Einleitung
Wer die ARD als Begleiterin deutscher Zeitgeschichte beschreiben will, muss sich darüber klar sein, was Begleitung in diesem Zusammenhang bedeutet. Rundfunk, öffentlich-rechtlicher zumal, hat die Aufgabe, Sachverhalte sachlich darzustellen und bewertend einzuordnen. Er tut dies im Dienste des Publikums zu dessen Information, der Voraussetzung für das Handeln als Bürger in einer Demokratie. Zeitgeschichte bezieht sich dabei nicht nur auf Sachverhalte, die von historischer Relevanz sind oder werden können, nicht nur auf die Politik im engeren Sinne, sondern auf alle Lebensverhältnisse, die für die Bildung öffentlicher Meinung erheblich sind.
Was zeitgeschichtlich geschieht, wird von den Medien dem Publikum vermittelt. Der Rundfunk ist dabei, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Fernsehurteil vom 28. Februar 1961 festgestellt hat - eine Erkenntnis, an der das Gericht fortan in ständiger Rechtsprechung festhält -, Medium und Faktor zugleich. Das heißt, der Rundfunk (bislang bezogen auf Hörfunk und Fernsehen) ist nicht nur Mittler und Verteiler, sondern auch in all seinen Programmen ein eminenter Faktor der öffentlichen Meinungsbildung. Eine solche Begleiterin schreitet nicht distanziert neben dem zeitgeschichtlichen Geschehen einher, sondern greift auch kraft medialer Wirkungsmacht willentlich oder unwillentlich in das Geschehen ein. Dabei kann sich erweisen, dass die Begleiterin nicht eingreifen will, es aber trotzdem ihrer Wirkungskraft wegen tut, oder dass sie eingreifen möchte, aber nicht kann, weil die Wirkungskraft sich nicht entfaltet. Im Folgenden soll an einigen herausragenden Beispielen gezeigt werden, welche Rolle die ARD in den 60 Jahren ihres Bestehens als Begleiterin gespielt hat.
Wiedervereinigung
Das wichtigste zeitgeschichtliche Ereignis in diesem historischen Abschnitt war die deutsche Wiedervereinigung. Die Programme der ARD waren von Anfang an Rundfunk für die deutsche Einheit. Dies galt auch für die Zeit, in der nicht wenigen Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, auch ARD-Redakteuren, das Streben nach Wiederherstellung der deutschen Einheit als unrealistisch oder gar als nicht wünschenswert galt. Insbesondere das öffentlich-rechtliche Fernsehen aus Westdeutschland hatte zwischen dem Mauerbau 1961 und dem Mauerfall 1989 eine große gesamtdeutsche Bedeutung.
Die DDR-Führung hatte eingesehen, dass der Empfang westdeutscher Fernsehprogramme in der DDR nicht zu verhindern war und zog sich auf ein Verbot der Weiterverbreitung westlicher Informationen zurück. Das war eine informationspolitische Kapitulation. Das von der DDR-Führung angestrebte Informationsmonopol der eigenen Medien ließ sich nicht verwirklichen. Stattdessen war sie darauf verwiesen zu reagieren, zu dementieren, abzustreiten und versuchte, die Glaubwürdigkeit westlicher Medien zu beschädigen. Der Erfolg einer solchen Politik setzt aber eigene Glaubwürdigkeit voraus, und die besaß die Staats- und Parteiführung bei der DDR-Bevölkerung nicht. Die DDR-Medien kamen in die Situation, westliche Nachrichten entweder aufzugreifen, um sie zu bekämpfen, oder ihre Kenntnis beim Publikum vorauszusetzen. Damit verlor die DDR ihre informationspolitische Souveränität, wie sie sie sich vorgestellt hatte, und die sie für die Erziehung der Bevölkerung zum Sozialismus für erforderlich hielt. Die Erkenntnis, dass moderne Kommunikationsmittel grenzenlos sind, und dass der Versuch, sich dagegen abzuschotten, untauglich ist, kam der DDR-Führung zu spät.
