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(Post)koloniale Politik in den Stammesgebieten Pakistans | Pakistan und Afghanistan | bpb.de

Pakistan und Afghanistan Editorial Pakistan, seine Stammesgebiete und der Afghanistan-Krieg (Post)koloniale Politik in den Stammesgebieten Pakistans Die Rolle des Militärs im politischen System Pakistans Impressionen aus dem Alltag in Pakistan. Zwei Gespräche Zu wenig, reichlich spät - Stabilisierungsmaßnahmen in Afghanistan zwischen Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung Das Engagement der arabischen Staaten in Afghanistan Fragil und umkämpft - Frauenrechte im neuen Afghanistan

(Post)koloniale Politik in den Stammesgebieten Pakistans

Aasim Sajjad Akhtar

/ 14 Minuten zu lesen

Bis heute konnte Pakistan die Prägung durch den Kolonialstaat nicht ablegen. Um den Aufstieg des Islamismus in Pakistan und Afghanistan in heutiger Zeit zu verstehen, muss daher zunächst der staatliche Entstehungsprozess beleuchtet werden.

Einleitung

Bis heute, mehr als sechs Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft, konnte Pakistan die Prägung durch den Kolonialstaat nicht ablegen. Hartnäckigstes Erbe der Kolonialherrschaft sind die in bestimmten Bereichen "überentwickelten" staatlichen Strukturen. Das pakistanische Militär hat sich im Laufe der Zeit zur dominierenden wirtschaftlichen und politischen Kraft des Landes entwickelt. Unter anderem ähnelt die ethnische Zusammensetzung der pakistanischen Armee heute auffallend derjenigen vor einhundert Jahren: Die Mehrheit der Rekruten stammt aus dem Punjab und der Nordwestlichen Grenzprovinz (North-West Frontier Province).

Unter den Briten erlangten diese beiden Provinzen besondere Bedeutung für das koloniale Gemeinwesen: Die Sicherung dieser strategischen Zone wurde als entscheidend für die Wahrung der Interessen des Empire in ganz Asien angesehen. Um den Aufstieg des Islamismus in Pakistan und Afghanistan in der heutigen Zeit zu verstehen, muss zunächst der staatliche Entstehungsprozess im Nordwesten von Britisch-Indien beleuchtet werden. Dabei stellt sich die Frage, wie erfolgreich der postkoloniale Staat aus dem Schatten seines Vorläufers treten konnte.

Im Rahmen dieser kurzen Darstellung hoffe ich zeigen zu können, wie die Dynamik des "Great Game" den britischen Umgang mit den Paschtunen beeinflusste, die in den Grenzregionen des Empire lebten. Ich werde darlegen, wie der pakistanische Staat das institutionelle Inventar der Kolonialzeit geradezu en gros übernahm, indem er die Frontier, die Grenzzone zu Afghanistan, als Pufferzone für seine strategischen Ziele instrumentalisierte. In der Folge der Invasion und Besetzung Afghanistans durch westliche Mächte haben sich die Gebiete der Paschtunen zu einem Zentrum islamistischer Militanz entwickelt. Wer dies aber als rein reaktives Phänomen sieht, lässt den historischen Wettbewerb widerstreitender Gesellschaftsentwürfe außer Acht, der das hier ausgefochtene "New Great Game" unterlegt.

Einrichtung einer Grenzzone

Jede britische Strategie für die Paschtunen-Gebiete basierte auf der Zielvorgabe, dem russischen Expansionismus Einhalt zu gebieten. Es war die (reale oder eingebildete) russische Bedrohung, die eine Pufferzone und Grenzregionen erforderlich machte. Zuerst unternahmen die Briten den Versuch, die Paschtunen militärisch zu unterwerfen und Kabul zu besetzen. Der erste anglo-afghanische Krieg endete jedoch für das britische Expeditionsheer mit einer katastrophalen Niederlage im Dezember 1841. In der Folgezeit unterließen die Briten militärische Expeditionen in Regionen jenseits des Tals von Peschawar, welches sie mit der Annexion des Punjab im Jahr 1849 unter ihre direkte Kontrolle bringen konnten.

