Einleitung
Grassrootscampaigning und Lobbying - das scheint ein Widerspruch zu sein, wird doch mit Lobbying in der allgemeinen Vorstellung häufig der Versuch von Unternehmen und Verbänden verbunden, hinter verschlossenen Türen politische Entscheidungsträger zu beeinflussen. Der Begriff grassroots (englisch: Graswurzeln) hingegen wird mit Aktivitäten von der Basis, von den Bürgerinnen und Bürgern, mit Basisdemokratie oder auch sozialen Bewegungen assoziiert. Wie also passen Grassrootscampaigning und Lobbying zusammen? Lobbying ist eben nicht mehr nur auf Aktivitäten hinter verschlossenen Türen beschränkt. Zwar hat Lobbying einen vorwiegend informellen Charakter und wird daher auch oft mit mangelnder Transparenz verbunden, aber neben den Formen des direkten Lobbyings gibt es auch das indirekte Lobbying. Darunter fallen verschiedene öffentliche Aktivitäten, Medienkampagnen und eben das Grassrootscampaigning.
Eine eindeutige Definition von Grassrootscampaigning ist kaum zu finden. Nicht jede öffentliche Kampagne kann als Grassrootscampaigning bezeichnet werden. Gemeinsames Element aller Definitionen ist die Mobilisierung.
Je nach dem, von wem die Kampagne ausgeht, werden unterschiedliche Personenkreise angesprochen. Verbände und Gewerkschaften versuchen in erster Linie die eigenen Mitglieder zu mobilisieren. Firmen wenden sich an die eigenen Mitarbeiter, aber auch an Kunden oder Anwohner. NGOs versuchen neben ihren eigenen Mitgliedern meist auch die breite Bevölkerung zu erreichen. Auch die Art und Weise, wie die angesprochenen Menschen ihre Meinung zum Ausdruck bringen sollen, kann sehr unterschiedlich sein.
Lange Tradition in den USA
Seinen Ursprung hat das Grassrootscampaigning in den USA. Dort gibt es eine lange Tradition der Einbindung der Bürger in politische Kampagnen. Diese erklärt sich insbesondere aus dem politischen System der USA, welches das Grassrootscampaigning nicht nur ermöglicht, sondern geradezu herausfordert. Das Wahlsystem stellt auf allen Ebenen den einzelnen Kandidaten in den Mittelpunkt, während Parteiorganisationen eine eher untergeordnete Rolle spielen. Auch ist der Fraktionszwang in den USA nur sehr gering ausgeprägt. Damit macht das politische System den einzelnen Politiker zwar unabhängiger von den Parteistrukturen, aber gleichzeitig abhängiger von den Wählern seines Wahlkreises. Daher funktionieren Kampagnen, welche die Wähler gezielt dazu auffordern, ihren Abgeordneten zu kontaktieren; denn mit Blick auf die nächsten Wahlen werden die aktivierten Bürger von den Politikern als potenzielle Wähler angesehen.
Im Vergleich dazu sind deutsche Abgeordnete durch das Wahlsystem und den Fraktionszwang wesentlich stärker von ihren Parteien abhängig. Das gilt vor allem für die über die Parteilisten ins Parlament gewählten Abgeordneten. Aber selbst bei den Direktkandidaten steht der Einfluss der Bürger aus dem Wahlkreis immer in direkter Konkurrenz zur Bedeutung der Partei. Aus diesem Grund lassen sich die in den USA verbreiteten Grassrootsstrategien nicht in dem Ausmaß auf Deutschland übertragen und wurden daher in der Vergangenheit auch nicht so intensiv genutzt.
Klassische Kampagnen
Aber auch wenn es in Deutschland keine so ausgeprägte Tradition des Grassrootscampaigning wie in den USA gibt, so haben verschiedene Akteure auch hier schon immer Grassrootselemente in Kampagnen eingesetzt. Formen des indirekten Lobbyings waren dabei lange Zeit vor allem für zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs und soziale Bewegungen typisch, während Unternehmen und Wirtschaftsverbände dieses Mittel kaum nutzten. So gehörten zum Beispiel Unterschriftensammlungen von Beginn an zum Handlungsrepertoire neuer sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen. Sie waren (und sind) in diesem Umfeld aber immer nur ein Mittel neben anderen. Sie ergänzen andere Aktivitäten wie Demonstrationen, Flugblattaktionen und Informationsstände.
