Einleitung
Das menschliche Leben ist von Vielfalt und Verschiedenheit geprägt und bestimmt. Die Individualität der eigenen Persönlichkeit, die jeweils individuelle Zugehörigkeit zu einer sozialen oder kulturellen Gruppe rechtfertigt von daher unter keinen Umständen einen unwürdigen Umgang mit einzelnen Personen oder bestimmten soziokulturellen Gruppen. Zu Recht beziehen sich von daher alle Konventionen der Vereinten Nationen (UN) auf die Erklärung der Völkergemeinschaft zu den grundlegenden Menschrechten - wie sie im Übrigen auch im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und in den Länderverfassungen rechtsverbindlich verankert sind. Diese Vereinbarungen gelten für alle Bereiche menschlichen Lebens und garantieren so einen umfassenden Schutz und die Würde eines jeden Menschen.
Eine inklusive Gesellschaft ist zutiefst dem Einzelnen und dessen Individualität - ohne Wertung - verpflichtet. Das bedeutet:
Die Möglichkeit der Realisierung eigener Lebenskonzepte ist primäres Ziel aller gesellschaftlichen Bemühungen.
Die Realisierung und Ausgestaltung eigener Lebenskonzepte unterliegt den Grundsätzen des sozialen Miteinanders.
Ein besonderer Schutz gilt Kindern und Jugendlichen in schwierigen Lebenssituationen.
Einzelne Menschen erhalten auf Grund ihrer besonders belasteten oder schwierigen Lebenssituation eine besondere Unterstützung durch die Gemeinschaft.
Ziel dabei ist, das grundlegende Menschenrecht auf Aktivität und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weit möglichst umzusetzen.
Mit einem klaren und überzeugenden Schritt haben die UN mit der Behindertenrechtskonvention das erste universelle Rechtsdokument verabschiedet, das die bestehenden Menschenrechte im Hinblick auf die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen konkretisiert. Zentrales Ziel dieser Konvention, die von der Bundesrepublik ratifiziert wurde, ist die Förderung der Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen in allen Gesellschaftsbereichen. Vor diesem Hintergrund fordert die Behindertenrechtskonvention, dass Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund einer Behinderung vom Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass sie einen lebenslangen Zugang zu Bildungsangeboten haben müssen. Leitbild ist das gemeinsame Leben und Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung. Bei allen Lösungen ist vorrangig das Wohl des einzelnen Kindes oder Jugendlichen (best interest of child) zu berücksichtigen. Die Aufgabe der Staaten ist es, für die Gewährleistung von hoch qualifizierten Bildungsangeboten gegebenenfalls besondere Vorkehrungen im Sinne von professionellen, speziellen Unterstützungsangeboten für den Einzelnen zu schaffen. Sonderpädagogische Institutionen zählen zu solchen besonderen Unterstützungsangeboten - im Interesse von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen.
Soviel Normalität wie möglich - soviel Besonderheit wie nötig
Alle Bereiche einer inklusiven Gesellschaft sind durch das Spannungsfeld "Generelle Angebote für alle - Spezielle Angebote für besondere Zielgruppen" gekennzeichnet. So entwickeln sich in allen europäischen Ländern beispielsweise immer mehr spezielle Senioreneinrichtungen mit einer hervorragenden professionellen Infrastruktur, verbunden mit einer wachsenden Nachfrage durch ältere Menschen, und dies nicht nur im Falle einer Pflegebedürftigkeit. Darüber hinaus werden ambulante Unterstützungsangebote in diesem Feld immer weiter ausgebaut, um auch im bisherigen häuslichen Umfeld eine entsprechende qualifizierte Betreuung zu garantieren.