Um den unterschiedlichen administrativen Aufbau zu erklären, der für die Paschtunen diesseits und jenseits des Peschawar-Tals vorgesehen war, begannen die Briten zu unterscheiden zwischen "sesshaften" und "tribalen" Paschtunen. Die Unterteilung in eine "sesshafte" und "tribale" Zone entsprach zwar teilweise der kolonialen Terminologie, die Zielsetzung der Briten war aber ohne Zweifel rein funktional: "(tribale Grenzzonen wurden als) Mechanismen zum Umgang mit eindringenden politischen und sozialen Kräfte eingerichtet. (Der Kolonialstaat) brauchte eine möglichst kostengünstige und effektive politische Struktur, die größtmögliche Kontrolle gewährleistete, jedoch ohne direkte Verwaltung wie in Britisch-Indien auskam."

Die Einrichtung und Aufrechterhaltung einer "tribalen" Zone war durchaus erfolgreich. Eine Konfrontation zwischen Briten und Russen wurde, abgesehen von unbedeutenden Grenzplänkeleien, verhindert. Spannungen zwischen den paschtunischen Stämmen und den Briten konnten jedoch nicht vollständig ausgeräumt werden. Schließlich handelten die Briten im Jahr 1893 mit der afghanischen Monarchie als Grenzlinie zwischen Afghanistan und Britisch-Indien die so genannte Durand-Linie aus. Diese Aufteilung war jedoch längst noch keine überzeugende Lösung für das britische Dilemma.

Die Briten bezeichneten ihre Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik als Antwort auf die Unnachgiebigkeit der Paschtunen. Das Problem bestand jedoch darin, dass koloniale Politik gegenüber den Paschtunen von Ad-hoc-Entscheidungen und Instrumentalisierung geprägt war. Bis zum Jahr 1876 hatte man eine Politik der geschlossenen Grenze verfolgt, die von gelegentlichen Militärexpeditionen, Wirtschaftsblockaden und unregelmäßigen Initiativen zur Schlichtung von Stammesfehden geprägt war. Nachdem auch der zweite anglo-afghanische Krieg im Jahr 1880 mit einem Debakel endete, wurde die so genannte forward policy ausgerufen.

Tatsächlich lassen sich jedoch die britische closed-border policy vor 1890 und die forward policy nach 1890 nicht klar voneinander abgrenzen. Beide waren geprägt von Strafexpeditionen und Wirtschaftsblockaden. Gleichwohl wurde in den 1890er Jahren die politisch-ökonomische Struktur der Stammesgebiete entwickelt, wie sie noch heute besteht. Die Briten schufen und ermächtigten eine "Stammeselite", malik genannte Stammesführer bzw. Gemeindevorstände, die in Abstimmung mit dem staatlichen Verwaltungsapparat die Stämme kontrollieren sollten. Die Kolonialverwaltung mit Hilfe des maliki-Systems beruhte auf Verträgen: Von der britischen Verwaltung ausgewählte Stammesführer wurden dafür entlohnt, dass sie bestimmte, gemeinsam vereinbarte Aufgaben erfüllten.

Es wird oft angeführt, dass die von den Briten kooptierten maliks die "traditionelle" Autorität repräsentierten. Inzwischen haben aber Studien zur Erforschung der Entstehung von "Traditionen" nachgewiesen, dass europäische Kolonialverwaltungen - die Briten eingeschlossen - überall in Afrika und Asien "Traditionen" so konstruiert haben, dass sie ihren Kontrollbedürfnissen und Interessen dienten.

In der Praxis war das maliki-System gekennzeichnet durch ständige Fehden innerhalb der Stammesverbände und zwischen den Stämmen sowie durch die außerordentlichen Machtbefugnisse des so genannten political agent (PA), des eigentlichen Gebieters einer Tribal Agency. Die Vorstellung, dass Angehörige von Stammesgesellschaften ständig in Fehden verstrickt seien, wurde hier zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Die "Stammeszone" entwickelte sich zu einem veritablen "schwarzen Loch", in dem die Zeit stehen geblieben war. Der Kolonialstaat investierte kaum in die soziale und physische Infrastruktur der "Stammesgebiete", was eine Kultur der Fehde nur verstärkte. Ein politisch-ökonomisches System entstand, in dem das Wohlergehen der lokalen Bevölkerung vernachlässigt und stattdessen auf zynische Weise nach den jeweiligen strategischen Interessen des Staates die Stämme protegiert oder bestraft wurden.

