schwerpunkt sich von den Erzeugern in Richtung einer Bandbreite anderer "Dienstleistungen" verlagerte, die von Landwirten in der europäischen Gesellschaft angeboten werden, wie der Einführung umweltfreundlicher Produktionsmethoden, der Gewährleistung von Tierschutzmaßnahmen oder der Erhaltung landschaftlicher Besonderheiten des ländlichen Erbes. Die GAP begann mit dem Begriff der "multifunktionalen Farm" zu operieren.
"Rinderwahn" und Lebensmittelsicherheit
Über die Aussicht, möglicherweise "Frankenstein-Food" zu sich zu nehmen, wurde in der EU heftig diskutiert, im Speziellen über die Zulassung gentechnisch veränderter Organismen (GVO) oder von "Hormonfleisch" aus den USA. Beide Fälle wurden als "Handelskriege" im Rahmen der WTO ausgefochten, wo die EU bis heute auf das so genannte Vorsorgeprinzip pocht, was in einer eher protektionistischen Politik resultiert. Die Frage, wer bei der Regulierung von Lebensmitteln und Lebensmittelsicherheit das Sagen haben soll - nationale Behörden oder die EU - ist seit dem Vertrag von Maastricht zu einer Kernfrage geworden. Lebensmittelskandale haben die Agrarpolitik daher auf neue Weise geprägt. Es begann mit dem so genannten Rinderwahn (Bovine spongiforme Enzephalopathie/BSE), der die EU in den 1990er Jahren erschütterte. Dabei war nicht die GAP an der Ausbreitung von BSE Schuld, sondern eher die Art, wie die Nationalstaaten die Lebensmittelsicherheit gewährleisteten. Die Medienberichterstattung über den Skandal und der öffentliche Aufschrei hatten Auswirkungen auf das Verbraucherverhalten in allen Mitgliedstaaten. Millionen von Rindern wurden getötet; es starben sogar Menschen als direkte Folge des Konsums von "wahnsinnigen" Rindern. Der Rind- und Kalbfleischkonsum ging rapide zurück, und Exportverträge wurden aufgelöst, was verheerende wirtschaftliche Auswirkungen für alle Rinderbauern sowie für das Vertrauen der Öffentlichkeit in die nationalen Behörden hatte.
Die EU war Teil der Antwort bei der Wiederherstellung des öffentlichen Vertrauens in Lebensmittel.
Als 1993 der Vertrag von Maastricht in Kraft trat, wurden dem EP in bestimmten Angelegenheiten der öffentlichen Gesundheit und in Verbraucherfragen Mitentscheidungsbefugnisse eingeräumt. Im Vertrag von Amsterdam 1999 wurde die Aufsichtspflicht des EP für den Bereich der Lebensmittelsicherheit und der öffentlichen Gesundheit noch weiter ausgedehnt, da diese Themen nach Ansicht der EU-Staaten nicht mehr rein nationale Anliegen waren. Das EP ist demnach in der Lage, die Lebensmittelgesetzgebung zu beeinflussen, und das schon seit einer Zeit, als es bei der GAP selbst noch wenig mitzureden hatte. Die EP-Ausschüsse für Umwelt, Öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie für Binnenmarkt und Verbraucherschutz haben "schwergewichtige" Mitglieder geworben.
Demokratisierung
Eine der großen Paradoxien der GAP besteht langfristig darin, dass sie auf der einen Seite die Einkommensdifferenz der Landwirte nicht aufheben konnte - landwirtschaftliche Einkommen liegen im Durchschnitt immer noch weit unter dem durchschnittlichen EU-Einkommen - und auf der anderen Seite der soziale Gedanke, der hinter der GAP steht, in den Diskussionen über deren Zukunft weiterhin unangefochten ist. Da die Kommission in ihren Richtlinien für die Zeit bis 2013 bereits von der Beibehaltung eines "Grundeinkommens-Sicherheitsnetzes" spricht, wird die "Chemie" zwischen der Kommission und dem EP entscheidend sein. Die Wahl des neuen Landwirtschaftskommissars, des Rumänen Dacian Ciolos, galt als umstritten, und die allgemeine Skepsis war groß, ob es weise sei, einen Politiker aus einem neuen Mitgliedsland zu wählen. Als seine Kandidatur im Januar 2010 dem EP vorgelegt wurde, erhielt er den größten Beifall von allen designierten Kommissaren für seine Position zur Beibehaltung des größtmöglichen Budgets für die Landwirtschaft.
Der Vertrag von Lissabon hat das Kräftegleichgewicht in der Landwirtschaftspolitik der EU verschoben, doch waren auf wichtigen, die Landwirtschaft betreffenden Gebieten schon seit Anfang der 1990er Jahre Veränderungen im Gange. Die Anzahl der Akteure in der Agrarpolitik hat sich vergrößert, und in diese Richtung wird es weitergehen. An der Spitze der Agenda stehen globale Themen wie Klimawandel und Lebensmittelsicherheit, ebenso wie Wohlstandskrankheiten und öffentliche Gesundheit. Interessanterweise hat die GAP durch verschiedene Reformen in den vergangenen zwanzig Jahren versucht, die Weichen der landwirtschaftlichen Produktion in Richtung umfassenderer gesellschaftlicher Ziele zu stellen. Dazu wären allerdings noch weitere Interventionen erforderlich. Ein erster Schritt, dies politisch zu ermöglichen, wäre eine vermehrte interne Koordination innerhalb des EP zwischen den Ausschüssen, deren Mitglieder auf ihr Stück vom agrarpolitischen Kuchen nicht verzichten wollen. Die Demokratisierung der Agrarpolitik in der EU hat auch neue Herausforderungen gebracht.