Bei der Ausgestaltung der Bildungslandschaften von der frühkindlichen Bildung bis hin zu Angeboten im Bereich des "Lebenslangen Lernens" ist europaweit die gleiche Tendenz beobachtbar: Ein deutlicher Ausbau von Gesamtschulkonzepten wird begleitet durch die Entwicklung von immer spezielleren ambulanten, zum Teil auch zeitlich befristeten Bildungsangeboten. Dies reicht bis hin zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung von institutionell verankerten, passgenauen Lösungen für besondere Zielgruppen, vor allem auch im Bereich der beruflichen Bildung sowie bei vielfältigen Weiterbildungsmaßnahmen.
Auch die Sonderpädagogik bewegt sich schon immer in diesem Spannungsfeld. Jedoch müssen alle fachlichen, strukturellen und organisatorischen Lösungen geleitet werden durch das zentrale Ziel der Optimierung einer weitestgehenden Aktivität und Teilhabe der Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft.
Dabei gilt vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention immer die "Vorfahrtsregel", wonach allgemeine Bildungsangebote wie die an der allgemeinen Schule vor besonderen ambulanten wie auch stationären Lösungen stehen (Subsidiarität des sonderpädagogischen Handelns). Weiter gilt auch, dass die jeweilige Entscheidung für eine bestimmte Lösung immer auf den Einzelfall bezogen und zeitlich befristet entschieden werden muss. Im Kindes- und Jugendalter ist zudem bei allen Entscheidungen konsequent auf die Interessen der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu achten. Im Erwachsenenalter gilt hier selbstverständlich das Recht auf Selbstbestimmung des Einzelnen. Dieselben Grundsätze gelten auch für Kinder und Jugendliche mit schweren Erkrankungen.
So kann es beispielsweise für ein Kind mit einer hochgradigen Hörschädigung äußerst sinnvoll sein, zunächst in einem besonderen geschützten Rahmen - unterstützt durch Experten aus dem Bereich der Hörgeschädigtenpädagogik - qualifizierte und professionell gestaltete frühe Bildungsangebote wahrzunehmen, um so den nächsten Schritt in die allgemeine Schule oder in den beruflichen Eingliederungsprozess erfolgreich bewältigen zu können. Selbstverständlich muss es auch möglich bleiben, dass Kinder zunächst in der allgemeinen Schule starten, dann in eine sonderpädagogische Einrichtung wechseln und einen ihren Voraussetzungen entsprechenden Bildungsabschluss oder berufliche Qualifikation erwerben. In Zeiten einer intensiven stationären Behandlung eines an Krebs erkrankten Kindes ist es für dieses Kind oft lebensnotwendig, in der Klinik ein spezielles Bildungsangebot der Schule für Kranke zu realisieren, um die Anschlussfähigkeit an die Lebenswirklichkeit aufrecht zu erhalten und im Klinikalltag sicherzustellen.
Gerade Menschen mit Behinderungen haben das Recht auf eine optimale, passgenaue Ausgestaltung und Realisierung eines an sie gerichteten Bildungsangebotes. Optimal bedeutet in diesem Kontext: eine entsprechende räumliche (barrierefreie), sächliche (insbesondere mediale) und personelle (insbesondere fachlich hoch qualifizierte unterstützende Qualität) Ausstattung. Auch bei ihnen besteht der Anspruch, die Qualitäten ihrer Bildungswege (einschließlich Ausbildung und Weiterbildung) zu sichern und die Konzepte auf deren Belange hin ausgerichtet zu gestalten - wie dies in allen anderen Bereichen unserer Bildungslandschaften selbstverständlich ist.
Das Bildungssystem lebt in seinen strukturellen Ausformungen von unterschiedlich angelegten Konzepten (Beispiel Hochschulen und Fachschulen) und von besonderen Lösungen. Entsprechend gibt es keine bildungspolitische Forderung, wonach beispielsweise die Altenpflegerin mit dem Molekularbiologen in der gleichen Institution gemeinsam ausgebildet werden soll.