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass die von den Briten geformte gesellschaftspolitische Ordnung nicht auf strikter Trennung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten basierte. Die Briten stützten sich auf eine parasitäre Klasse von Kollaborateuren, zu der neben den maliks verschiedene politisch-ökonomische Akteure gehörten, die eng in die koloniale Struktur eingebunden waren. Zur Natur des Systems gehörten Rebellionen, in denen sich von Zeit zu Zeit der Kolonialverwaltung ansonsten verbundene maliks und andere dominante Elemente gegen den Staat wandten. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass dieser Zustand permanenter Instabilität der Kolonialmacht dienlich war. Im Großen und Ganzen teilten die Briten und die Stammeseliten gemeinsame Interessen.

Es ist wichtig festzuhalten, dass Paschtunen, auch wenn der Staat ihnen eine politisch-ökonomische Struktur aufzwang, nicht nur passiv Zugang zu dieser erhielten. In der paschtunischen Stammesgesellschaft gab es Akteure, die von dieser Struktur profitierten, andere, die sie in Frage stellten und wieder andere, die sich ihr widersetzten. Ihre Langlebigkeit war also nicht der Tatsache geschuldet, dass die paschtunische Gesellschaft statisch war, sondern vielmehr, dass relativ dominante gesellschaftliche und politische Akteure - allen voran die maliks - in der Lage waren, mit dem Staat gemeinsame Sache zu machen, so dass ernsthafte Widerstände gegen diese Struktur unterdrückt werden konnten.

Kolonialer Gesellschaftsvertrag in neuem Gewand

Nach dem Abzug der Briten wurde die administrative Kontrolle der Stammesgebiete Pakistan übertragen. Der junge Staat wurde dadurch umgehend in den seit Langem bestehenden Grenzkonflikt mit Afghanistan verwickelt (Stichwort: Durand-Linie), was seine zukünftige Politik in der Region wesentlich prägte. Gleichwohl gab es keinen Grund, warum die nunmehr pakistanischen Regierenden nicht eine neue Politik für die Stammesgebiete hätten formulieren können, um diese in eine demokratische Verwaltungsstruktur zu integrieren.

Tatsächlich fühlten sich die neuen Regierenden dem demokratischen Prozess ebenso wenig verpflichtet wie ihre kolonialen Vorgänger. Sie glaubten, ihren strategischen Interessen (und denjenigen ihrer neuen imperialen Gönner) am besten damit zu dienen, dass sie die Paschtunenregionen des Staates weiterhin als Grenzgebiete betrachteten. Daher blieben die Gebiete der sesshaften Paschtunen die "Nordwestliche Grenzprovinz", während aus den Stammesgebieten letztlich die "Stammesgebiete unter Bundesverwaltung" (FATA) wurden.

Im Frühjahr des Jahres 1948 stiftete der pakistanische Staat, der noch nicht über eine einsatzfähige Armee verfügte, Stammesangehörige aus Waziristan dazu an, das im Nordosten an Pakistan grenzende Königreich Kaschmir zu besetzen, und löste damit den ersten Indisch-Pakistanischen Krieg aus. Von Anfang an gab der pakistanische Staat also zu verstehen, dass er die "Stämme" als politisches Werkzeug ansah, das bei Bedarf eingesetzt werden könne. Und ebenso wie zuvor die Briten hielten es die pakistanischen Regierenden nicht für nötig, die "Stämme" dafür mit Sozial- und Entwicklungsprogrammen in den FATA zu entlohnen.