Mit Organisationen wie Greenpeace und der zunehmenden Professionalisierung von Bewegungsorganisationen kam eine weitere Strategie hinzu - öffentlicher Druck durch Medienberichterstattung. Durch spektakuläre Aktionen und professionelle Öffentlichkeitsarbeit wird mediale Resonanz für Themen erzeugt. Teilweise werden auch bei solchen Kampagnen Grassrootselemente eingesetzt, wie zum Beispiel Postkartenaktionen, bei denen Bürger eine vorgefertigte Postkarte als Zeichen des Protestes an einen Politiker oder an eine Firma schicken sollen. Gemeinsam ist diesen traditionellen Grassrootsaktivitäten jedoch auch ein Nachteil: Unterschriften auf der Straße zu sammeln oder Postkarten zu produzieren und zu verteilen, ist mit verhältnismäßig hohem personellen bzw. finanziellen Aufwand verbunden.
Neue Medien, neue Kampagnen
Mit dem Internet hat sich das Grassrootscampaigning verändert. Die Mobilisierung ist kostengünstiger geworden, denn statt auf der Straße können Unterschriften im Internet gesammelt werden. Dort kann - zumindest theoretisch - jeder für verhältnismäßig wenig Geld eine eigene Seite einstellen und nach Unterstützern für ein Anliegen suchen. Aber eine Website alleine reicht nicht aus. Als "Pull-Medium" setzt das Internet voraus, dass der Nutzer sich für bestimmte Themen interessiert und danach aktiv sucht (im Gegensatz zu den "Push-Medien" wie zum Beispiel Rundfunk oder Fernsehen). Entsprechend muss erst über die Kampagne und über die Beteiligungsmöglichkeiten im Netz informiert werden. Traditionelle Akteure wie Gewerkschaften oder etablierte NGOs haben daher nach wie vor Vorteile. Zum einen können sie ihre Mitglieder über organisationseigene Medien mobilisieren. Zum anderen verfügen sie über bessere Möglichkeiten, durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit mediale und damit öffentliche Aufmerksamkeit für ein Thema zu gewinnen. Entsprechend bauen diese Akteure Grassrootselemente meist in größer angelegte Kampagnen ein. Ein gutes Beispiel für eine solche Strategie ist die Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Thema Mindestlohn. Neben Pressearbeit und vielen Aktionen in verschiedenen Städten ist die Internetseite ein Kernelement der Kampagne. Sie bietet nicht nur Informationen, sondern auch unterschiedliche Grassrootselemente: eine Unterschriftensammlung, E-Cards, ein Formular zum Melden von Niedriglöhnen oder auch die Möglichkeit, mit einem Bild "Gesicht" zu zeigen.
Während sich in Deutschland Grassrootskampagnen mit Unterschriftensammlungen oder E-Mail-Aktionen vor allem an Spitzenpolitiker oder Institutionen richten, hat sich in den USA durch das Internet eine weitaus differenziertere Ansprache der Adressaten etabliert. Die Menschen sollen gezielt ihren Wahlkreisabgeordneten kontaktieren, und diese Kontaktaufnahme soll so einfach wie möglich sein. Um dies zu erreichen, hat sich inzwischen eine eigene Dienstleisterbranche entwickelt, die spezielle Softwarelösungen und Datenbanken anbietet.
Für den Bürger hat das Internet die Beteiligung vereinfacht und auch die Schwelle, sich zu beteiligen, herabgesetzt.
Neue Medien, neue Akteure
Doch das Internet hat Grassrootscampaigning nicht nur für die traditionellen Organisationen vereinfacht und kostengünstiger gemacht. Es hat auch neuen Akteuren, Einzelpersonen und Organisationen, ermöglicht, mit verhältnismäßig geringem Aufwand eigene Kampagnen zu starten. Eine der bekanntesten neueren Grassrootsorganisationen, die in ihren Aktivitäten maßgeblich auf das Internet setzt, entstand beispielsweise aus dem Engagement zweier Einzelpersonen: MoveOn.org.
