Einleitung
Gemessen an den Überschriften zahlreicher Veröffentlichungen, scheint sich auf europäischer Ebene eine besondere, gleichzeitig aber auch eine besonders dominante Form der Vertretung von Interessen entwickelt zu haben. Berichtet wird beispielsweise von der "Herrschaft der Lobbyisten in der Europäischen Union?",
Dass sich auf europäischer Ebene ein derart ausdifferenziertes System der Interessenvertretung mit einer Vielzahl unterschiedlicher Organisationen etablieren würde, galt in den frühen Jahren des Integrationsprozesses keinesfalls als ausgemacht. Auch war lange Zeit nicht abzusehen, welche Struktur das europäische System der Interessenvermittlung annehmen würde. Die Herausbildung des Regierungssystems der EU als eine komplexe und dynamische Mehrebenenstruktur hat die Entstehung eines vielschichtigen und uneinheitlichen Systems der Interessenvermittlung mit vielfältigen Wechselwirkungen zu seinen mitgliedstaatlichen Pendants nach sich gezogen. In diesem System blieben nationale Strukturmuster und Besonderheiten erhalten, und auch auf europäischer Ebene existieren unterschiedliche Arrangements nebeneinander. Metaphorisch kann man von einem "Mosaik der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem der EU"
Politische Gelegenheitsstrukturen organisierter Interessen
Das wechselseitige Verhältnis zwischen staatlichen und privaten Akteuren hängt in seiner Komplexität immer von den Gegebenheiten des jeweiligen politischen Systems ab. Bei der EU handelt es sich um ein politisch-institutionelles Gebilde, das extrem komplex und von einer hohen Entwicklungsdynamik gekennzeichnet ist. Zudem ist das Institutionengefüge der EU sowohl vertikal in unterschiedliche staatliche Ebenen mit geteilten, hochgradig verflochtenen Verantwortlichkeiten als auch horizontal in seiner politischen Entscheidungsstruktur auf europäischer Ebene stark ausdifferenziert. Dies ist das Ergebnis einer kontinuierlichen Verlagerung staatlicher Kompetenzen auf die europäische Ebene sowie einer parallelen Herausbildung von Institutionen und Entscheidungsprozessen der EU.
Charakteristisch für das europäische System ist die Aufteilung politischer Autorität auf mehrere staatliche Ebenen mit geteilten Verantwortlichkeiten, ohne dass einer dieser Ebenen eine übergeordnete Entscheidungskompetenz zufällt.
Eine Besonderheit ist zudem, dass die legislativen und exekutiven Kompetenzen nicht von jeweils einem der EU-Organe exklusiv, sondern von der Europäischen Kommission, dem Rat und dem Europäischen Parlament gemeinsam wahrgenommen werden. Infolge der allmählichen Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf die Gesetzgebungsaktivitäten unterschiedlicher Politikbereiche hat sich das Parlament mehr und mehr zu einem dem Rat gleichberechtigten Legislativorgan entwickelt.
Entsprechend offen sind alle drei Organe für die Belange organisierter Interessen unterschiedlichster Couleur. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments erhoffen sich vom Kontakt zu Interessenvertretern nicht nur den Zugang zu Spezialwissen, sondern auch eine Rückbindung an die Unionsbürger und ihre Belange. Dies befördert intensive Kontakte zu den Repräsentanten unterschiedlichster Interessen, darunter in überproportional hohem Maße auch zu Vertretern allgemeiner Interessen wie etwa Umwelt- und Verbraucherschutzorganisationen.