Die erste bedeutende öffentliche Investition in den FATA wurde in den 1970er Jahren unter der populistischen Regierung von Zulfikar Ali Bhutto getätigt. Unter anderem wurden Straßen gebaut, verlassene Militärgarnisonen wieder besetzt, alte Befestigungen wie Datta Khel, Ladha und Tiarza wieder instand gesetzt und umfangreiche Elektrifizierungsprogramme begonnen. Nicht alle diese Programme kamen notwendigerweise den lokalen Gemeinwesen zu Gute. Die Befestigungsanlagen beispielsweise wurden zu exklusiven Sonderzonen des jeweiligen political agent und seiner Gefolgsleute. Jedenfalls mussten nach dem Abzug der Briten nicht weniger als drei Jahrzehnte verstreichen, bevor der Staat die Notwendigkeit erkannte, Strukturhilfen für die Wohlfahrt der Bevölkerung der FATA zur Verfügung zu stellen. Immer noch verweisen deren Entwicklungsindikatoren auf eine beschämende Unterentwicklung. So gibt es dort nur 33 Krankenhäuser und die Straßendichte liegt mit 0,17km pro Quadratkilometer weit unter dem nationalen Durchschnitt von 0,26.

Im Großen und Ganzen hat Pakistan sich weiter der Methoden der Kolonialverwaltung bedient, um die Region zu regieren. Das politisch-ökonomische System dreht sich um den political agent, das maliki-System und die Khassadare. Wohl am schwersten wiegt die Tatsache, dass die FATA nach wie vor einer aus der Kolonialzeit übernommenen Rechtsordnung unterworfen ist, den Frontier Crimes Regulations (FCR). Die FCR ermächtigen den political agent, Individuen oder ganze Stämme mit Geldbußen zu belegen, zu bannen oder in Haft zu nehmen. Darüber hinaus ist er mit Verweis auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung dazu berechtigt, Eigentum zu konfiszieren oder zu zerstören.

Den FATA wurde zwar eine Vertretung im pakistanischen Parlament zugestanden, aber erst im Jahr 1996 wurde volljährigen Bürgerinnen und Bürgern das Wahlrecht für die Wahl zur Nationalversammlung gewährt. Zum größten Teil werden jedoch nach wie vor die maliks als natürliche "Repräsentanten" der Bevölkerung der FATA angesehen. Zwischen 1947 und 1954 waren die FATA mit nur einem Mitglied in der ersten verfassungsgebenden Versammlung Pakistans vertreten. 1973 wurden für insgesamt 37000 maliks acht Sitze in der Nationalversammlung reserviert. Aber auch nachdem 1996 das individuelle Stimmrecht gewährt wurde, blieb es politischen Parteien verboten, in den FATA anzutreten.

In jüngster Zeit hat es vollmundige Diskussionen um die notwendige Aufhebung der FCR und eine Öffnung der FATA für politische Parteien gegeben, um den "Stämmen" die Integration in die pakistanische Gesellschaft zu ermöglichen. Vorerst sieht es jedoch nicht danach aus, als würden nennenswerte Schritte in diese Richtung unternommen werden.

Das "New Great Game"

Markieren die 1970er Jahre die ersten Versuche des pakistanischen Staates, (nominell) in die soziale Infrastruktur der "Stammesgebiete" zu investieren, so fällt in dieselbe Periode auch der Beginn einer Revision der strategischen Grundsätze. In der Rückschau mag man argumentieren, dass die Behandlung der "Stämme" durch den Staat vor den 1970er Jahren - so sehr sie auch durch Instrumentalisierung geprägt war - zumindest nicht zu solchen Verwerfungen und Umbrüchen führte, wie sie die neue strategische Herangehensweise charakterisieren.

Nach der Abspaltung Ost-Pakistans im Jahr 1971 wurde der verstümmelte und instabile pakistanische Staat zusätzlich traumatisiert durch Aufrufe des afghanischen Königs Daud an die Paschtunen, sich zu vereinigen und ihr historisches Heimatland "wiederherzustellen". Als Reaktion auf diese Bedrohung der territorialen Integrität Pakistans begann das militärische Establishment in Islamabad, afghanische Islamisten wie Gulbuddin Hekmatyar und Burhanuddin Rabbani zu protegieren. Gleichzeitig begann der Staat, in den Gebieten der sesshaften Paschtunen und in den paschtunischen Stammesgebieten in Medresen (islamische (Hoch)schulen) zu investieren. Nach seiner Berechnung konnte die Anziehungskraft eines säkularen paschtunischen Nationalismus nur durch die Propagierung islamischer Weltanschauung gebrochen werden. Diese war zentraler Bestandteil der Weltsicht vieler Paschtunen.