Ein inklusives Bildungssystem ist grundsätzlich von der Vielfalt an Bildungsangeboten im Hinblick auf den Einzelnen unter Wahrung höchster fachlicher Standards gekennzeichnet. Dieser Anspruch gilt für Menschen mit und ohne Behinderungen. Nur durch ein ausdifferenziertes Bildungssystem, das die Angebote sonderpädagogischer Bildungsinstitutionen einbezieht, können Bildungschancen für alle gleichberechtigt gesichert werden. Alle Bildungsangebote sind dabei einer ständigen Weiterentwicklung verpflichtet.
Sonderpädagogische Bildungsangebote als Generalistenthema oder Spezialistenthema?
Bei vielen Menschen mit Behinderungen kann deren Bildungsanspruch im Rahmen der allgemeinen Bildungssysteme erfüllt werden. Hierbei sind bei einer entsprechenden Ausgestaltung zum Ausgleich von Nachteilen - beispielsweise durch besondere Hilfsmittel und Zeitvereinbarungen - oder jetzt schon vorhandene und sich weiter entwickelnde Konzepte der allgemeinen Pädagogik äußerst tragfähig. Dies widerspricht nicht dem Anliegen, auch pädagogisches Personal aus dem allgemeinen Bereich wie beispielsweise Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung im Bildungsbereich zu sensibilisieren und weitere Basisqualifikationen zu vermitteln. Selbstverständlich gilt dies auch für das weitere Personal wie Hausmeister, aber auch für Eltern und Schüler an allgemeinen Schulen. Immer wieder sollte jedoch auch in diesen Fällen überprüft werden, ob dem Bildungsanspruch des einzelnen Menschen mit einer Behinderung qualitativ Rechnung getragen wird.
Selbstverständlich gibt es Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, deren Bildungsanspruch in Verantwortung der allgemeinen Schule erfüllt wird, die jedoch eine subsidiäre sonderpädagogische Begleitung und Unterstützung benötigen. In diesen Fällen übernimmt das sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentrum im Rahmen seines sonderpädagogischen Dienstes diese Aufgabe an der allgemeinen Schule und koordiniert durch entsprechende professionelle Beratung bzw. den Einbezug von weiteren Fachleuten ein stützendes Netzwerk. Gerade hierbei ist eine kontinuierliche Begleitung durch Fachleute über einen bestimmten Zeitraum hinweg unabdingbar.
Um den Bildungsanspruch von vielen Menschen mit Behinderungen und deren ganz speziellen Unterstützungsbedarf zu sichern, ist eine hohe fachliche Professionalität nötig. Darüber hinaus bedarf es zur Gestaltung der Bildungssituation von Menschen mit Behinderungen Lehrerinnen und Lehrer, die von einer besonderen Motivation für diese spezielle Zielgruppe gekennzeichnet sind. Auf dem Fundament einer grundsätzlich zutiefst wertschätzenden Haltung sind vor allem aber auch ausgewiesene Kompetenzen in Bereichen wie Empathie, Kooperation und Prozessgestaltung notwendig. Von daher ist in Einzelfällen hoch qualifiziertes Fachpersonal erforderlich, das es mittel- und langfristig so nur in einem Kompetenzzentrum geben kann.
Ein Beispiel: Wenn ein 14-jähriger Junge jeden Morgen in die Schule kommt und sich zunächst für ein bis zwei Schulstunden in einem Schrank verkriecht, bedarf es einer ausgewiesenen sonderpädagogischen Diagnostik und einer davon abgeleiteten speziellen didaktischen Gestaltung der Bildungssituation, um diesen Jungen in seiner schwierigen psychischen Situation zu erreichen - sowie der weiteren Unterstützung durch eine eventuelle psychotherapeutischen Behandlungen. Oder wie lernt ein gehörloses Kind, das sich in der zweiten Klasse im Grundschulbereich befindet, abstrakte Begriffe wie "Vermutung'" zu begreifen und zu verstehen? Auch hier bedarf es spezieller didaktischer Ansätze neben einer differenziert gestalteten kommunikativen Situation beispielsweise mit Gebärden. Bei der gesamten Gestaltung der Lernsituation müssen hörgeschädigtenspezifische Aspekte (hörakustische Optimierung und Ausleuchten des Raumes, damit ohne Schwierigkeiten von den Lippen abgelesen werden kann) berücksichtigt werden.