Akteure und ihre Strategien
Analog zum europäischen Regierungssystem ist auch das Interessenvermittlungssystem der EU durch eine hohe Komplexität und Vielfältigkeit sowie eine dynamische Entwicklung gekennzeichnet, wobei ein enger historischer Zusammenhang zwischen den Meilensteinen des europäischen Integrationsprozesses sowie der Entstehung und Ausdifferenzierung der Interessenvertretung auf europäischer Ebene unterstellt werden kann. Insbesondere mit der 1987 in Kraft getretenen Einheitlichen Europäische Akte und der damit in Gang gesetzten Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes wird eine quantitative Zunahme organisierter Interessen auf europäischer Ebene in Verbindung gebracht, die mit einer auch qualitativen Veränderung der Interessenrepräsentation und einer Etablierung neuer Akteure einherging. Da der europäische Integrationsprozess zunächst in erster Linie ein wirtschaftlicher war, waren Wirtschaftsverbände die ersten Lobbygruppen auf europäischer Ebene. Parallel zur Vertiefung und Ausdehnung des Integrationsprozesses auf zusätzliche Politikfelder zogen weitere Verbandsarten, aber auch neue Akteure wie Beratungsfirmen, Denkfabriken, Anwaltskanzleien und einzelne Großunternehmen nach, was für eine "Zunahme der Formenvielfalt des Lobbying"
Welche Auswirkungen diese Entwicklung auf den Charakter der europäischen Interessenvertretung hat, kann auch auf Basis bisheriger empirischer Untersuchungen bestenfalls spekulativ beantwortet werden. Zwar spricht vieles dafür, dass die Rolle von Verbänden gegenüber anderen Interessenorganisationen auf europäischer Ebene im vergangenen Jahrzehnt an Wichtigkeit eingebüßt hat. Andererseits wird in vielen Untersuchungen hervorgehoben, dass das Verhältnis zwischen verbandlicher und außerverbandlicher Interessenrepräsentanz als ein überwiegend komplementäres beschrieben werden kann, das von individuellen Spezialisierungsvorteilen profitiert, und dass europäische Muster der Interessenvermittlung von rein individualistischen Strategien weit entfernt sind.
Eine Übersicht über die Bandbreite der auf EU-Ebene aktiven Interessenorganisationen und über die Anzahl der für diese Organisationen tätigen Lobbyistinnen und Lobbyisten ist auf Schätzungen angewiesen. Zwar existieren unterschiedliche Nachschlagewerke, doch fokussieren diese immer nur auf einen Ausschnitt der Interessenvertretungslandschaft.
Schätzungen der Anzahl der in Brüssel ansässigen Interessenorganisationen variieren erheblich, zuverlässige Taxierungen sind rar. Simon Hix zufolge gab es 2001 auf EU-Ebene insgesamt 2309 derartige Organisationen, darunter 1450 Verbände unterschiedlicher Art, 250 Großunternehmen mit eigenen Vertretungsbüros, 171 regionale Vertretungsbüros individueller EU-Mitgliedstaaten, 170 nationale Interessengruppen, 143 kommerzielle Beratungsunternehmen und 125 Rechtsanwaltskanzleien.
Den im europäischen Mehrebenensystem aktiven Interessenorganisationen stehen mit den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten und deren Ständigen Vertretungen in Brüssel sowie dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission zwei unterschiedliche staatliche Zugangsebenen für die Einflussnahme auf europäische Politikformulierungsprozesse zur Verfügung.
Für die Auswahl der jeweiligen Lobbyingstrategien können unterschiedliche Faktoren verantwortlich gemacht werden. Hierbei ist anzunehmen, dass neben Effizienzüberlegungen auch territoriale und funktionale Kriterien sowie, zumindest für nationale Verbände, auch deren Einbettung in nationale Muster der Interessenvermittlung eine Rolle spielen. Darüber hinaus dürften auch institutionelle Kriterien des politischen Systems der EU von Bedeutung sein, beispielsweise die Mehrheitserfordernisse unterschiedlicher Entscheidungen des Rats der EU. Zudem wird es mit fortschreitenden Verhandlungen eines Legislativvorhabens zwischen den EU-Organen immer schwieriger, eigene Positionen wirkungsvoll zu platzieren, was möglichst frühzeitige Einflussversuche bereits im Entstehungsstadium nahelegt.
In zahlreichen Artikeln zum Lobbyismus auf europäischer Ebene wird allein aus der quantitativen Dominanz von Wirtschaftsinteressen sowie einer stark ungleichgewichtig verteilten Ressourcenausstattung unterschiedlicher Interessearten häufig implizit, gelegentlich auch explizit auf eine auch inhaltliche Einflussdominanz geschlossen. Diese Gleichsetzung ist allerdings äußerst fraglich, zumal der tatsächliche Einfluss organisierter Interessen auf politische Entscheidungsträger und die Ergebnisse politischer Verhandlungsprozesse nicht messbar sind.
Sicherlich kann nicht geleugnet werden, dass eine bessere Ressourcenausstattung intensivere Aktivitäten und die Bereitstellung gezielterer Dienstleistungen für Entscheidungsträger ermöglicht, etwa in Form von Gesetzesentwürfen, Gutachten oder gezielt aufbereiteten Hintergrundinformationen.
Mark A. Pollack betont, dass sich insbesondere für ressourcenschwächere Interessenvertreter wie etwa Verbraucherschutz-, Umweltschutz- oder Menschenrechtsverbände im europäischen Mehrebenensystem einerseits zusätzliche Chancen, andererseits aber auch einschränkende Risiken ergeben können.
