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Waffenproliferation, Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" im Jemen | Arabische Welt | bpb.de

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Waffenproliferation, Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" im Jemen

Marie-Christine Heinze

/ 17 Minuten zu lesen

Debatten über Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" sind Debatten über die politische Verfasstheit einer Gesellschaft. Auch im Jemen sind sie mit Konzepten von kollektiver Identität und damit einhergehenden Machtansprüchen verbunden.

Einleitung

Der Begriff "Waffenkultur" ist wissenschaftlich umstritten und sein analytischer Nutzen in der Tat fraglich. Von Befürwortern der Kleinwaffenkontrolle wird er oftmals in pejorativem Sinne benutzt, um Waffenbesitzern ein archaisches, rückwärts gewandtes Weltbild und eine unzivilisierte Lebensweise zu unterstellen. Da Waffen zur unmittelbaren Gewalt befähigen, unterlaufen selbst die Besitzer legaler Schusswaffen nach dieser Lesart das Gewaltmonopol, das in einem "zivilisierten, modernen" Staat in dessen Händen liegen sollte. In den USA beispielsweise speist sich das umstrittene Recht auf legalen Waffenbesitz aus dem zweiten Zusatzartikel zur Verfassung, dem Second Amendment aus dem Jahr 1791, wonach eine "wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist" - und es zum Zeitpunkt seiner Kodifikation wohl auch war. Das mit der erfolgreichen Eroberung und "Zivilisierung" des "wilden Westens" einhergehende Bild des aufrechten, unabhängigen männlichen (und weißen) Bürgers, der notfalls die Verteidigung von Recht und Ordnung auch in die eigene Hand nimmt, prägt bis heute das Selbstbild vieler Gegner strengerer Kleinwaffenkontrollen in den USA. Sie argumentieren, dass die meisten Waffenbesitzer verantwortungsvoll agierende, rechtschaffene Bürger sind und Waffen notwendig seien, um sich gegen bewaffnete Kriminelle, notfalls aber auch die amerikanische Nation gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen.

Die Art und Weise, wie in den USA Waffenbesitz reguliert wird, ist demnach historisch und gesellschaftlich bedingt. Die seit Jahrzehnten andauernde, zum Teil voller Hass und Verachtung geführte Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern von Kleinwaffenkontrolle verweist auf tiefe Gräben in der amerikanischen Gesellschaft, in welcher "hochmütige Intellektuelle", die "amerikanische Werte verraten", einer "hinterwäldlerischen, unzivilisierten Waffenkultur" gegenüberstehen. Was die moderne amerikanische Nation ausmacht, was die fundamentalen Werte der amerikanischen Gesellschaft sein sollten, steht hier im Herzen der Debatte. Debatten über Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" sind daher Debatten über die politische Verfasstheit einer Gesellschaft. Die Fragen, auf welche Art und Weise in einer Gesellschaft die Anwendung von Gewalt reguliert wird, wer jenseits des Staates das Recht auf legalen Waffenbesitz haben sollte und warum, sind fest mit divergierenden Konzepten von kollektiver Identität, Zivilisation und Moderne und damit einhergehenden Machtansprüchen verbunden.

Dies ist im Jemen nicht anders. Gemäß einer im Jahr 2007 vom Schweizer Forschungsinstitut Small Arms Survey herausgegebenen Rangliste zu zivilem Kleinwaffenbesitz liegt der Jemen mit geschätzten 54,8 Waffen pro 100 Einwohner auf Platz zwei, nur übertroffen von den USA mit etwa 88,8 Waffen pro 100 Einwohner und gefolgt von der Schweiz auf Platz drei (45,7/100) und Finnland auf Platz vier (45,3/100). Deutschland liegt mit geschätzten 30,3 Waffen pro 100 Einwohner auf Platz 15. Auch im Jemen kreist die Debatte zum Thema Waffenbesitz um fundamentale Fragen wie gesellschaftliche Ordnung, Staatlichkeit, Zivilisation und Moderne. Und auch hier wird der Begriff "Waffenkultur" (thaqafat as-silah) in kulturell essentialisierender Weise mit dem Ziel eingesetzt, bestimmte soziale Gruppen in Besitz von Waffen als homogen darzustellen, ihre Lebensweise und soziopolitische Rolle im Gegensatz zu der eigenen als unzivilisiert, rückständig und fortschrittshinderlich zu diskreditieren. Die inhaltliche Ausgestaltung der Diskussion differiert in dem Maße von der Debatte in den USA, wie dies die historischen, politischen und gesellschaftlichen Umstände tun.