Die Grundidee von MoveOn.org wurde inzwischen in anderen Ländern übernommen. In Deutschland wurde 2004 mit Campact eine Organisation gegründet, die sich ebenfalls auf onlinebasierte Kampagnen spezialisiert hat.
MoveOn.org und Campact sind zwei Beispiele für die neue Art von Hybrid-Organisationen, bei deren Entwicklung das Internet von zentraler Bedeutung ist. Hybrid-Organisationen kombinieren Mobilisierungselemente, die typisch für soziale Bewegungen sind, mit klassischen Instrumentarien von Interessengruppen und Verbänden. Sie zeichnen sich durch eine große Flexibilität aus, sowohl organisatorisch als auch im Repertoire der genutzten Strategien.
Neben diesen neuen Organisationen gibt es aber auch noch Akteure, die weitgehend ohne Eigeninteresse lediglich Netzkapazitäten für Grassrootskampagnen zur Verfügung stellen. Foren wie petitiononline.com, thepetitionsite.com oder auch protestmail.de sind in erster Linie Plattformen, die es jedem ermöglichen, über das Internet nach Mitstreitern zu suchen. Ähnliche Angebote gibt es inzwischen auch von etablierten Akteuren. Seit 2009 betreibt Greenpeace in Deutschland eine eigene Online-Community mit dem Titel "GreenAction",
Diese Beispiele zeigen, wie das Internet mit seinen Vernetzungsmöglichkeiten neue Akteure hervorbringt und traditionelle Interessenvertreter veranlasst werden, neue Wege einzuschlagen. Darüber hinaus profitieren auch punktuell agierende Akteure wie Bürgerinitiativen von den Möglichkeiten des Internets: kaum ein Bürger- oder Volksentscheid, der nicht vorübergehend Gruppierungen hervorbringt, die neben den klassischen Mitteln wie Informationsstände oder Unterschriftensammlungen auf der Straße auch über das Internet Unterstützer zu mobilisieren versuchen.
Künstliche Graswurzeln
Doch nicht nur zivilgesellschaftliche Akteure nutzen die Möglichkeiten des Grassrootscampaigning im Internet. Auch Unternehmen und Wirtschaftsverbände haben inzwischen Versuche gestartet, sich diesen Weg der Mobilisierung zu Nutze zu machen. Doch während das Mittel des Grassrootscampaigning bei zivilgesellschaftlichen Gruppierungen eine gewisse Tradition aufweist und daher auch ein anerkanntes Mittel ist, werden ähnliche Aktionen von Unternehmen eher misstrauisch betrachtet, zumal es immer wieder vorkommt, dass die Initiatoren sich nicht offen zu erkennen geben. "Astroturfing" wurde dieses Phänomen getauft, benannt nach dem künstlichen Rasen der Marke Astroturf. Im Zusammenhang mit Grassrootscampaigning bezeichnet Astroturfing den Versuch, durch eine Art künstliche Bürgerbewegung, also künstliche Graswurzeln, den eigenen Forderungen die Legitimität einer breiten Bewegung zu verleihen.
Eines der bekanntesten Beispiele für Astroturfing ist die "Campaign for Creativity" (C4C), eine Kampagne, die 2005 für die Patentierbarkeit von Software auf europäischer Ebene kämpfte. Ins Netz gestellt von einem britischen PR-Manager, warb die Kampagnenseite damit, die Interessen von Künstlern, Designern und Softwareentwicklern zu vertreten.
Auch in Deutschland haben eine Reihe von Unternehmen und Verbänden sich im verdeckten Grassrootslobbying versucht, sei es die Atomlobby mit ihrem Verein "Bürger für Technik" oder die Straßenbauindustrie mit der "Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung". In die Rubrik Astroturfing fallen auch einzelne Kampagnen der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM), eine maßgeblich von der Arbeitgebervereinigung Gesamtmetall finanzierte Organisation. 2007 startete die INSM beispielsweise die Webseite unicheck.de, ohne die Urheberschaft deutlich zu machen. Mit einer Mail - Absender war eine Einzelperson - wurden Studierendenvertretungen aufgefordert, bei den Studierenden Werbung für das Portal zu machen, bei dem Universitäten danach bewertet werden sollten, wie gut oder schlecht sie die Studiengebühren verwenden. Dabei wurde unicheck.de als eine Webseite "von Studenten für Studenten" beschrieben und gleichzeitig die Einführung von Studiengebühren als positive Mitbestimmungsmöglichkeit für Studierende dargestellt.