Den Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten und die Aufnahme in die Vereinten Nationen im Jahr 1973 verstand die DDR-Führung als Anerkennung der Souveränität des von ihr beherrschten Landes. Gleichzeitig bewirkte die Zulassung westdeutscher Korrespondenten in Ost-Berlin einen weiteren Bedeutungsverlust der DDR-Medienpolitik. Es entstand nämlich eine in Ost und West gleichermaßen wahrgenommene innenpolitische Berichterstattung aus der DDR, die es bis dahin nicht gegeben hatte und die nicht dadurch zu verhindern war, dass die DDR-Behörden die Korrespondenten der ARD und anderer bundesdeutscher Medien ständig drangsalierten. Das Motto der westdeutschen Entspannungspolitik gegenüber Ost-Berlin lautete von Willy Brandt bis zu Helmut Kohl (insofern herrschte da Kontinuität): "Die DDR nicht destabilisieren." Die westdeutschen Korrespondenten in der DDR orientierten sich an dieser Grundhaltung der Bundesrepublik. Doch natürlich enthielt ihre Berichterstattung Elemente, die die DDR als Destabilisierungsversuch ansah, zum Beispiel die Berichte über die sich herausbildende Opposition, zu einem nicht unerheblichen Teil unter dem Dach der evangelischen Kirche.
Die Korrespondenten der ARD, wie andere auch, nahmen die oppositionellen Kräfte ernst. Demgegenüber suchte die SPD gemeinsam mit der SED nach einer Streitkultur für Gespräche miteinander, und die westdeutschen Länder-Ministerpräsidenten standen Schlange, um dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker ihre Aufwartung zu machen. Niemand konnte die DDR daran hindern, sich selbst zu destabilisieren, auch wenn das nicht das Ziel der Bonner Politik und einer begleitenden Berichterstattung war. Ihre größten Stunden hatte die Fernsehberichterstattung der ARD über die Demonstrationen 1989, die schließlich zum Sturz des Regimes führten. Hier waren die Korrespondenten nicht nur Begleitung, sondern Mitakteure, bot doch die Anwesenheit westlicher Fernsehkameras und die tagesaktuelle Berichterstattung in der "Tagesschau" den Demonstranten auch einen gewissen Schutz. Die Berichte über die Friedliche Revolution, den Mauerfall und den Weg bis zur Wiedervereinigung 1990 waren Höhepunkte und Abschluss einer Begleitung bis zum Ende der DDR.
Umgang mit der NS-Vergangenheit
Die DDR hatte sich dafür gerühmt, dass der Antifaschismus ihre Staatsräson sei. Sie nahm für sich in Anspruch, die nationalsozialistische Vergangenheit bewältigt zu haben und sich gewissermaßen auf der Seite der Sieger über den Faschismus zu finden, während alle Schuld für Nichtbewältigung, ja ein Fortleben dieser Vergangenheit der Bundesrepublik anzulasten sei. Der Antifaschismus der DDR war freilich einer, bei dem die Bestimmung, wer zu den Antifaschisten gehöre, in der Hand der kommunistischen Bewegung lag. Antifaschismus in der DDR-Interpretation war auch ein Kampfbegriff zur Diffamierung der Bundesrepublik.
Diese verstand ihr Grundgesetz geradezu als einen Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete in seinem Urteil vom 4. November 2009, welches das Verbot der Friedensstörung durch öffentliche Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung des NS-Regimes als verfassungskonform bestätigte, die nationalsozialistische Herrschaft als für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik von "gegenbildlich identitätsprägender Bedeutung, die einzigartig ist".
Von dieser Grundposition aus und in Begleitung der sich daraus ergebenden Politik setzte sich die ARD kontinuierlich und umfassend mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinander. Im Fernsehen geschah dies mit Dokumentationen, auch Dokumentarreihen ("Europa unterm Hakenkreuz", 1982/83) und Spielhandlungen. Gemeinsames Merkmal dieser Programme war ein aufklärerisch-pädagogischer Ansatz. Er erschien dem öffentlich-rechtlichen Charakter angemessen, auch wenn das Publikum nicht selten zurückhaltender reagierte, als es die Programmverantwortlichen erwartet hatten.
Deshalb gab es in der ARD zunächst Vorbehalte gegen die Übernahme des amerikanischen Mehrteilers "Holocaust" (1978), der die Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten mit den Mitteln emotionsbetonter Dramaturgie zeigte. Auf Drängen des Westdeutschen Rundfunks wurde "Holocaust" zunächst in den Dritten Fernsehprogrammen der ARD gezeigt. Der Erfolg war außerordentlich. Die positive Reaktion des Publikums ließ erkennen, dass es durch eine emotionsstarke personalisierte Darstellung von Figuren, mit denen man sich leicht identifizieren konnte, einen Zugang zur Erkenntnis des Schreckenscharakters und der Dimension der Judenverfolgung fand, der ihm bisher so nicht geboten worden war.