Historischer Kontext

Die ersten modernen Waffen kamen mit den Kolonialmächten in den Jemen. Im Jahr 1839 besetzte Großbritannien die strategisch wichtige Hafenstadt Aden in der Nähe vom Bab al-Mandab im Süden des Landes. Aus der britischen Garnison in Aden gelangte eine geringe Anzahl moderner Waffen entweder auf illegalem Wege in jemenitische Hände oder durch den Verkauf älterer Waffentypen im Zuge der Modernisierung der Bestände. Weit mehr Waffen brachte die zweite osmanische Besatzung (1872-1918/19) in den Norden des Jemen. In den andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den osmanischen Besatzern, dem dort herrschenden Imam und den Stämmen fielen zahlreiche Waffen in die Hände der nordjemenitischen Bevölkerung.

Der nächste große Zustrom moderner Waffen steht in direkter Verbindung mit der Gründung der ersten beiden modernen jemenitischen Staaten: Im Norden des Landes wurden in einem von 1962 bis 1967 dauernden Bürgerkrieg, aus welchem 1967 die Arabische Republik Jemen ("Nordjemen") hervorging, die konfligierenden Parteien von Saudi-Arabien auf der einen und Ägypten auf der anderen Seite unter anderem mit Waffenlieferungen unterstützt. Diese Waffen fanden auch ihren Weg in den Süden, wo ein von 1963 bis 1967 andauernder Aufstand die Vorherrschaft der Briten in Aden und dessen Hinterland beendete. 1967 wurde hier mit der Demokratischen Volksrepublik Jemen ("Südjemen") eine neue Staatsform marxistisch-sozialistischer Couleur errichtet, deren gesellschaftliches Experiment vor allem das Leben der Bewohner von Aden nachhaltig verändern sollte.

1990 vereinigten sich die beiden Staaten zur Republik Jemen. 1994 allerdings erklärten Teile der ehemaligen südjemenitischen Elite aus Unzufriedenheit mit der Machtteilung die Sezession des Südens. In dem darauffolgenden Bürgerkrieg rekrutierte vor allem das nordjemenitische Militär zahlreiche Männer aus der Bevölkerung - unter ihnen viele aus Afghanistan zurückgekehrte Dschihadisten -, die es bewaffnete und an seiner Seite kämpfen ließ. Die südjemenitische Sezessionsbewegung unterlag und viele ihrer Anführer flohen ins Exil. Die auf diesen Krieg folgenden Plünderungen der Waffenlager im Süden durch die nordjemenitische Armee sowie diejenigen, die auf ihrer Seite gekämpft hatten, führten zu einer noch weiteren Verbreitung von Kleinwaffen im Lande und damit zu Preissenkungen, welche die Waffen selbst für den Ärmsten erschwinglich machten.

In der Erinnerung der Jemeniten sind die genannten Revolutionen und der weniger als zwanzig Jahre zurückliegende Bürgerkrieg von 1994 höchst lebendig. Diese gewaltsamen Umbrüche haben die politische und gesellschaftliche Landschaft des Jemen nachhaltig verändert. Das kollektive Gedächtnis vieler Jemeniten ist daher eng verbunden mit den Waffen, die meist über Interventionsmächte in das Land kamen und jeweils den Sieg einer Herrschaftsform über eine andere mit begründeten. Eine AKS-74U (eine kurze Variante der Kalaschnikow) beispielsweise ist unter dem Namen "al-Jifri" bekannt. Abd al-Rahman al-Jifri war einer der Anführer der südlichen Sezessionsbewegung von 1994. Erzählungen von Jemeniten nach soll er damals diese Waffe an die Mitstreiter der Sezessionisten verteilt haben. Eine andere Variante der Kalaschnikow ist unter der Bezeichnung "mu'tamar" bekannt. Dieser Name bezieht sich nach Aussagen von Jemeniten auf die Regierungspartei Allgemeiner Volkskongress (al-mu'tamar al-sha'bi al-'am), die im Bürgerkrieg 1994 die auf ihrer Seite Kämpfenden mit dieser Waffe ausstattete und deren Verteilung erneut vor den Parlamentswahlen 2003 gezielt zur Sicherung von Loyalitäten einsetzte.