Der Strategiewechsel begann noch vor dem Dschihad der afghanischen Mudschahidin gegen die sowjetische Besatzungsmacht. Der beginnende Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion jedoch verschaffte dem gerade erst ausgerufenen neuen Programm zur Stärkung des Islam den entscheidenden Auftrieb. Bekanntlich flossen jetzt Milliarden von Dollar zur Unterstützung des Dschihad in die Region. Ein großer Teil davon trug zur Verbreitung der Medresen bei und damit zur Schaffung einer ganzen Generation junger Paschtunen, die von millenaristischen Gefühlen eingenommen waren.

Es darf nicht vergessen werden, dass es eine lange Geschichte paschtunischer Militanz gibt, in der gegen äußere Aggressoren der Dschihad ausgerufen wurde. In der Vergangenheit ging es dabei aber weder um die Verteidigung kultureller Strukturen - wie sie insbesondere im Zusammenhang mit dem paschtunischen Ehrenkodex Paschtunwali bestehen - noch um Widerstand gegen die von den Briten entwickelten politischen Strukturen, in denen die Stammeseliten und maliks dominierten.

Die neue Strategie jedoch erschütterte sowohl die kulturellen als auch die politischen Strukturen. Der vom political agent protegierte "politische Mullah" wurde zunehmend mächtiger, während er gleichzeitig zur Symbolfigur für eine neue Wirtschaftsordnung wurde, in der Waffen und Drogen unkontrolliert durch die pakistanisch-afghanische Grenzregion transportiert wurden. Die "traditionelle" Elite wurde kaltgestellt, was dem Staat nicht unrecht war. Die maliks mussten die neue Rollenverteilung akzeptierten und sich arrangieren, wenn sie nicht den kompletten Verlust ihrer Macht und ihres Prestiges riskieren wollten.

Auch nach dem Ende des afghanischen Dschihad sollte es keine Rückkehr zu den alten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen geben. Damit soll nicht angedeutet werden, dass die grundsätzliche Einstellung des Staates gegenüber den "Stammesgebieten" und ihren Bewohnern weniger funktional geworden sei. Vielmehr haben die gewaltigen Umbrüche, die mit dem afghanischen Dschihad einher gingen, zu einer irreversiblen Transformation der Gesellschaft geführt.

Inzwischen ist gut dokumentiert, dass Afghanistan in der Zeit vor dem Aufkommen des Taliban-Regimes den Launen der Warlords ausgeliefert war. Als es den Taliban schließlich gelang, den überwiegenden Teil des Landes unter ihre Kontrolle zu bringen und einen nominellen Frieden durchzusetzen, stimmten die Afghanen der neuen Regierung zu, weil sie seit zwei Jahrzehnten nicht einmal den Anschein von Frieden erlebt hatten.

Dieser "Frieden" basierte jedoch auf einer fortgesetzten Kriegswirtschaft, die durch Schmuggel von Waffen und jeder Art von Konsumartikeln gekennzeichnet war, während die Mehrheit der Afghanen nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnte. Paschtunische Kriegsunternehmer beiderseits der pakistanisch-afghanischen Grenze verknüpften legale mit illegalen Handelsaktivitäten. Beispielsweise wird das Transportgewerbe im Stadtzentrum von Karatschi von Paschtunen kontrolliert, und diese Transportunternehmer sind maßgeblich beteiligt an einem Großteil der illegalen Geschäfte dieser Kriegswirtschaft.

Nach der Invasion und Besetzung Afghanistans hat sich diese Kriegswirtschaft sogar weiter konsolidiert. Nicht nur wurden Heroinherstellung und -handel weiter ausgebaut, mittlerweile ist auch immer besser dokumentiert, dass große Summen aus der "Entwicklungshilfe" ihren Weg in die Taschen von Unternehmern in der Kriegswirtschaft finden - eine skandalöse Fehlentwicklung, die auch den US-amerikanischen Entscheidungsträgern nicht unbekannt ist.