Deutsche Fernsehautoren und -produzenten haben sich von "Holocaust" inspirieren lassen, ohne dramaturgische Amerikanismen zu kopieren. Die Erweiterung des Erkenntniszugangs zum Charakter nationalsozialistischer Untaten dürfte im Verhältnis zur partiellen Abkehr von belehrender Dramaturgie als Gewinn zu verzeichnen sein. Die Klage, jetzt schleiche sich die Unterhaltung auch noch in die Darstellung der Verbrechen des NS-Regimes ein, greift zu kurz. Die Akzentveränderung in diesem Abschnitt der ARD-Begleitung für Zeitgeschichte kam aus der ARD selbst und diente ihrer Begleitfunktion.
Europa
Eine verstärkte erkenntnisfördernde Zugangserweiterung zum Thema Europa/Europäische Union als Begleitung der deutschen Europapolitik wäre im Interesse des Publikums wünschenswert. Der Korrespondentenplatz Brüssel ist deutscherseits reichhaltig besetzt. Die dort stationierten Berichterstatter sind für viele Redaktionen beinahe Inlandskorrespondenten. Gleichwohl verengt sich die Berichterstattung - auch die ARD ist davon nicht frei - auf die thematischen Zugänge Deutschlandbezug und Verbrauchernutzen. Die Finanzmisere Griechenlands mit ihren tatsächlichen oder befürchteten Folgen für die Europäische Union ist einer der wenigen Fälle, in denen die großen Zusammenhänge dem Publikum deutlicher werden.
Die Verengung auf Deutschlandbezug und Verbrauchernutzen verleitet zu der Publikumsreaktion, vorrangig darauf zu achten, ob Deutschland schon wieder zu viel bezahlen muss und an Einfluss zu kurz kommt oder sich Brüssel mit seiner Harmonisierungsfixierung erneut lästige Detailregulierungen für Verbraucher hat einfallen lassen. Ein spannender realitätsgerechter Fernsehfilm über Machtverhältnisse und Machtkämpfe in Brüssel könnte ebenso Verständnishilfe bieten wie eine intelligente und verständliche dokumentarische Darstellung, wer nun in den obersten Rängen der Europäischen Union, die etwas überbesetzt erscheinen, tatsächlich für was zuständig ist.
1968
Der Rundfunkhistoriker und langjährige Intendant des (inzwischen im Südwestrundfunk aufgegangenen) Süddeutschen Rundfunks Hans Bausch meinte, das Rundfunksystem eines Landes sei Spiegel seines Staatswesens. Er bezog diese Aussage auf die Organisation des Rundfunks und sein Verhältnis zum Staat. Man kann dies dahin ergänzen, dass das Rundfunkprogramm, nicht zuletzt das Fernsehprogramm, ein Spiegelbild des jeweiligen Zustandes der Gesellschaft des betreffenden Landes ist. Diese Aussage wird dann interessant - und brisant -, wenn die Gesellschaft gespalten ist. Das kann politische oder wirtschaftliche Gründe haben oder eine Gemengelage von Ursachen.
Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist eine gesellschaftliche Integrationsaufgabe zugewiesen. Kann er die wahrnehmen, wenn er in einer gesellschaftlichen Konfrontationssituation Partei ergreift? Gelegentlich wird behauptet, das Fernsehprogramm (bis zum Auftreten des ZDF im Jahre 1962 war es allein das der ARD) sei in Konrad Adenauers Zeit behäbiger gewesen als später. Freilich hielt der Bundeskanzler den politischen Teil des ARD-Programms für zu aufsässig und zu links. Deshalb wollte er mit einem formal privatrechtlichen, tatsächlich aber vom Bund geleiteten "Deutschland-Fernsehen" ein politisches Gegengewicht schaffen. Das Bundesverfassungsgericht verhinderte dies, indem es dem Bund die Zuständigkeit für den Rundfunk (Auslandsrundfunk ausgenommen) absprach. So behäbig kann die ARD also nicht gewesen sein.
Die durch das Stichwort 1968 gekennzeichnete gesellschaftliche Situation in der Bundesrepublik war konfrontativ. Die Ideen der außerparlamentarischen Opposition, der nicht nur gegen die universitäre Autorität aufbegehrenden Studenten, die neuen Vorstellungen von Erziehung und dem Verhältnis der Geschlechter zueinander fanden nicht durchgängig, aber auffällig sympathisierende Berücksichtigung in ARD-Programmen, nicht zuletzt im Fernsehen. Freilich strahlte der Norddeutsche Rundfunk, dessen politisches Magazin "Panorama" sich an der Spitze des Fortschritts wähnte, auch den Fernsehfilm "Alma mater" (1969) von Dieter Meichsner und Rolf Hädrich aus, eine scharfe Abrechnung mit dem autoritären Gehabe von Studenten, die sich als antiautoritär ausweisen wollten.
