Einleitung
Der Anfang März ausgeschiedene UN-Sondergesandte für Afghanistan Kai Eide hat bei seinen letzten öffentlichen Auftritten vor einer "Militarisierung unserer Gesamtstrategie in Afghanistan" gewarnt. Er plädierte für die "dringende Notwendigkeit, mehr politischen Sauerstoff in die nichtmilitärischen Bereiche unserer Partnerschaft zu injizieren".
Mit Hilfe der neuen Truppen soll eine Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche gegenüber der Aufstandsbewegung umgesetzt werden, die einerseits Verhandlungen und eine freiwillige "Reintegration" anbietet, während sie gleichzeitig darauf zielt, sie militärisch zu schwächen. Aufgabe dieser nun "auf die Bevölkerung orientierten" Strategie zur Aufstandsbekämpfung ist es nicht mehr in erster Linie, Taliban zu jagen und zu töten, sondern ihnen die Kontrolle über Bevölkerungszentren zu entreißen (clear), diese Gebiete zu schützen (hold) und dort effiziente Verwaltungsstrukturen zu etablieren sowie Wiederaufbauprogramme in Gang zu bringen (build).
Dazu kommen als Strategieelemente ein deutlicher quantitativer und qualitativer Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte (die Nationalpolizei soll auf 134000 Mann, die Armee sogar auf 171000 aufgestockt werden), verstärkte Anstrengungen im Bereich des zivilen Wiederaufbaus sowie ein integrativer Ansatz für Afghanistan und sein Nachbarland Pakistan - obwohl das gleichmacherische Akronym "AfPak" dafür inzwischen wieder fallen gelassen wurde.
Zivil-militärische Ansätze
Zivile Ansätze können mit den Truppenverstärkungen bisher jedoch nicht Schritt halten. Die US-Regierung hat erhebliche Probleme, genügend ziviles Personal für Afghanistan zu rekrutieren.
Zudem haben aufgrund der schlechten Sicherheitslage alle zivilen Akteure enorme Zugangsprobleme. In den ruralen Problemdistrikten Süd-Afghanistans können sich ausländische zivile Berater nur in gepanzerten Konvois, geschützt von einem massiven Militäraufgebot und oft nur in Uniform bewegen. Das lässt sie in den Augen der Zivilbevölkerung mit dem Militär verschmelzen, mit dem sie oft schlechte Erfahrungen gemacht hat. Bombardierungen, willkürliche Festnahmen und Deportationen in das "System Guantanamo" sowie die zumindest zeitweilige Verwendung von NRO-Insignien wie grüne Nummernschilder durch Spezialkräfte haben viele Afghanen misstrauisch werden lassen. Das stellt die zentrale Annahme der Strategie McChrystals in Frage, wonach sich die Afghanen noch von westlichen Truppen schützen lassen möchten. Gleichzeitig werden dadurch selbst UN- und NRO-Helfer - als mögliche Spione - zu Anschlagszielen. Afghanische Behördenvertreter gelten den Taliban ohnehin als "legitime Ziele".
Dasselbe gilt - wenn auch abgestuft - für den Landesnorden, in dem Deutschland vorrangig aktiv ist und auf den sich die deutsche Entwicklungszusammenarbeit konzentriert, die sich in diesem Jahr auf 240 Millionen Euro verdoppeln wird. Doch bereits jetzt mussten sich staatliche wie nichtstaatliche Organisationen aus Sicherheitsgründen weitgehend von dort zurückziehen.
Zudem ist fraglich, ob paschtunische Bauern landwirtschaftliche Expertise aus den USA brauchen - oder nicht vielmehr Verteilungsstrukturen für ertragreiches Saatgut, Düngemittel und Kleinkredite sowie Marktzugang, was ihnen ein sicheres (auch einkommenssicheres) Wirtschaften ermöglichen würde. Dafür wiederum wären in erster Linie effiziente afghanische Regierungsstrukturen vonnöten.