Wie entwickelt ein blindes Kind eine Vorstellung von Gegenständen, die nicht taktil erfassbar sind, beispielsweise die Architektur von Bauwerken? Schon das Erfassen der Form einer Tasse ist immer an diese jeweilige spezielle Form gebunden. Der Transfer auf andere Tassenformen ist damit noch nicht geleistet. Oder wie werden einem Jugendlichen mit einer schweren Mehrfachbehinderung grundlegende kulturelle Bildungsinhalte wie beispielsweise Märchen vermittelt? Für diese Bildungsprozesse sind hoch spezialisierte didaktische Konzepte entwickelt worden.
Auch bei der immer wieder aufflackernden Diskussion um die Frage, wo die Bildungsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit umfassenden Lern- und Entwicklungsstörungen realisiert werden, gibt es aus sonderpädagogischer Sicht wesentliche Aspekte, die im Interesse dieser Menschen berücksichtigt werden müssen:
Stärkung des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit;
didaktische Konzepte, welche die Lebensbedeutsamkeit von Lernen und Lerninhalten zentral berücksichtigen;
die weitestgehende Reduzierung von Konkurrenzsituationen im Bereich des Lernens;
eine grundlegend entwicklungsfördernde Unterrichtsgestaltung beispielsweise unter Einbezug psychomotorischer oder kreativer Ansätze;
ausdifferenzierte, einzelfallbezogene Konzepte auf dem Weg zur beruflichen Eingliederung.
Wenn nicht auf die hohen fachlichen Standards der Sonderpädagogik geachtet wird, ist das zentrale Anliegen von inklusiven Bildungsprozessen - nämlich die Optimierung von Aktivität und Teilhabe am aktuellen Leben und auch am kulturellen Erbe - nicht oder nur sehr eingeschränkt realisierbar. Die wohlgemeinte gemeinsame Beschulung wird zu einem reinen "Teilnehmen" am Unterricht, ohne dass das Recht auf Bildung substantiell eingelöst wird. Das Ziel eines möglichst weitgehenden selbstbestimmten und selbständigen Lebens als Erwachsener ist dann nur eingeschränkt oder gar nicht erreichbar. Der erweiterte Anspruch von Aktivität und Teilhabe in der Gesellschaft rückt in weite Ferne.
Für einzelne Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, die einen Anspruch auf ein weitreichendes sonderpädagogisches Bildungsangebot haben, braucht es vielfach - zumindest zeitweise - ein fachlich fundiertes exklusives Bildungsangebot mit hervorragenden personellen, räumlichen und sächlichen Rahmenbedingungen. Die Realisierung dieses sonderpädagogischen Bildungsangebotes kann auch an anderen Lernorten wie an der allgemeinen Schule stattfinden. Es muss aber auf jeden Fall vom sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentrum verantwortet und geleistet werden. Nur so können die hohen Qualitätsstandards sonderpädagogischer Bildung auf der Grundlage behinderungsspezifischer Fachlichkeit gewährleistet werden.
Profundes behinderungsspezifisches Fachwissen ist an Personen gebunden. Sonderpädagogen sind hoch spezialisierte Fachleute für Lern- und Bildungsprozesse bei Menschen mit Behinderungen. Auch vor diesem Grundgedanken sind spezialisierte sonderpädagogische Zentren nötig, die diese fachlichen Qualitäten garantieren und durch systematisch angelegte Weiterbildungsprozesse und regelmäßigen Teamsitzungen sichern. Gekennzeichnet durch einen konsequent kooperativ ausgerichteten interdisziplinären Ansatz findet ein kontinuierlicher, fundierter Austausch fachrichtungsübergreifend im Hinblick auf die Behinderungsarten, aber auch interdisziplinär statt, wobei weitere Fachdisziplinen wie beispielsweise der medizinische Bereich, Kostenträger und weitere Partner einbezogen werden.
