Noch bis in die 1970er Jahre wurde Behinderung als individuelles, funktionales Defizit aufgefasst, das die Erwerbsfähigkeit einschränkt oder unmöglich macht. Allmähliche Fortschritte in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen ließen sich zunächst daran festmachen, dass sie als "Mit-Bürger" angesprochen, sie also als mündig angesehen wurden. Behinderte Menschen riefen bald dazu auf, sich aus dem Opferstatus zu befreien, und sprachen zunehmend für sich selbst.
Im Jahr 2006 wurde von den Vereinten Nationen die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verabschiedet. An ihr lässt sich der Wandel des Verständnisses von einem Leben mit Behinderung ablesen: Behinderung wird nicht mehr als "Defizit" angesehen, sondern als Element der menschlichen Vielfalt. Seit März 2009 ist die Konvention auch in Deutschland in Kraft. Laut dem Koalitionsvertrag vom vergangenen Herbst dient sie der Bundesregierung als Maßstab für Entscheidungen in diesem Politikfeld. Die Konvention verbietet jede Diskriminierung und verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu garantieren.
Ungeachtet der breiten Zustimmung, welche die Konvention erfahren hat, birgt sie großen politischen Zündstoff. So werden etwa die detaillierten Vorgaben zu ihrer Umsetzung, die sie unter anderem für den Bereich Bildung macht, unterschiedlich interpretiert. Während in der englischen Originalfassung von einem "inclusive education system" die Rede ist, das die Vertragsstaaten gewährleisten sollen, spricht die deutsche Übersetzung von einem "integrativen Bildungssystem". Kritiker der deutschen Behindertenpolitik warfen den Kultusministern semantische Tricksereien vor, um das bestehende Bildungssystem zu erhalten. In einem inklusiven Schulsystem müssten sich die schulischen Rahmenbedingungen den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler anpassen und nicht umgekehrt. Konsequent umgesetzt, würde dies das gegliederte Schulsystem in Frage stellen.