Politischer und gesellschaftlicher Kontext

Der Sieg des Nordens über den Süden im Bürgerkrieg von 1994 bedeutete mehr als nur den Sieg einer politischen Elite über eine andere. Es war der Sieg eines politischen Systems über ein anderes, einer Geschichtsschreibung über eine andere, einer spezifischen Gesellschaftsform über eine andere. Während in der Arabischen Republik Jemen beispielsweise das Tragen von Waffen nicht reguliert gewesen war, war es in der Demokratischen Volksrepublik Jemen strikt untersagt. Das nordjemenitische politische System gründet seit der Revolution 1962-1967 auf einem komplexen Zusammenspiel von politischer Elite, Militärapparat und den Stämmen, wobei diese drei Institutionen durchaus auch in Personalunion auftreten können.

Der seit 1978 den Nordjemen und seit 1990 die vereinigte Republik Jemen regierende Präsident Ali Abdallah Salih ist als Mitglied des Stammes Sanhan und früherer Oberstleutnant der nordjemenitischen Armee hierfür das herausragende Beispiel. Salih umgibt sich mit einem engen Kreis von Verwandten und Vertrauten und hat über die Jahrzehnte ein komplexes Regierungssystem entwickelt, das auf den Mechanismen Patronage, Kooptation und divide et impera aufbaut: Politisch einflussreiche Persönlichkeiten versorgt er entweder mit Posten in Verwaltung, Militär und Regierung oder erkauft sich ihre temporäre Loyalität und damit die ihrer Anhänger oder Stammesmitglieder durch teure Geschenke wie Geld, Autos oder auch Waffen. Alternativ schürt er Konflikte beispielsweise zwischen zu einflussreich gewordenen Stämmen, so dass sich diese in lokalen Konflikten aufreiben, anstatt ihre Aufmerksamkeit auf die Hauptstadt zu richten. Waffen sind demnach ein wichtiger Bestandteil des politischen Systems, in welchem die Loyalität der auf Autonomie bedachten Stämme stets erkauft oder alternativ ihre Widerstandskraft zerrieben werden muss.

Die jemenitischen Stämme (qaba'il) stellen die größte gesellschaftliche Gruppe im Nordjemen und sind dort ein wichtiger politischer und ökonomischer Faktor. Sie sind keine Nomaden, sondern sesshafte Bauern. Landbesitz ist damit ein wichtiger Faktor in der Konstitution ihrer politischen Autonomie. Diese wird des Weiteren auch über ihre Stellung als traditionelle Beschützer der anderen gesellschaftlichen Gruppen im ruralen Norden des Jemen hergestellt. Individuelle und kollektive Autonomie und Ehre sind die zentralen Träger des tribalen Wertesystems (qabyala), wobei die Ehre eines qabili sich auf die Unverletzlichkeit seines persönlichen Territoriums ebenso bezieht wie auf das seines Stammes, auf die Solidarität mit seinen (Stammes-)Angehörigen sowie auf die Verteidigung von Schutzbefohlenen.

Für viele Bewohner des jemenitischen Hochlands, in welches die Macht des Staates nur selten reicht, sind die Stämme bis heute die Hauptgaranten von Sicherheit. Ihren symbolischen Ausdruck findet diese Autonomie und Ehre der qaba'il unter anderem im Tragen des Gewehrs. Auf staatlicher Ebene manifestiert sich die Autonomie der qaba'il jedoch nicht in einer Trennung von Staat und Stamm. Ganz im Gegenteil lässt sich heute eine enge Verflechtung dieser beobachten, denn zahlreiche einfache Stammesleute sitzen heute in Verwaltungsbehörden und zahlreiche Stammesoberhäupter und deren Söhne haben einflussreiche Positionen in staatlichen Institutionen inne. Dadurch sind sie jedoch nicht im modernen Staatsgefüge aufgegangen, sondern haben dieses durchdrungen und nutzen es oftmals zur Durchsetzung ihrer individuellen und kollektiven Interessen.