Politisch-diplomatische Ansätze
Jüngste Untersuchungen eines Teams um Andrew Wilder von der Tufts University in mehreren afghanischen Provinzen haben ergeben, dass die finanzielle Mittelaufstockung - allein die in Verfügung der Kommandeure der US-amerikanischen Provincial Reconstruction Teams stehenden Fonds sollen sich auf 1,2 Milliarden Dollar fast verdoppeln - "für die US-Anstrengungen zur Aufstandsbekämpfung kontraproduktiv oder, im besten Fall, nicht hilfreich sein könnten". Der renommierte Autor zitiert einen afghanischen Stammesführer: "Geld kann nicht Herzen und Hirne gewinnen. Wenn du einem Afghanen eine Mahlzeit gibst, ihn aber beleidigst, wird er nie wieder kommen. Aber wenn du ihn mit Respekt behandelst, selbst wenn du ihm nur ein Stück Brot gibst, wird er für immer dein Freund sein."
Währenddessen sind politisch-diplomatische Ansätze zur Konflikteindämmung bereits unter die Räder des military surge gekommen. Die Taliban verstehen die Truppenverstärkungen als Kriegserklärung. Unter diesem Druck haben sie ihre Reihen wieder geschlossen und die verhandlungsbereite Strömung mundtot gemacht. Ein Übriges tat die Welle von Verhaftungen führender Taliban durch Pakistans Militärführung im Februar und März dieses Jahres, die auch den De-facto-Chef der afghanischen Taliban-Bewegung Mullah Abdul Ghani Baradar traf. (Taliban-Führer Mulla Muhammad Omar hält sich verborgen und tritt nur mit sporadischen Erklärungen an die Öffentlichkeit, deren Autorenschaft nicht zweifelsfrei ist.) In Washington wurden die Verhaftungen offiziell begrüßt. Der AfPak-Sondergesandte Richard Holbrooke nannte sie einen "weiteren Höhepunkt der pakistanisch-amerikanischen Zusammenarbeit". Bruce O. Riedel, ein ehemaliger Diplomat und CIA-Mitarbeiter, der im Frühjahr 2009 die erste Politikreview der Obama-Administration geleitet hatte, sprach von einem "Gezeitenwechsel im Verhalten Pakistans", Außenministerin Hillary Clinton jüngst bei einem Besuch in Islamabad von einem "neuen Tag" im bilateralen Verhältnis.
Erste Kanäle des Dialogs wurden damit wieder zugeschüttet. In den Jahren 2008 und 2009 hatten die Taliban in offiziellen Stellungnahmen deutlich zu machen versucht, dass sie al-Qaidas Agenda nicht teilen und Nachbar- sowie andere Länder nicht bedrohen. In einem Interview im Jahr 2007 erklärte Mullah Omar: "Wir haben niemals die Notwendigkeit für permanente Beziehungen (mit al-Qaida) verspürt." Im Mai 2010 setzte der Sprecher der Bewegung Zabihullah Mujahed hinzu: Die Taliban sind "eine Sache und al-Qaida eine andere. Sie sind global(,) wir (agieren) nur in der Region". Im Herbst 2009 hieß es: "Wir hatten niemals eine Agenda, anderen Ländern, einschließlich Europas, zu schaden, noch haben wir heute solch eine Agenda." In einem Offenen Brief an den Gipfel der Shanghai Cooperation Organisation im vergangenen Jahr sprachen sie sich für "gute und positive Beziehungen mit allen Nachbarn auf der Basis gegenseitigen Respekts" und für "konstruktive Interaktion (...) für eine permanente Stabilität und ökonomische Entwicklung in der Region" aus.
Über nichtöffentliche Kommunikationskanäle signalisierte das Umfeld Baradars, dass diese Strömung der Taliban versteht, dass sie den Konflikt militärisch nicht gewinnen können, die Kosten an zivilen Opfern zu hoch und zudem die Selbstmordattentate gegen Zivilisten "unislamisch" sind. Es wäre fatal, die Taliban nicht beim Wort zu nehmen und in einen Gesprächsprozess einzubinden. Wenn sie dazu stehen, könnten sie sich auch in anderen Fragen als kompromissbereit erweisen - wenn nicht, entlarven sie sich öffentlich.
Verhandlungen mit Taliban?
Insgesamt versuchen die Taliban sogar, nach außen und innen als offizielle Konfliktpartei und legitime Fortsetzung des ihrer Ansicht nach durch eine unrechtmäßige äußere Intervention gestürzten Islamischen Emirats Afghanistans (IEA) aufzutreten - in deutlicher Gegenposition zur Karzai-Regierung, die sich durch die massiv gefälschte Präsidentschaftswahl im Jahr 2009 selbst weiter delegitimierte. Dabei bauen die Taliban auf ihre landesweiten Parallelstrukturen, die eine "Schattenregierung" darstellen, die systematische Nutzung der IEA-Insignien auf allen Veröffentlichungen und Verlautbarungen sowie den ansatzweisen Ausbau eines Steuersystems in den von ihnen kontrollierten Gebieten Afghanistans.