Einmal aufgedeckt, ernten solche Aktionen fast durchweg ein negatives Presseecho. Den Medien kommt eine wichtige Kontrollfunktion zu, wenn es darum geht, vorgetäuschte Grassrootskampagnen offenzulegen. Die genannten negativen Beispiele zeigen, dass Grassrootscampaigning für Unternehmen und Wirtschaftsverbände nur funktionieren kann, wenn von Anfang an mit offenen Karten gespielt wird. Nur wenn die Quelle und Financiers von Kommunikationsaktivitäten transparent sind, ist die Legitimität des Grassrootslobbying gegeben.
E-Petitionen
Das Internet hat das indirekte Lobbying für Unternehmen, NGOs und Einzelpersonen vereinfacht, aber auch eine Entwicklung auf Seiten des Staates bietet neue Chancen für Grassrootscampaigning: E-Petitionen. Zwar ist das Petitionsrecht keine Neuerung, aber die Möglichkeit, Petitionen über die Website des Bundestages einzureichen und online zu unterzeichnen, ist eine deutliche Vereinfachung des Verfahrens. Zwar werden die meisten Petitionen nach wie vor auf traditionellem Wege eingereicht,
Neue Chancen
Grassrootscampaigning - online oder offline - bietet die Chance, Lobbying eine höhere Legitimation zu verleihen. Voraussetzung dafür ist allerdings die absolute Transparenz. Verfügen Organisationen über eine feste Mitgliederbasis, bieten Grassrootskampagnen die Chance, die eigenen Mitglieder einzubinden und gleichzeitig interessierte Nicht-Mitglieder anzusprechen. Gerade in Zeiten abnehmender Mitgliederzahlen in vielen traditionellen Organisationen ist dies ein wichtiger Aspekt. Durch das Internet ist Grassrootscampaigning für neue wie für etablierte Akteure attraktiver geworden. Vor allem die neuen Social-Web-Anwendungen bieten die Chance, in solchen Kampagnen in einen wirklichen Dialog mit Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern zu treten und sie dadurch zu mobilisieren. Doch diese Chancen werden bisher nur selten wahrgenommen. In Deutschland werden beispielsweise interaktive Internetanwendungen von den klassischen Verbänden kaum genutzt.
Dies wird sich in der Zukunft sicherlich ändern, denn mit dem Internet treten neue Akteure auf die politische Bühne. Die internetbasierten Hybrid-Organisationen, aber auch die offenen Plattformen im Netz haben das Potenzial, eine nicht unbeträchtliche Konkurrenz für traditionelle Verbände und NGOs zu werden, da sie die Möglichkeiten des Internets besser zu nutzen verstehen. Gerade das Beispiel MoveOn.org zeigt, wie aus einem punktuellen Engagement ein dauerhaftes werden kann und welche Bedeutung das Internet für erfolgreiche Grassrootskampagnen spielen kann. Auf der anderen Seite bietet das Internet aber auch denjenigen eine Plattform, die im Sinne des Astroturfing eine Graswurzelbewegung nur vortäuschen und Menschen unter Verschleierung der wahren Interessen für ein bestimmtes Thema mobilisieren wollen.
Insgesamt sind durch das Internet die Möglichkeiten, Menschen einzubinden und zu mobilisieren, vereinfacht worden. Das Internet bietet neue Plattformen sich auszutauschen und zu organisieren, auch fernab von regionalen und nationalen Begrenzungen und vorhandenen Organisationen. Trotzdem werden Mobilisierungskampagnen, die nur über das Netz organisiert werden, sicherlich vorerst die Ausnahme bleiben. Betrachtet man erfolgreiche Internetkampagnen der Vergangenheit, so stellt man fest, dass zu irgendeinem Zeitpunkt die Massenmedien auf das Thema aufmerksam wurden und erheblich zum letztendlichen Erfolg beigetragen haben. Massenmedien bleiben der wichtigste Multiplikator, um Themen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.