Einleitung
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), seit dem 26. März 2009 in Kraft, ist in Deutschland angekommen.
Der Zuspruch, den dieses Übereinkommen erfährt, ist enorm. Zahlreiche Stimmen aus Staat und Gesellschaft beziehen sich auf sie. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung bekräftigt sie als Maßstab für jedes staatliche Handeln.
Entstehungsgeschichte
Die Konvention ist im Rahmen der Vereinten Nationen entwickelt worden.
Ziel der Konvention
Menschen mit Behinderungen sollen von den Menschenrechten Gebrauch machen können, und zwar gleichberechtigt mit anderen, das heißt in gleichem Maße wie nichtbehinderte Menschen (Art. 1 Unterabs. 1 UN-BRK). Dieses ausdrücklich erklärte Ziel der Konvention fußt auf der Erkenntnis, dass Menschen wegen einer Beeinträchtigung stärker in der Wahrnehmung ihrer Rechte eingeschränkt sein können als Menschen ohne Behinderungen.
Verständnis von Behinderung
Die Konvention nimmt sehr vielfältige Lebenssituationen in den Blick. Sie fokussiert die Lebenslagen der Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben (vgl. Art. 1 Unterabs. 2 UN-BRK). Dazu gehören nicht nur Menschen, die herkömmlich mit einer "Behinderung" assoziiert werden, wie etwa Menschen mit körperlichen Einschränkungen, blinde oder gehörlose Menschen, sondern auch Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung, Menschen mit seelischen Schwierigkeiten oder psychischen Erkrankungen, Menschen mit Autismus oder auch pflegebedürftige alte Menschen.
Als "Behinderung" versteht die Konvention die strukturell bedingte und im Vergleich zu nichtbehinderten Menschen größere Einschränkung der individuellen Rechte von Menschen mit Beeinträchtigungen. Sie erkennt eine Behinderung dort, wo die Wechselwirkung zwischen einer Beeinträchtigung und einer gesellschaftlichen Barriere dazu führt, dass Menschen mit Behinderungen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft gehindert werden (siehe Art. 1 Unterabs. 2 UN-BRK). Die Konvention verlagert damit das Problem "Behinderung" von der individuellen Sphäre zu den Bereichen der gesellschaftlichen Strukturen und unseres Denkens.
Die Rechte
Spektrum der verankerten Rechte:
Die Konvention deckt das gesamte Spektrum menschenrechtlich geschützter Lebensbereiche ab. Dem Grundsatz der Unteilbarkeit verpflichtet, integriert sie wie kein Übereinkommen vor ihr bürgerliche und politische Rechte sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die Konvention listet die Rechte der Menschen mit Behinderungen im Einzelnen auf.
Dazu gehören das Recht auf Leben (Art. 10), das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht und Schutz der Rechts- und Handlungsfähigkeit (Art. 12), das Recht auf Zugang zur Justiz (Art. 13), das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 14), Freiheit von Folter (Art. 15), Freiheit vor Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Art. 16), das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit (Art. 17), Freizügigkeit (Art. 18), das Recht auf Staatsangehörigkeit (Art. 18), das Recht auf unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gesellschaft (Art. 19), das Recht auf persönliche Mobilität (Art. 20), das Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 21), das Recht auf Zugang zu Informationen (Art. 21), Achtung der Privatsphäre (Art. 22), Achtung der Wohnung (Art. 23), Familie und Familiengründung (Art. 23), das Recht auf Bildung (Art. 24) und auf Gesundheit (Art. 25), das Recht auf Arbeit und Beschäftigung (Art. 27), das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard (Art. 28), Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Art. 29), Teilhabe am kulturellen Leben sowie auf Erholung, Freizeit und Sport (Art. 30).
Konkretisierung bestehender Menschenrechte:
Es handelt sich bei den "Rechten von Menschen mit Behinderungen" gemäß der Konvention um ein und dieselben Rechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 niedergelegt sind. Sie ist keine Spezialkonvention, die Sonderrechte oder Privilegien für Menschen mit Behinderungen formuliert. Die Leistung und der Gewinn der Konvention sind darin zu erkennen, dass sie die universellen Rechte aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen präzisiert und im selben Zuge die staatlichen Verpflichtungen für ihren Schutz konkretisiert.
Zum Beispiel haben die Staaten der Vereinten Nationen im Bereich des Diskriminierungsschutzes seit Gründungszeiten Verbote, etwa in Bezug auf Geschlecht, Sprache und Religion angenommen.
Das bedeutet auch, dass die Bestimmungen der Konvention unter Anwendung bestimmter Methoden und Quellen ausgelegt werden können und sollen, will man ihren Inhalt sinnvoll erschließen. Eine fachgerechte Auslegung muss sich etwa der Interpretationsstandards der Wiener Vertragsrechtskonvention bedienen
Zum Beispiel: Das Recht auf inklusive Bildung.
Die Konkretisierungsleistung der Konvention sei hier anhand des Rechts auf inklusive Bildung im Sinne von Art. 24 UN-BRK kurz dargestellt. Das Recht auf Bildung als Menschenrecht ist bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im UN-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte anerkannt worden.