Wohnortnähe/Sozialraumorientierung und bestmögliche Förderung
Die Sicherung der lebenslangen Bildungsansprüche von Menschen mit Behinderungen bewegt sich seit jeher im Spannungsfeld zwischen der Herausnahme - also dem Verlassen des sozialen Umfeldes - sowie dem Anspruch bestmöglicher Unterstützung, Begleitung und höchster Qualität im Bildungsprozess. Dieses begleitet im Übrigen auch alle weiteren Bereiche des menschlichen Lebens wie Freizeit, Wohnen und Arbeit und ist als ein generelles Thema für jeden Menschen (siehe die gewachsenen Mobilitätsansprüche im Berufsleben) von größter Relevanz. In jedem Einzelfall muss unter Einbezug aller Aspekte und gemeinsam mit allen Beteiligten differenziert geklärt werden, welche Angebotsstrukturen eine möglichst passgenaue Lösung ergeben.
Allerdings gilt es auch hier immer mit zu bedenken, welche Optionen und Lösungen überhaupt realisierbar sind. So benötigt ein Junge mit einer schweren geistigen Behinderung und einer massiven Körperbehinderung nicht nur ein spezielles Bildungsangebot durch Sonderpädagogen, sondern auch weitere Förderung und Unterstützung durch Therapeuten. Er braucht aber auch eine barrierefreie räumliche Umgebung und nicht zuletzt einen gesicherten Schulweg. Gleichzeitig ist auch frühzeitig zu klären, wie sich Prozesse der beruflichen Qualifizierung anschließen und wie auch die Vorbereitung auf eine eigenständige Wohnform beispielsweise in einer Wohngemeinschaft schon in die Ausgestaltung des Bildungsangebotes integriert wird.
Ein weiterer Aspekt muss ebenfalls bedacht werden: Kinder und Jugendliche mit Behinderungen benötigen auch die kontinuierliche Erfahrung und den Kontakt mit anderen Kindern und Jugendlichen, die vor vergleichbaren Herausforderungen stehen. Dies ist für ihre Identitätsentwicklung von besonderer Bedeutung. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass dieser erwähnte Junge wohnortnah mit weiteren Kindern oder Jugendlichen mit einer derartigen Behinderung umfassend im Kontakt sein kann. Oder ein blinder Jugendlicher: Mit welchen blinden Altersgenossen in seiner wohnortnahen Schule kann er sich über spezielle Fragestellungen bezüglich Sexualität und Freundschaft/Partnerschaft oder auch über berufliche Perspektiven vor dem Hintergrund ihrer Lebenssituation austauschen? Gerade im jugendlichen Alter ist der kontinuierliche Austausch unter "Seinesgleichen" (peer-group) für die weitere Persönlichkeitsentwicklung von enormer Bedeutung.
Diese Skizzierungen der Komplexität von Klärungsprozessen - im Interesse der Betroffenen und mit ihnen gemeinsam - machen deutlich, dass sich generelle Lösungen verbieten. Das Grundprinzip der Sonderpädagogik, in jedem Einzelfall individuelle Klärungsprozesse und Lösungen bezüglich möglicher Bildungswege fachlich fundiert und differenziert ausgelotet zu entwickeln, muss auf jeden Fall als zentraler Qualitätsstandard erhalten bleiben.
Erhalt oder Abschaffung von sonderpädagogischen Einrichtungen (Sonderschulen)?
