Einleitung
Seit dem 1. Dezember 2009 arbeitet die EU-Maschinerie nach einem anderen Takt. An diesem Tag trat nach langen Verhandlungen die vom ursprünglichen Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon mutierte Reform der europäischen Institutionen und Verfahren in Kraft. Nachhaltige Veränderungen bringt der Vertrag insbesondere für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die Gemeinsame (früher Europäische) Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP statt ESVP). Zwar bedeutet auch Lissabon keinen Systemwechsel im Sinne einer Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Staaten bleiben Herren des Geschehens. Der Einfluss der Kommission auf die GASP und die EU-Außenbeziehungen wird durch den Vertrag sogar beschnitten. Aber dennoch weist Lissabon weit über frühere Vertragsrevisionen hinaus.
Die wichtigste Neuerung besteht im Ausbau und der engeren Verzahnung der außen- und sicherheitspolitischen Verwaltungsstäbe unter dem neu geschaffenen Amt des Hohen Vertreters, der in Personalunion sogleich als Vizepräsident der Kommission dient. Damit könnten sich Kontinuität und Kohärenz europäischer Außen- und Sicherheitspolitik nachhaltig verbessern. Ob die EU-Staaten und -Organe diese Chance ergreifen, scheint allerdings angesichts des Streits über die Umsetzung der Vertragsbestimmungen keineswegs gesichert. Dennoch wird Lissabon einen Prozess beschleunigen, den man als Bürokratisierung der Außen- und Sicherheitspolitik verstehen kann.
Erst langsam gerät die Bedeutung dieses Vorgangs in die öffentliche Wahrnehmung. Hierzulande wurde die ESVP oft als etwas Vorläufiges, als etwas im Werden Begriffenes verstanden. Entsprechend eignete sie sich als Projektionsfläche für Visionen. Eine europäische Armee schien in erreichbarer Nähe, die europäische Supermacht in der natürlichen Fluchtlinie der bisherigen Entwicklung zu liegen.
Ursprünge der Reformdebatte
Lissabon stellt nach den Regierungskonferenzen von Amsterdam (1997) und Nizza (2000) den dritten Versuch dar, die im Vertrag von Maastricht 1991 festgelegten Verfahren der neu gegründeten EU zu reformieren. Einen Ausgangspunkt dieser Reformbemühungen bildete die Schere zwischen den wachsenden Anforderungen Dritter sowie der eigenen Ansprüche im Bereich der Außenpolitik einerseits und der Sorge über die unzureichende Handlungsfähigkeit der perspektivisch größer und damit heterogener werdenden EU andererseits.
Die EU experimentierte beim Aufbau der GASP mit beiden Möglichkeiten. Maastricht sah vor, dass die Staaten im Rahmen von Gemeinsamen Aktionen, die vom Europäischen Rat einstimmig auf den Weg zu bringen wären, mehrheitlich entscheiden. In der Praxis machten sie von diesem Verfahren aber so gut wie nie Gebrauch. Maastricht sah weiterhin die Delegation von Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik vor, allerdings nicht an die Kommission, der im Bereich des Binnenmarkts die Aufgabe zukommt, politische Beschlüsse vorzubereiten und die EU nach außen zu vertreten. Stattdessen wurde die GASP in einem separaten Pfeiler im Ratssekretariat eingerichtet. Der Ausbau dieser Verwaltungsstäbe beschleunigte sich mit der Einführung des Amtes des Hohen Repräsentanten durch den Vertrag von Amsterdam sowie der primärrechtlichen Kodifizierung der ESVP im Vertrag von Nizza. Schließlich delegierten die Staaten die Kompetenzen der Agendasetzung und Außenvertretung an das Organ der halbjährlich rotierenden Präsidentschaft.
Mit der Entscheidung für die Pfeilerstruktur nahmen die Staaten zwei Nachteile in Kauf, die seitdem die europäische Außenpolitik belasten: zum einen mangelnde Kohärenz.
Die weitgehende Überschneidung der außenpolitischen Aktivitäten beider Pfeiler, die zunehmende Konkurrenz und der Streit um Zuständigkeiten, der beide Seiten vor den Europäischen Gerichtshof führte, sind nur die eine Seite der mangelnden Kohärenz.