Die die neuen Ideen vorantreibenden Redakteure wollten nicht eine gesellschaftspolitische Entwicklung begleiten oder registrieren, sondern sie aktiv fördern. Gern wird gesagt, die Auseinandersetzungen um die Ideen von 1968 hätten den öffentlichen Diskurs gefördert. Wenn das so war, dann war das jedenfalls nicht das Ziel des harten Kerns der Achtundsechziger, die nicht eine debating society wollten, sondern in Diskussionen nur ein Mittel sahen, Gegner niederzumachen. Jedenfalls wirkten die großen Erregungen von 1968 nicht allzu lange nach. Das ARD-Programm nahm seinen Kurs der kritischen Begleitung deutscher Politik wieder auf, ohne in Behäbigkeit zu verfallen oder sich zu entpolitisieren. Auf die Bundesrepublik kam eine neue Herausforderung zu, mit der sich auch die ARD auseinanderzusetzen hatte: der Terrorismus.
Terrorismus
Im Fall der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch Terroristen (27. Februar 1975) trat die ARD, wie das ZDF, aus der Rolle der Begleiterin der Politik heraus. Die Entführer verlangten die Freilassung mehrerer inhaftierter Gesinnungsfreunde, den Abflug der Freigelassenen ins Ausland sowie die Übertragung des Abflugs in Hörfunk und Fernsehen und die Ausstrahlung von Stellungnahmen der Freigelassenen im Programm. Würden diese Bedingungen nicht erfüllt, so werde Lorenz sterben.
Bundesregierung und öffentlich-rechtlicher Rundfunk gaben der Erpressung durch die Terroristen nach, Lorenz kam frei. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 7. März 1975 schrieb Robert Held: "Die Demütigung des Staates wurde in der elektronischen Walhall der Nation vollzogen." Aber hätten sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten entziehen können, wenn die Bundesregierung bereit war nachzugeben? Der damalige ARD-Programmdirektor Hans Abich sah im Fall Lorenz das Fernsehen in der Rolle des "genötigten Nothelfers".
ARD und ZDF hatten die Bundesregierung in die Demütigung durch Terroristen begleitet. Nach der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer war Bundeskanzler Helmut Schmidt entschlossen, dass sich ein Nachgeben nicht wiederholen sollte. Schleyer wurde ermordet.
Duales Rundfunksystem
In einer essentiellen eigenen Angelegenheit wäre die ARD wohl gern aus einer Begleitrolle, die in Wahrheit eine Objektrolle war, herausgetreten, zumindest mit einer Beeinflussung des Meinungsklimas zu ihren Gunsten. Gegen die Pläne der Politik, vornehmlich der CDU, privatwirtschaftlichen Rundfunk einzuführen, konnten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nichts unternehmen, was zur Verhinderung der Realisierung dieser Pläne geführt hätte. Das generelle Meinungsklima bewegte sich nicht zu Gunsten einer Fortsetzung der Alleinstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Wäre eine solche Mobilisierung möglich geworden, und hätte sie sich politisch durchgesetzt, so wäre sie ein Pyrrhussieg gewesen. Kommerzielles Fernsehen in deutscher Sprache mit deutscher Werbung hätte Deutschland von außen überflutet.
Mit der Zulassung privatwirtschaftlicher Rundfunkveranstalter hat die ARD (wie das ZDF) auch bei der Begleitung deutscher Politik Konkurrenz erhalten. So lange es den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt, verlangt das Gesetz freilich auf diesem Gebiet geringere Anstrengungen der Privaten. Sie haben eigene Begleitakzente gesetzt, die ihrem wirtschaftlichen Auftrag entsprachen: Personalisierung, Vorrang von human touch, Skandalisierung.
In den Grenzen ihres Auftrags hat die ARD in ihren Programmen vor allem die Personalisierung stärker berücksichtigt. Auch ihre Talkshows haben dazu beigetragen, unter den Politikern die Klasse der durch dieses Programmformat Begünstigten, weil immer wieder vorrangig Eingeladenen, zu schaffen, mit einem Gefolge von mitbegünstigten Nichtpolitikern, bei denen die Auswahl gelegentlich willkürlich erscheint.