Folgende grundsätzliche Sichtweisen möchte ich auf dem Hintergrund oben gemachter Ausführungen formulieren:
Ein Höchstmaß an Aktivität und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft ist das zentrale Anliegen sonderpädagogischer Begleitung und bei der Realisierung sonderpädagogischer Bildungsangebote. Das Recht auf eine selbstbestimmte und weitestgehende selbständige Lebensführung ist zentrales Paradigma der Sonderpädagogik und handlungsleitend für sämtliche inhaltlichen wie systemischen Weiterentwicklungsprozesse.
Im Mittelpunkt steht der einzelne Mensch mit seinem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf in verschiedenen Bereichen - nicht nur im Bereich schulischer Bildung. Dieser Unterstützungsbedarf ist im Bereich Bildung durch einen individuellen Bildungsanspruch - neben weiteren notwendigen therapeutischen, sozialpädagogischen und pflegerischen Unterstützungsleistungen - gekennzeichnet.
Dem Bildungsanspruch von Menschen mit Behinderungen wird abhängig von der Gestaltung der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung an unterschiedlichen Orten Rechnung getragen. Die Realisierung dieses Bildungsanspruchs endet nicht mit dem Ende der Schulzeit ("Lebenslanges Lernen") und schließt eindeutig auch Menschen mit schweren Mehrfachbehinderungen mit ein.
Um dem individuellen Entwicklungspotential der einzelnen Menschen professionell Rechnung tragen zu können, muss ein Bildungssystem konsequent durchlässig angelegt sein. Dies bedeutet, dass die Übergänge in ein anderes Bildungsangebot professionell und kooperativ angelegt gestaltet werden müssen.
Die UN-Behindertenrechtskonvention formuliert das Recht auf Bildung eines jeden Menschen - unabhängig vom Grad seiner Behinderung. Das bedeutet, dass jedes Bildungssystem entsprechende qualifizierte individuelle Bildungs- und Beratungsangebote für jeden Menschen bereitstellen muss (Inklusionsparadigma der Bildungssysteme).
Hieraus ergibt sich die Pflicht eines jeden Staates, individuelle Bildungs- und Beratungsangebote auf dem Hintergrund behinderungsspezifischer Notwendigkeiten im didaktischen, methodischen und inhaltlichen Bereich anzubieten und vorzuhalten.
Zur Realisierung dieser notwendigen spezifischen Gestaltung von individuellen Bildungsangeboten besteht die Notwendigkeit der Einrichtung von besonderen spezifisch ausgestalteten Schulplätzen bzw. Förder- und Bildungsorten. Auf die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ist zu achten.
Des Weiteren ist es unabdingbar, fachlich hoch qualifiziertes Personal zur Gestaltung und Realisierung der individuellen Lern- und Entwicklungsbegleitung auch im Bereich "Bildung" in ausreichendem Maße zur Verfügung zu stellen.
Hierbei darf der Bildungs- und Förderort "Sonderpädagogisches Kompetenzzentrum" nicht benachteiligt werden. Diese Zentren müssen für alle behinderungsspezifischen Fachrichtungen vorgehalten werden. Hierfür sind die Standorte der Sonderschulen hervorragend geeignet.
Die jungen Menschen selbst, ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten sind die wesentlichsten Partner im Bereich einer individuellen Bildungswegeplanung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Sie tragen die Verantwortung für den Bildungsverlauf entscheidend mit und sollten deshalb die Entscheidung bezüglich des Ortes, an dem der individuelle Bildungsanspruch eingelöst werden kann, wesentlich bestimmen.
Sonderschulen sind mit ihrem weiterentwickelten Konzept hin zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren unabdingbar. Sie sichern durch ihre hoch qualifizierten professionellen Beratungsleistungen und durch das Unterbreiten hoch spezialisierter Bildungsangebote in entscheidendem Maße die Optimierung von Aktivität und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Sonderpädagogische Bildungs- und Beratungszentren sind ein unverzichtbarer Bestandteil eines inklusiven Bildungssystems.