Der zweite Nachteil liegt im Problem mangelnder Kontinuität. Die halbjährlich wechselnden Präsidentschaften brachten ihre eigene Agenda mit und gaben der GASP beständig neue Impulse. Die Programme ließen sich aber oft nicht über die halbjährliche Präsidentschaft hinaus verankern. Im Ergebnis neigte die GASP zu diskontinuierlicher Schwerpunktsetzung. Zudem trug das Präsidentschaftssystem zur mangelnden Sichtbarkeit bei: Kaum war das Personal einer Präsidentschaft bei den Partnerländern eingeführt, war das nächste Mitgliedsland an der Reihe.
Reformen von Lissabon
Beim Lissabon-Vertrag handelt es sich um einen klassischen Mantelvertrag. Die Bestimmungen zur GASP/GSVP befinden sich im Vertrag über die Europäische Union (EUV), der auch die gemeinsamen Bestimmungen zu den demokratischen Grundsätzen und den Organen enthält. Der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) schreibt den EG-Vertrag fort.
Lissabon markiert keine dramatische Abkehr von den institutionellen Gegebenheiten. Es bleibt de facto beim Einstimmigkeitsprinzip, obwohl der EUV bei Durchführungsmaßnahmen die Möglichkeit qualifizierter Mehrheitsentscheidungen vorsieht (Art. 31 [2]). Der Europäische Rat spielt weiterhin die Rolle des Leitliniengebers (Art. 26). Er erhielt Organstatus und tagt in der Regel ohne die Außenminister. Der Außenministerrat gestaltet die Außen- und Sicherheitspolitik. Das darunter angesiedelte Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) setzt sich aus vor Ort stationierten Botschaftern zusammen, ist wie bisher für Krisenbewältigung zuständig und kann vom Rat beauftragt werden, eigenmächtig Beschlüsse zu fassen (Art. 38). Die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments (EP) bleiben beschränkt: Erklärung 14 zum Lissabon-Vertrag stellt fest, "dass diese Bestimmungen die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern". Der Einfluss der Kommission auf die GASP und die Außenbeziehungen könnte also schwinden. Der Vertrag etabliert eine Rechtspersönlichkeit der EU, nennt zusätzliche Aufgabenbereiche der GSVP wie Abrüstungsmaßnahmen und die Bekämpfung des Terrorismus (Art. 43), stellt die Europäische Verteidigungsagentur auf eine primärrechtliche Grundlage (Art. 45), verpflichtet die Mitgliedstaaten dazu, "ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. 42 [3]) und führt Solidaritätsklauseln im Falle eines Angriffs (Art. 42 [7]) bzw. einer Naturkatastrophe (Art. 222 AEUV) ein.
Die echten Neuerungen des Vertrags liegen eher auf drei anderen Feldern. Erstens schafft er das Instrument der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (SSZ). Damit wird den Mitgliedstaaten im Bereich der GSVP, die zu weitergehender Zusammenarbeit etwa bei der Zusammenlegung von Streitkräften bereit sind, die Möglichkeit zur Bildung eines Clubs eröffnet. Die Logik dieser Bestimmung ist insofern nachvollziehbar, als nur wenige Staaten zum Gros der europäischen Rüstungsausgaben beitragen.
Zweitens überträgt Lissabon die Funktionen der Agendavorbereitung und Außenvertretung, die bisher der Präsidentschaft oblagen, auf neu geschaffene Akteure: den Präsidenten des Europäischen Rates und den Hohen Vertreter (HV). Sie sollen der EU auf weltpolitischer Bühne größere Sichtbarkeit verleihen und für die Kontinuität der Arbeit der Räte sorgen (Art. 15 [4] EUV). Der HV leitet allerdings nur die Sitzungen des Rates "Außenbeziehungen". Die bisherige Ratsformation "Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen" wird geteilt. Im Rat "Allgemeine Angelegenheiten" führt ebenso wie bei allen anderen Ratsformationen wie bisher die rotierende Präsidentschaft den Vorsitz.
Drittens schafft Lissabon mit dem Aufbau des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) eine neue Großbürokratie und eröffnet zumindest die Chance, Friktionen zwischen dem ersten und zweiten Pfeiler zu überwinden. Auch hier spielt der HV die zentrale Rolle. Er wird nicht nur den EAD leiten, sondern als Vizepräsident der Kommission und hier der Generaldirektion "Auswärtige Beziehungen" vorstehen. Der HV bzw. sein Stellvertreter übernimmt ferner den Vorsitz im Politischen und Sicherheitspolitischen Komitee sowie voraussichtlich über die Arbeitsgruppen des Rates, die sich mit auswärtigen Angelegenheiten befassen (Erklärung 9, Art. 2).