Die pakistanische Regierung behauptet, sie führe in den FATA einen epischen Krieg gegen die "Extremisten", ebenso wie die westlichen Streitkräfte dies für Afghanistan erklären. Dabei bleiben jedoch die einfachen Menschen den Launen zynischer Protagonisten ausgeliefert, in einem Krieg, den viele Unternehmen, die von ihm profitieren, eher verlängern als beenden wollen. Das militärische Establishment Pakistans hat bis heute keinen vollständigen Bruch mit den von ihm protegierten Dschihadisten vollzogen. Anstelle einer entschlossenen Neuorientierung in der außenpolitischen und strategischen Planung zieht man es vor, unter dem Mantel des Anti-Terror-Kampfes nach Gutdünken Militäroperationen durchzuführen. Vor kurzem fand unter großer öffentlicher Beachtung eine Militäroperation in Süd-Waziristan statt. Es gibt keinen schlüssigen Anhaltspunkt dafür - außer dem, was die "Hofberichterstattung" Islamabads vermeldet -, dass diese Operationen auf irgendeine Weise dem Gemeinwohl dienen. Es gilt nach wie vor die Binsenweisheit, dass der Umgang des Staates mit den Paschtunen durch strategische Zielsetzungen bestimmt wird.

Immerhin ist in den vergangenen Jahren eine Zunahme der Entwicklungsausgaben in den FATA zu verzeichnen. Im Jahr 2006 wurde als Clearingzentrum für Spendengelder und Entwicklungsprojekte die FATA Development Authority (FDA) gegründet. Auch wenn bereits eine relativ große Geldsumme über die FDA geflossen ist - das Gesamtbudget für die FATA im Haushaltsjahr 2009/10 belief sich auf ungefähr 10,17 Millionen Euro -, so verhindert die Tatsache, dass ein Großteil der Region von intensiven bewaffneten Konflikten bedrängt ist, bedeutende Investitionen in die soziale und physische Infrastruktur. Und letztendlich bewegen sich auch die Entscheidungen der FDA innerhalb der politischen Rahmenbedingungen, die oben skizzierten wurden.

Im Großen und Ganzen hat sich an der Einstellung des Staates gegenüber den Paschtunen-Stämmen in den 150 Jahren seit der Errichtung der britischen Hegemonie über den indischen Subkontinent wenig geändert. Und kaum anders als die Briten, welche die Frontier als Pufferzone instrumentalisierten, betrachten die westlichen Mächte, insbesondere die USA, Pakistan als einen "Garnisonsstaat". Während des Kalten Krieges wurde dieses Zusammengehen der Interessen des internationalen und des pakistanischen Establishments von den Medien und sogenannten "Experten" mit heroischen Worten bedacht.

Nach dem 11. September 2001 aber sind die fatalen Nebenwirkungen des historischen Engagements des Staates (und der internationalen Mächte) gegenüber den Paschtunen im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet auf schmerzhafte Weise deutlich geworden. Die paschtunische Bevölkerung ist nun gefangen zwischen denjenigen Kräften, die angesichts zunehmender religiöser Militanz die Restauration des maliki-Systems fordern, und denjenigen, die glauben, es könne eine "moderne" gesellschaftspolitische Ordnung errichtet werden, in der religiöse Militanz durch militärische Macht besiegt und der "Stammesgesellschaft" "Entwicklung" beschert wird.

Übersetzung aus dem Englischen von Georg Danckwerts, Bonn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hamza Alavis wegweisende Schriften über den "überentwickelten" postkolonialen Staat basierten in erster Linie auf der pakistanischen Erfahrung. Trotz gewisser problematischer Formulierungen bleibt Alavis Analyse eine äußerst treffende Beschreibung des Machtgefüges in Pakistan. Vgl. Hamza Alavi, The State in Post-Colonial Societies. Pakistan and Bangladesh, in: New Left Review, (1972) 74, S. 69-81.

  2. Die eigenständigen Stammesgebiete unter Bundesverwaltung (Federally Administered Tribal Areas - FATA) gehören zu keiner der vier pakistanischen Provinzen und liegen zwischen der Nordwestlichen Grenzprovinz (North-West Frontier Province) und der afghanischen Grenze. Sie bestehen aus sieben (Tribal)Agencies genannten Stammesgebieten sowie sechs von diesen unabhängigen Frontier Regions.