In den USA scheinen einflussreiche Kreise nicht an eine Verhandlungslösung zu glauben. Das basiert auf einer undifferenzierten Betrachtungsweise der Aufstandsbewegung in Afghanistan und im benachbarten Pakistan, die maßgeblich Bruce O. Riedel prägt. Er spricht von einem "Terrorsyndikat", das die (vorwiegend paschtunischen) afghanischen und pakistanischen Taliban sowie pakistanische und kaschmirische, anti-schiitische, terroristische Sektierergruppen wie Lashkar-e Tayba umfasse.
Doch die Agenden dieser Gruppen sind voneinander durchaus abgrenzbar. Afghanistans Taliban verfolgen eine rein afghanische Agenda. Bisher haben sie sich in keinem einzigen Fall an Terrorangriffen außerhalb ihres Landes beteiligt. Sie unterstützen aktiv keine militanten Bewegungen in Nachbarländern und bekämpfen auch nicht Pakistans Militär und Regierung. Im Gegenteil: Sie haben immer wieder versucht, auf die pakistanischen Taliban einzuwirken, sich allein auf den "Dschihad" in Afghanistan zu konzentrieren - allerdings ohne Erfolg. Das hat zu einem strategischen Auseinanderdriften der afghanischen und pakistanischen Taliban geführt. Letztere haben sich stärker an die einheimischen (nicht-paschtunischen) Sektierergruppen sowie al-Qaida angenähert, die eine internationale Agenda verfolgen.
Allerdings gibt es auch innerhalb der breiten afghanischen Taliban-Bewegung Strömungen, die al-Qaida und pakistanischen Gruppen nahestehen. Dazu gehört vor allem das Haqqani-Netzwerk, das Mullah Omar nur als geistiges Oberhaupt anerkennt, strategisch und operativ aber eigenständig handelt. Diese Differenzierungen zu negieren, wird es erschweren, einen weiteren Hauptansatz der McChrystal'schen Strategie umzusetzen: nämlich die afghanischen Taliban von al-Qaida zu trennen, sie in einen innenpolitischen Prozess einzubinden und dabei möglicherweise zu "mäßigen".
Aufstandsbekämpfung unter Obama
Es ist sogar umstritten, ob es sich bei der Strategie von Obama und McChrystal tatsächlich um Aufstandsbekämpfung oder, noch enger, nur um Terrorismusbekämpfung handelt.
Dafür spricht auch die Tendenz, dass die Obama-Administration - außer beim Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte - praktisch auf Positionen der Bush-Regierung zurückfällt, was eine Demokratisierung Afghanistans und den institutionellen Aufbau dort betrifft. Präsident George W. Bush hatte sich zwar oberflächlich auf eine Demokratisierung orientiert, eine Beteiligung am institutionellen Aufbau jedoch aus ideologischen Gründen abgelehnt. Seine Politik setzte auf ein hypertrophiertes Präsidialsystem, das einseitig und alternativlos auf die Person des afghanischen Präsidenten Hamid Karzai zugeschnitten wurde, vernachlässigte die Stärkung demokratischer Gegengewichte (checks and balances) und beschränkte sich auf die Durchführung von Wahlen. Für Obamas Kurs steht das Plädoyer von Verteidigungsminister Robert Gates gegen "endloses nation-building" und seine Aussage, es sei "weder notwendig noch möglich, einen modernen, zentralisierten afghanischen Nationalstaat in westlichen Stil zu kreieren".