"Außenministerium" der EU
Zur wichtigsten Ressource des HV wird der EAD. Im Lissabon-Vertrag ist er nur schemenhaft umrissen. Catherine Ashton war beauftragt, auf der Grundlage eines Dokuments des Europäischen Rates bis zum Frühjahr eine Entscheidungsvorlage auszuarbeiten.
Dagegen möchte die Kommission die Verantwortung für die EU-Hilfsprogramme behalten und Mitsprache bei der Besetzung der hohen Dienststellen erreichen, um sicherzustellen, dass die mit den Außenbeziehungen befassten Teile des EAD auch der Kommission zuarbeiten.
Der Entwurf, den Lady Ashton am 25. März 2010 vorlegte, kam den Wünschen der Kommission entgegen.
Die Kommission wird weiterhin für die Handels-, Entwicklungs- und Erweiterungspolitik Verantwortung tragen.
Offene Fragen
Der Vertrag lässt indes eine Reihe von grundsätzlichen Fragen offen. Die beiden wichtigsten betreffen das Verhältnis zwischen dem Präsidenten des Europäischen Rates, dem HV und der Präsidentschaft sowie das schwierige Verhältnis zwischen der Kommission, dem HV und seinem EAD sowie dem Rat. Nach traditionellen Kategorien geht es dabei um die Grundsatzfrage nach einer gemeinschaftsrechtlichen oder intergouvernementalen Ausrichtung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Aus einer anderen Perspektive stehen das Zusammenspiel zweier Großbürokratien und die Frage im Zentrum, was die Aufwertung der Verwaltungsstäbe für die EU-Außenpolitik bedeutet.
Mit Blick auf die Umsetzung des Lissabon-Vertrags drängt sich der Eindruck auf, dass die Mitgliedstaaten Angst vor der eigenen Courage bekommen und die neuen Positionen des Präsidenten des Europäischen Rates und des HV mit schwachen Kandidaten besetzt haben. Für Herman van Rompuy sprachen offenbar seine Fähigkeiten als Vermittler. Ashton hat zwar als Handelskommissarin Erfahrungen gesammelt, aber vor ihrer Berufung kein außenpolitisches Amt bekleidet. Die Wahl van Rompuys ist insofern nicht ungeschickt, als damit der potentielle Konflikt zwischen dem Präsidenten und dem HV um die Führungsrolle bei der Außenvertretung entschärft wird. Mit der Wahl zeichnet sich ab, dass der Präsident eine eher repräsentative Rolle spielen und damit die Aufgabe, der europäischen Außenpolitik Gesicht und Profil zu geben, dem hierfür institutionell besser ausgestatteten HV zufallen wird.
Problematischer erscheint die Wahl der beiden Kandidaten in Bezug auf das Verhältnis zwischen ihren Ämtern und der Präsidentschaft. Mit ihr signalisieren die Staaten, dass sie sich den Präsidenten und die Hohe Vertreterin als ihre Diener, nicht als ihre Vorsitzenden vorstellen.
Noch größere Spannungen erzeugt das ungeklärte Verhältnis zwischen der Kommission und ihrem Präsidenten auf der einen und dem HV sowie dem Rat auf der anderen Seite. Die früheren Delegationen der Kommission geraten nun unter den Einfluss des HV, Abteilungen aus der Kommission wandern in den EAD, und die seit der Einheitlichen Europäischen Akte zugesicherte, volle Beteiligung der Kommission an der Außen- und Sicherheitspolitik wird zugunsten einer Vertretung durch den HV im Bereich der GASP ersetzt (Art. 22 [2] EUV).
Kurzum: Es ist nicht ausgemacht, dass Lissabon die Fragmentierung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik überwindet. Derzeit konkurrieren vier Machtzentren darum, der EU außenpolitisches Gesicht und Profil zu geben: der Präsident, der HV, der Kommissionspräsident und die Ratspräsidentschaft (Vgl. Tabelle in der PDF-Version). Institutionell ist der HV am besten gerüstet, um diesen Wettbewerb für sich zu entscheiden. Aber selbst wenn es Ashton gelingen sollte, den ihr vom Lissabon-Vertrag zugedachten Platz im Zentrum der außen- und sicherheitspolitischen Abstimmungs- und Entscheidungsmaschinerie einzunehmen, hätte dies für die Substanz der EU-Außenpolitik wohl andere Konsequenzen, als die Staaten erhoffen und besorgte Beobachter befürchten.