Geleitet vom Grundsatz der Inklusion, entwickelt die Konvention das Recht auf Bildung zu einem Recht auf inklusive Bildung fort.
Grundsätze und Querschnittsaufgaben
Die UN-BRK formuliert zu den einzelnen Rechten übergreifende, grundlegende Anliegen, die in Bezug auf die Verwirklichung nahezu aller Rechte von Menschen mit Behinderungen von wesentlicher Bedeutung sind. Das ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern hat praktische Konsequenzen: Während sich etwa in der Vergangenheit Behindertenpolitik auf sozialpolitische Fragen konzentriert hat, unterstreicht die Konvention, dass Behinderung in allen Politikbereichen relevant sein kann.
Diskriminierungsschutz:
Relevant für alle Rechte in der Konvention ist der menschenrechtliche Diskriminierungsschutz (siehe dazu die Art. 2, 3 und 5 UN-BRK). Das Nichtdiskriminierungsprinzip dient dazu, den gleichberechtigten Gebrauch der Freiheit von Menschen mit Behinderungen abzusichern. Die Konvention verbietet gleichermaßen direkte und indirekte Diskriminierung. Besondere Bestimmungen zum Schutz vor Diskriminierung enthält sie in Bezug auf Frauen und Mädchen (Art. 6 UN-BRK).
Als innovatives Element des Diskriminierungsschutzes führt die UN-BRK das Konzept der angemessenen Vorkehrungen ein (Art. 2 Unterabs. 4 UN-BRK). Darunter sind die individuell erforderlichen Anpassungen von Gegebenheiten zu verstehen, die gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen ihr Recht gleichberechtigt mit anderen wahrnehmen können. Beispielsweise gehören dazu Veränderungen der Schulsituation in der Regelschule, damit ein Kind mit Behinderung dort sinnvoll und individuell - etwa durch zieldifferenten Unterricht - unterrichtet werden kann. Die Konvention macht angemessene Vorkehrungen zum integralen Bestandteil einzelner Rechte, etwa beim Recht auf inklusive Bildung.
Inklusion:
Der Gedanke der sozialen Inklusion ist ein tragender Grundsatz und Leitbegriff der Konvention (Art. 3 UN-BRK). Inklusion steht für die Offenheit eines gesellschaftlichen Systems in Bezug auf soziale Vielfalt, die selbstverständlich Menschen mit Behinderungen einschließt. Der Begriff im Sinne der Konvention geht über das hinaus, was traditionell mit "Integration" gemeint ist. Es geht nicht nur darum, innerhalb bestehender Strukturen auch für Menschen mit Behinderungen Raum zu schaffen, sondern darum, die gesellschaftlichen Strukturen so zu gestalten, dass sie der realen Vielfalt menschlicher Lebenslagen - gerade auch von Menschen mit Behinderungen - von vornherein gerecht werden.
Bewusstseinsbildung:
Große Bedeutung misst die Konvention der allgemeinen und individuellen Bewusstseinsbildung bei (siehe Art. 8 UN-BRK). Die von der UN-Konvention angeleitete Bewusstseinsbildung hat das Ziel, etwa das an "Defiziten" orientierte Denken zu überwinden. Dagegen fördert sie die Wertschätzung von Menschen mit Behinderungen und die Sichtweise, Behinderung als Beitrag zur menschlichen Vielfalt anzuerkennen. Zur Unterstützung eines gesellschaftlichen Bewusstseinswandels verpflichtet die Konvention den Staat, sofortige wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um etwa in der gesamten Gesellschaft, einschließlich der Ebene der Familien, das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern. Zu diesen geeigneten Maßnahmen gehören auch öffentliche Kampagnen.
Barrierefreiheit:
Neben den mentalen Barrieren problematisiert die Konvention die Barrieren aus dem Bereich der Umwelt (etwa in Bezug auf Transportmittel, Information, Kommunikation, Dienste), die Menschen wegen einer Beeinträchtigung am gleichberechtigten Rechtsgebrauch hindern (Art. 9 UN-BRK). Die Konvention verpflichtet dazu, Barrieren systematisch zu identifizieren und schrittweise, aber konsequent abzubauen, die Menschen mit Behinderungen eine selbständige Lebensführung und eine volle Teilhabe versperren.
Partizipation:
Politik für Menschen mit Behinderungen kann nur gelingen, wenn diese selbst mitwirken. Die Konvention verpflichtet daher die Staaten, die unterschiedlichen Perspektiven behinderter Menschen einzubeziehen, indem betroffene Menschen und die sie vertretenden Verbände in politische Prozesse eingebunden sind. Erforderlich ist nach der Konvention die Partizipation vor allem in Bezug auf die Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Programmen, die zur Umsetzung der UN-BRK beitragen (Art. 4 Abs. 3 UN-BRK).