Das aber ist nicht neu, sondern eine Weiterführung bisheriger fehlgeleiteter Politik. Schon die Bündnispolitik des Westens nach dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001 hatte verheerende Folgen: Mit den Mudschahidin der Nordallianz setzten die intervenierenden US-Truppen im Kampf auf Alliierte, die sich während der Bürgerkriege nach dem Jahr 1992 in der Bevölkerung zutiefst diskreditiert hatten und deren Gewaltherrschaft die Hauptursache für den Aufstieg ihrer Gegner, der Taliban, Mitte der 1990er Jahre war. Ihre Milizen wurden von den USA für den Anti-Taliban-Kampf finanziert, danach aber nicht wie vorgesehen entwaffnet und aufgelöst. Die US-Gelder investierten sie in die Drogenökonomie, von der aus sie die verbliebenen Bereiche der legalen afghanischen Wirtschaft besetzten: vor allem den Immobilienhandel sowie lukrative Import- und Exportmonopole. Mit ihrer militärischen und wirtschaftlichen Macht konnten sie die ersten Wahlen 2004/05 beeinflussen und die neuen demokratischen Institutionen übernehmen. Dort versuchen sie bereits wieder, nach dem Jahr 2001 gewonnene Freiheiten einzuschränken.
Zudem mischte sich vor allem die US-Regierung seit der Bonner Afghanistan-Konferenz Ende des Jahres 2001 massiv in alle wichtigen politischen Entscheidungsprozesse ein - zugunsten des späteren Präsidenten Hamid Karzai. Alternativkandidaten wurden massiv unter Druck gesetzt. In Bonn setzte der damalige US-Sonderbeauftragte für Afghanistan ein neues Votum durch, nachdem Karzai in einer Vorabstimmung dem Kandidaten der königstreuen Rom-Gruppe unterlegen war; auf der ersten Loya Jirga (Große Ratsversammlung) im Jahr 2002 wurde der frühere König Muhammad Zaher zur Rücknahme seiner Kandidatur gedrängt; bei der ersten Präsidentschaftswahl wurde die Allianz der wichtigsten Karzai-Gegner überredet, auf eine Überprüfung gemeldeter Wahlfälschungen zu verzichten.
Defizite des afghanischen Staatssystems
Der Zuschnitt des neuen afghanischen Staatssystems auf die Person Karzais führte zu einer Überzentralisierung, welche die Instanzen unter dem Präsidenten lähmt. Dazu gehören die Provinzverwaltungen, aber auch die gewählten Schuras (Beratungsgremien) auf Provinzebene. Die Gewaltenteilung wurde ausgehebelt, das Parlament durch ein faktisches Parteienverbot fragmentiert und in wichtigen Fragen übergangen, die Unabhängigkeit des Justizwesens kompromittiert sowie alternative politische Kräfte marginalisiert. Eine in weiten Teilen parasitäre Oberschicht profitiert von der Milliardenhilfe der westlichen Geber. Das Kabuler Villenviertel Scherpur, in dem die meisten Minister wohnen und wo gegen jedes Gesetz Bulldozer die Behausungen armer Hauptstädter planierten, heißt im Volksmund "Tschurpur", Plündererstadt. Gleichzeitig leben bis zu 43 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Zu früh mit internationaler Legitimität versehen, adaptierte auch das Karzai-Lager Methoden struktureller Gewaltausübung und begann, ein eigenes Patronage-Netzwerk auszubauen. Es verwandelte sich in eine Quasi-Fraktion, mit Präsidentenbrüdern als "Neo-Warlords" und Privatisierungsgewinner, die auch die Wiederwahl des Amtsinhabers im Jahr 2009 finanzierten. In den Provinzen trieben Karzai-Statthalter jene Paschtunenstämme, die sich noch Ende des Jahres 2001 zu seinen Gunsten gegen die Taliban erhoben hatten, in deren Lager.
Entgegen westlichen Erwartungen, die von rhetorischen Bekenntnissen Karzais zu einer besseren Korruptionsbekämpfung und Regierungsführung in seinen Reden zur erneuten Amtseinführung 2009 sowie während der Londoner Afghanistan-Konferenz im Januar 2010 geweckt worden waren, sind nicht erfüllt worden. Ins neue Kabinett wurden Minister berufen, die für Ämterverkauf und Verbindungen zu Kidnapping-Syndikaten bekannt sind. Karzai hat sich bisher geweigert, eine tatsächliche Unabhängigkeit der nationalen Wahlkommission herzustellen (er ernennt alle Mitglieder), obwohl sie im vergangenen Jahr Wahlfälschungen gedeckt und die Stimmenauszählung manipuliert hat. Zudem erließ Karzai ein Gesetz, das die afghanische Wahlbeschwerdekommission (Electoral Complaints Commission, ECC) "afghanisiert" - diese Institution mit ihren in der Mehrheit von den UN nominierten Ausländern war die einzige, die eine Aufarbeitung der Wahlfälschungen betrieben hatte. Schließlich hat Karzai jüngst ein im Jahr 2007 vom Parlament - mit seiner Warlord-Mehrheit - beschlossenes Gesetz in Kraft gesetzt, das alle ehemaligen Bürgerkriegsparteien pauschal vor einer Verfolgung wegen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen die Menschenrechte schützt.