Bürokratisierung der Außenpolitik
Als Kern der Reform von Lissabon im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik entpuppt sich die Ermächtigung der Bürokratie. Mit dem EAD und der Kommission sollen zwei besser verzahnte Großbürokratien unter einheitlicher Amtsleitung für ein kohärenteres Auftreten sorgen. Während sich die Staaten von dieser Konstruktion eine effektivere und durchsetzungsfähigere Außenpolitik erhoffen, beklagen andere die zu erwartende Entdemokratisierung der Außenpolitik und fürchten Dritte um den Charakter der EU als Zivilmacht. Wahrscheinlicher ist es, dass die Aufwertung der Bürokratie einen Politikstil verfestigt, der sich durch Regelorientierung, Pfadabhängigkeiten und Inflexibilität auszeichnet.
Bürokratien sind auf Regeln angewiesen. Sie bestehen in Rollen und Regelwerken, und sie produzieren auf Regeln gerichtete, regelorientierte Politik. Dies gilt für die Kommission, und dies wird für den EAD gelten. Selbst wenn er formal intergouvernementaler aufgestellt sein sollte als die Kommission, liegt die Bedeutung der Lissabon-Reformen in der Schaffung einer Großbürokratie, die ihre Routinen, Interessen und Sichtweisen entwickeln wird und von einem 27-köpfigen Aufsichtsgremium mit heterogenen Interessen aller Voraussicht nach nicht effektiv kontrolliert werden kann. Die Vorstellung, mit Hilfe des EAD werde die EU schneller, flexibler und entschiedener auf externe Herausforderungen reagieren und damit im Bereich der Außenpolitik ein wenig staatsähnlicher werden, wird sich als Illusion erweisen. Schon heute ist abzusehen, dass die Mitwirkung des EAD bei der Gestaltung der Programme im Bereich der Entwicklungs- und Nachbarschaftspolitik nicht zu mehr Flexibilität führen, sondern zunächst den Koordinierungsaufwand erhöhen und damit die Tendenz zur langfristigen Festlegung, Verlässlichkeit, aber auch Inflexibilität stärken wird.
Natürlich wird auch nationalstaatliche Außenpolitik von Bürokratien mitgestaltet. Aber bei Staaten wird der bürokratische Stil durchbrochen vom Typus des politischen Entscheiders an der Spitze der Auswärtigen Ämter bzw. der Regierungen. In der EU tritt an die Stelle der politischen Führung ein intergouvernementales Gremium. Durch das Zusammenwirken der internationalen Bürokratie und der intergouvernementalen Gremien verstärkt sich der regelorientierte, pfadabhängige Stil der Politik. Denn auch das intergouvernementale Entscheidungsgremium der Staaten stabilisiert sich mit Hilfe von Regeln. Zwangsverhandlungssysteme, bei denen alle aufeinander angewiesen sind, aber das gemeinsame Handeln unter der Vetodrohung jedes Einzelnen steht, tendieren dazu, die Zukunft durch die Festlegung von gemeinsamen Normen, Zielen, Regeln und Prozeduren berechenbarer machen zu wollen.
In der Literatur zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik gibt es wenig Dissens über den Befund eines regelorientierten, pfadabhängigen und wenig flexiblen Politikstils. Multilateralismus gilt als Markenzeichen; der hohe Stellenwert des Prozeduralen und die oft geringe Substanz der Politik als ihr Charakteristikum. Unterschiedliche Einschätzungen gibt es in der Frage nach den Ursachen dieses Politikstils. So will etwa das Konzept der normativen Macht das besondere Verhalten der EU gegenüber ihrer Umwelt mit der Externalisierung der im Innern der Mitgliedstaaten geltenden Normen erklären. Wichtiger für die Erklärung des spezifischen Stils europäischer Außenpolitik erscheint mir dagegen der Verweis auf den bürokratischen und regelbasierten Charakter der EU-Institutionen. Lissabon wird mit der Aufwertung internationaler Verwaltungsstäbe diesen Politikstil akzentuieren, nicht ändern. Größere Kohärenz erhält Europa nur als regelorientierter Akteur.