Transparenz bei der Vertretung von Interessen
Nichtsdestotrotz wächst das öffentliche Unbehagen gegenüber dem Miteinander von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Nicht die Vielfalt organisierter Interessen sei ursächlich hierfür, sondern deren unregulierte und intransparente Mitwirkung an der Gestaltung von Politik, wie ein Ausschussbericht der Parlamentarischen Versammlung des Europarats jüngst vermerkte.
Um Forderungen unterschiedlicher Interessenvertreter verorten, wägen und in Perspektive setzen zu können, ist es sowohl für die Öffentlichkeit wie auch die politischen Entscheidungsträger wichtig, das Verhältnis zwischen Vertretern organisierter Interessen und staatlichen Institutionen möglichst nachvollziehbar zu gestalten und den Hintergrund organisierter Interessenvertretung zu beleuchten. Zudem setzt das öffentliche Vertrauen in die Legitimität staatlicher Entscheidungen Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit voraus, doch ist diese Transparenz bei der Vertretung von Interessen auf europäischer Ebene, aber auch auf Ebene der Mitgliedstaaten bislang nicht gegeben. Insbesondere der organisatorische wie finanzielle Hintergrund der Tätigkeit organisierter Interessen bleibt im Dunkeln.
Bereits 1989 begann das Europäische Parlament sich mit den Auswirkungen von Lobbyismus kritisch auseinanderzusetzen. Ihm folgte 1992 die Europäische Kommission. Beide Organe problematisierten Aspekte der Offenheit, Transparenz und Verantwortlichkeit des europäischen Entscheidungsprozesses mit dem Ziel, die Akzeptanz ihrer Politik unter den Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen. Aufsehen erregte insbesondere das von der Kommission im Juli 2001 verabschiedete Weißbuch "Europäisches Regieren", das die Grundsätze der Offenheit, der Partizipation, der Verantwortlichkeit, der Effektivität und der Kohärenz zu Orientierungspunkten von gutem Regieren erklärte.
Hoffnungen auf eine Verbesserung der Situation gründeten sich auf die im November 2005 vollmundig gestartete Europäische Transparenzinitiative der Kommission, zu der auch das am 23. Juni 2008 im Internet eingerichtete Register der Interessenvertreter gehört. Dieses Register richtet sich neben Verbänden ganz allgemein an Interessenorganisationen unterschiedlicher Kategorien auf EU-Ebene, darunter an Anwaltskanzleien, Denkfabriken, Beratungsunternehmen und Gewerkschaften. Kritiker bemängeln allerdings den weiterhin bloß freiwilligen Charakter des Kommissionsregisters, die nur vage definierten Vorgaben zur Offenlegung insbesondere finanzieller Angaben der Interessenvertreter sowie den unklaren Sanktionsmechanismus im Falle falscher oder unvollständiger Angaben. Das Ergebnis sei bestenfalls "eine Illusion von Transparenz",
Zu einem solchen Schritt, der in seiner Umsetzung und vor allem Durchsetzung unter der Vielzahl von Interessenvertretern auf europäischer Ebene zweifellos nicht einfach wäre, scheint der Kommission jedoch bislang der Mut und die politische Entschlusskraft zu fehlen. Zwar bekräftigte das Europäische Parlament in einer weit beachteten Entschließung im Mai 2008 nicht nur sein Interesse an einem gemeinsamen Lobbyregister der EU-Institutionen, sondern auch die Notwendigkeit seiner verpflichtenden Ausgestaltung sowie die Einbeziehung finanzieller Offenlegungspflichten. Dennoch hält die Kommission trotz einer ursprünglich selbst erwogenen Registrierungspflicht bislang an der freiwilligen Ausgestaltung und somit der Variante mit deutlich geringeren Widerständen fest, obgleich binnen Jahresfrist bestenfalls ein Viertel der in Brüssel ansässigen Interessenvertreter registriert war und Anwaltskanzleien sowie Denkfabriken im Register fast vollständig fehlten.
Es bleibt abzuwarten, ob sich mit der im Februar 2010 neu ins Amt gekommenen EU-Kommission ein Umdenken in dieser Frage einstellt. Zweifelsohne würde eine verbesserte Transparenz des Mosaiks europäischer Interessenvertretung nicht nur die Legitimität des Miteinanders von organisierten Interessen und den EU-Institutionen in den Augen der Öffentlichkeit steigern, sondern über die damit verbundene Zunahme der demokratischen Qualität des europäischen Regierungssystems auch dazu beitragen, die Akzeptanz europäischer Politik unter den Bürgerinnen und Bürgern Europas zu erhöhen.