  3. Vgl. Olaf Caroe, The Pathans, Karachi 1958, S. 660.

  4. Die klassische Dichotomie besteht bei den Paschtunen (Pathanen) zwischen den beiden sozialen Organisationsformen nang (der Ehre verpflichtet) und qalang (Pacht zahlend) bzw. sesshaft und tribal. Die wesentlichen Unterschiede zwischen nang and qalang basieren auf der Produktionsweise: Die nang-Gesellschaft ist arm und ohne ausreichenden Zugang zu urbarem Boden, die qalang-Gesellschaft den Bodenbesitzstrukturen entsprechend stärker hierarchisch aufgebaut. Vgl. Akbar S. Ahmed, Millenium and charisma among Pathans, Oxford 1976.

  5. Ainslee Embree, Pakistan's Western Borderlands, New Delhi 1977, S. xvi f.

  6. Zwischen 1857 und 1877 gab es elf militärische Operationen, zwischen 1877 und 1881 zwölf. Zwischen 1878 und 1897 wurden 16 Militärexpeditionen gegen die Stämme der Grenzzone durchgeführt. Vgl. Akbar S. Ahmed, Pukhtun Economy and Society - Traditional Structure and Economic Development in a Tribal Society, London 1980.

  7. Vgl. C.C. Davies, The Problem of the North-West Frontier 1890-1908, London 1932, S. 24f.

  8. Unter der Kolonialherrschaft "wurde ein Rechtskorpus geschaffen, der weder gewohnheitsrechtlich noch britisch war: Weder ,gab es' Gewohnheitsrecht noch war es traditionell", so Martin Chanock, Law, custom and social order, Cambridge 1985, S. 57-61.

  9. Für eine detaillierte Diskussion darüber, wie die Sicherheitserfordernisse den Aufbau des neuen Staatswesens in den Jahren nach dem Abzug der Briten beeinflussten siehe: Ayesha Jalal, The State of Martial Rule: the origins of Pakistan's Political Economy of Defence, Cambridge 1990.

  10. Vgl. A.S. Ahmed (Anm. 4), S. 56.

  11. Khassadare erfüllen Polizeifunktionen in den Stammesgebieten. Sie sind nicht uniformiert und werden unterstützt durch die regulären Einheiten des political agent und seine paramilitärischen Polizeitruppen, die Levies.

  12. Die maliks hatten die außerordentliche Machtposition inne, mit dem jeweiligen political agent Gemeindezuwendungen auszuhandeln. Dies erleichterte ihren Aufstieg zu einer von der übrigen Bevölkerung abgesonderten besitzenden Klasse.

  13. Zur Diskussion der komplexen Beziehung zwischen paschtunischem Nationalismus und islamischem Universalismus siehe: Oliver Roy, The Taliban: Strategic Tool for Pakistan, in: C. Jaffrelot (ed.), Nationalism without a Nation, London 2002, S. 149-160.

  14. Vgl. Akbar S. Ahmed, Resistance and Control in Pakistan, London 2004.

  15. Es darf nicht vergessen werden, dass die FATA auch jenseits der unmittelbaren Auswirkungen des afghanischen Dschihads gewaltige Umbrüche erfuhren aufgrund der Migration von Männern im arbeitsfähigen Alter in die Golfstaaten. Schätzungen gehen davon aus, dass von einer Gesamtbevölkerung von 300000 in Süd-Waziristan 20-30000 Männer zum Arbeiten in die Golfstaaten gingen.

  16. "(Die) neue Führung - wenn sie auch bestimmte Entbehrungen und puristische, aus überkommenen sozialen Normen abgeleitete Glaubenssätzen mit sich brachte - (...) versprach ein Ausmaß an Stabilität, das es seit einer Generation nicht gegeben hatte." Vgl. David B. Edwards, Learning from the Swat Pathans: Political Leadership in Afghanistan 1978-1997, in: American Ethnologist, (1998) 15, S. 712-728.

  17. Diese Aussagen beruhen auf langjährigen persönlichen Beobachtungen des informellen Wirtschaftssektors in Karatchi und anderen Städten.

  18. Vgl. Guardian vom 31.7.2003.

Ph.D., geb. 1975; Assistant Professor am National Institute of Pakistan Studies, Quaid-e-Azam University, 91-A Satellite Town, Rawalpindi/Pakistan. E-Mail Link: aasim@lums.edu.pk