Diese Entwicklungen führten zu einer Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung vom demokratischen Prozess. Doch die Afghanen lehnen nicht - wie häufig behauptet - Demokratie als solches ab, sondern eine von außen gelenkte, "oktroyierte"
Trotz aller Hindernisse und gerade weil das System Karzai selbst zu einem Hindernis für eine positive Entwicklung geworden ist, kann sich der Westen bei entsprechendem politischem Willen stärker für effiziente, nicht korrupte Regierungsstrukturen einsetzen. Gleichzeitig muss es gelingen, den Eindruck zu vermeiden, dass ein Besatzungsregime alle wichtigen Entscheidungen selbst trifft. Die westlichen Regierungen sollten deshalb nicht wie bisher eigene Favoriten protegieren, sondern für transparente Spielregeln sowie Rahmenbedingungen sorgen, unter denen Afghanen aus allen politischen und sozialen Segmenten ihre Meinung einbringen können, ohne sich Repressalien einer herrschenden Kaste auszusetzen, die sich als alleinige Sachwalter "des Islam" geriert.
Tendenz einer konfliktfördernden Militarisierung
Was wie eine beinahe unmögliche Gradwanderung erscheint, ist möglich und auch legitim: Nicht zuletzt, weil eine Mehrheit der Afghanen die Korruptheit, Ineffizienz und Ausgrenzung durch die einheimischen Regierungs- und Verwaltungsstrukturen satt hat. Um mit dem indischen Nobelpreisträger Amartya Sen zu sprechen: Die Frage ist nicht, ob Afghanistan "fit für die Demokratie ist", sondern dass es erst "fit durch Demokratie" wird.
Das oft gehörte Argument, die USA und der Westen insgesamt hätten wenig Einflussmöglichkeiten, klingt da eher wie ein Vorwand in einer Situation, in der viele Regierungen - unausgesprochen - den Afghanistan-Einsatz schon als gescheitert betrachten, nur noch nach dem Exit-Schild spähen und einen Weg suchen, ihre Truppen abzuziehen - möglichst ohne viel Ansehensverlust.
Die Tendenz einer konfliktfördernden Militarisierung wird sich noch verstärken, wenn die für Juni angekündigte Phase 2 der Operation Moshtarak (Gemeinsam) im dichtbesiedelten Zentrum der Provinz Kandahar beginnt. Die zweitgrößte Metropole Afghanistans ist strategisch viel wichtiger als der ländliche Opiumanbaudistrikt von Marja, in dem im Februar und März dieses Jahres ein Probelauf für Kandahar stattfand. Es muss erwartet werden, dass die Intensität der Kämpfe in Kandahar - das von Taliban-kontrollierten Gebieten umgeben ist; die Regierung hat Zugang nur zu fünf der 17 Distrikte der Provinz - viel stärker ausfallen und für weiteren politischen Schaden sorgen wird.
Insgesamt entpuppt sich der Strategie"wechsel" der USA unter Obama als Strategieanpassung. Im Mantel neuer Rhetorik (political messaging) wird alter Wein in neuen Schläuchen vermarktet, oder zumindest als richtig erkanntes zu spät umgesetzt. Fraglich ist, ob die von Ende des Jahres 2001 an in zahlreichen Irrwegen verlorene Zeit wieder aufgeholt und Fehler vor allem im Aufbau der afghanischen Institutionen rechtzeitig korrigiert werden können - und das gegen den passiven Widerstand wichtiger Elemente der Karzai-Regierung.
Eines ist jedoch klar: Afghanistans Gordischer Problemknoten kann nicht einfach mit dem Schwert durchgehauen werden. Es wird auf alle Fälle längere Zeit benötigen, bis sich eine hinreichend große Anzahl von Afghanen davon überzeugen lässt, dass sich die Herangehensweise der westlichen Truppen und ihrer zivilen Begleiter wirklich grundsätzlich geändert hat. Bis zu den Kongresszwischenwahlen in den USA im Herbst 2010 steht dafür zu wenig Zeit zur Verfügung.