Ausbau von Kenntnissen:
In einigen Bereichen sind die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen und die damit verbundenen Schwierigkeiten in Bezug auf ihre Rechtsausübung hinreichend bekannt. Das trifft nicht auf alle Lebensbereiche oder auf alle Gruppen von behinderten Menschen zu. Als Grundlage für politische Konzepte und Programme erkennt die Konvention deshalb die Notwendigkeit, dass ein Staat geeignete Informationen einschließlich statistischer Angaben und Forschungsdaten sammelt (Art. 31 UN-BRK).
Umsetzungsverpflichtungen
Mit der Ratifikation hat sich Deutschland gegenüber der internationalen Gemeinschaft, aber auch gegenüber den in Deutschland lebenden Menschen verpflichtet, die Konvention einzuhalten und umzusetzen (siehe Art. 4 Abs. 1 und 2 UN-BRK).
"Einhaltung der Konvention" meint, dass der Staat bestimmten Vorgaben ohne jeden Zeitaufschub in Bezug auf bestimmte Bestandteile entsprechen muss. Diese sind vom Gebot zur progressiven Entwicklung ausgenommen. Als hinreichend bestimmt gelten das Diskriminierungsverbot oder auch die Abwehrkomponente der Rechte sowie ihre unverfügbaren Inhalte (die so genannten Kernbereiche). Dazu gehört beispielsweise beim Recht auf Bildung, dass Menschen mit Behinderungen nicht rechtlich wie praktisch gegen ihren Willen vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden.
Neben dem Gebot der Einhaltung besteht die Verpflichtung zur schrittweisen Umsetzung. Darunter ist ein zielgerichteter, vom Staat organisierter und angeleiteter Prozess zu verstehen, an den die Konvention ihrerseits bestimmte Anforderungen stellt. Beispielsweise bezieht sich diese Verpflichtung beim Recht auf Bildung darauf, ein inklusives Bildungssystems aufzubauen.
Monitoring
In Abgrenzung zu der Pflicht des Staates, die UN-BRK einzuhalten und umzusetzen, obliegt nichtstaatlichen Akteuren eine andere Aufgabe: das Monitoring (Art. 33 Abs. 2 und 3 UN-BRK, Art. 34ff UN-BRK). Die UN-BRK versteht Monitoring (engl. to monitor - kontrollieren, überwachen) als einen notwendigen und zivilgesellschaftlich organisierten Prozess, der die Einhaltung und Umsetzung der Konvention begleitet und fördert.
Die Besonderheit der UN-BRK gegenüber bisherigen menschenrechtlichen Verträgen liegt darin, dass sie den Staat verpflichtet, dieses Monitoring auf innerstaatlicher Ebene durch die Schaffung einer unabhängigen Stelle dauerhaft sicherzustellen und zu gewährleisten (siehe Art. 33 Abs. 2 UN-BRK).
Bewertung und Ausblick
Die Konvention stärkt die universellen Rechte des Menschen. Zwar waren Menschen mit Behinderungen schon immer in den Schutz menschenrechtlicher Übereinkommen einbezogen. Die Konvention erweitert das Menschenrechtsverständnis auf innovative Weise, weil sie die Perspektiven und vielfältigen Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen systematisch im Menschenrechtsschutz berücksichtigt.
Die Konvention schafft einen Rechtsrahmen für die Behindertenpolitik in Deutschland. Was die Konvention will, ist zwar für die deutsche Rechtsordnung nicht alles neu. Sie stärkt anerkannte Ziele der deutschen Behindertenpolitik und unterstützt bereits eingeleitete Rechtsentwicklungen zu mehr Teilhabe und Selbstbestimmung. Vieles von dem ist auch in der Praxis erreicht. Neu ist aber die zwingende Verschiebung des Blickwinkels: Die Konvention hält dazu an, die Gesellschaft aus den Perspektiven von Menschen mit Behinderungen zu sehen. Geht es mit der Konvention um die volle Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen, sind Menschen mit Behinderungen als Akteure zu begreifen, die Menschenrechte haben und diese Rechte auch aktiv einfordern. Der Anspruch, ihre Rechte zu gewährleisten, ist der neue Maßstab für das staatliche Handeln in Bund, Ländern und Gemeinden. In der vorbehaltlosen Ratifikation der Konvention kommt der politische Wille zum Ausdruck, den Rechten von Menschen mit Behinderungen und ihrer Verwirklichung einen hohen Stellenwert in allen Politikbereichen einzuräumen und deren Einhaltung und Umsetzung als Priorität zu verfolgen. Zudem ist schon jetzt erkennbar, dass es die Konvention in vielen Politikbereichen, etwa dem Bereich Bildung, erforderlich macht, ganz neue Akzente zu setzen.
Auch wenn die UN-BRK immer bekannter wird und das Bewusstsein für die menschenrechtliche Dimension des Anliegens wächst, bleibt es eine Aufgabe, die Bedeutung des Menschenrechtsansatzes weiter bekannt zu machen sowie die staatlichen Handlungsaufträge in Deutschland fortwährend zu entwickeln und nachhaltig umzusetzen.