Derzeitige Sicherheitslage

Der Jemen sieht sich derzeit mit drei gewaltsamen Konflikten konfrontiert: Die größte Aufmerksamkeit im Westen findet das lokale Netzwerk von al-Qaida, hier bekannt unter dem Namen al-Qaida on the Arabian Peninsula (AQAP). Sein Aktionspotenzial wird zwar um einiges höher eingeschätzt als noch vor einigen Jahren, es stellt jedoch keine existenzielle Gefahr für die Stabilität und Einheit des Landes oder das Überleben des derzeitigen Regimes dar.

In einem fragilen Waffenstillstand befindet sich derzeit der Konflikt mit der Rebellengruppe der Huthis im Norden des Landes, der sich seit 2004 über insgesamt sechs Runden erstreckte, hunderten Jemeniten das Leben kostete und etwa 350000 Binnenvertriebene zur Folge hatte. Im Rahmen dieses Krieges kämpften zuletzt Stämme auf beiden Seiten und wurden von diesen mit Waffen ausgestattet. Die Dauer des Konflikts bedingt sich aber auch dadurch, dass sich in der Region über die Jahre eine komplexe Kriegsökonomie herausgebildet hat, in welcher der Schmuggel von Waffen über die poröse Grenze nach Saudi-Arabien eine zentrale Bedeutung einnimmt.

Höchst gefährlich für die Stabilität des gesamten Landes ist die Sezessionsbewegung im Süden, bekannt unter dem Namen Südliche Bewegung. Diese wird inzwischen von großen Teilen der Bevölkerung im Südjemen mitgetragen und wendet sich im Rahmen meist friedlicher Demonstrationen gegen die inzwischen von vielen als "nördliche Besatzung" empfundene Zentralisierung des politischen Systems, im Rahmen derer seit 1994 alle wichtigen Posten in den Regionen des ehemaligen Südjemen an dem Präsidenten nahe stehende Nordjemeniten vergeben werden. Da angesichts der breiten Unterstützung für die Bewegung die gängigen Kooptationsmechanismen des Regimes versagen, geht dieses zunehmend mit Gewalt gegen die Demonstranten vor. Vor dem Hintergrund dieser instabilen Lage und dem allgemeinen Mangel an (Rechts-)Sicherheit ist eine anwachsende Selbstbewaffnung sogar unter solchen Südjemeniten, die bisher keine Waffe besaßen, zu verzeichnen. Auch im Norden des Landes ist die Nachfrage nach Waffen derzeit ungebrochen, und alles deutet darauf hin, dass sich die Anhänger der Huthis durch das Aufkaufen frei verfügbarer Waffen auf eine weitere Runde des Konflikts vorbereiten.

Kleinwaffenkontrollprogramm

Männer mit geschultertem Gewehr gehörten bis vor Kurzem noch zum alltäglichen Straßenbild der Hauptstadt Sanaa. Es existieren außerdem etwa 18 Waffenmärkte unterschiedlicher Größe, auf denen es jegliche Art von kleinen und leichten Waffen frei zu kaufen gibt. Hier muss jedoch erheblichen regionalen Unterschieden Rechnung getragen werden: Im jemenitischen Hochland im Norden des Landes gehört das Gewehr zum selbstverständlichen Besitz eines Mannes. Hingegen sind das Tragen und sogar der Besitz von Waffen in den Küstenstreifen des Roten und Arabischen Meeres sowie im Osten des Landes, in der Region um Taizz und Ibb südlich von Sanaa wie auch in der ehemaligen Hauptstadt des Südens, Aden, unüblich.

Nachdem das Tragen von Kleinwaffen vor der Vereinigung im Jahr 1990 im Nordjemen ungeregelt und im Südjemen strikt verboten war, einigte man sich nach dem Zusammenschluss beider Länder auf das Gesetz Nr. 40, welches 1992 verabschiedet wurde und 1994 in Kraft trat. Es regelt das Tragen von Kleinwaffen und den Handel mit diesen. Gemäß Artikel 9 dieses Gesetzes ist den Bürgern des Jemen der Besitz von Kleinwaffen zur "legitimen Verteidigung" erlaubt. Das Tragen von Waffen in Sanaa und den Hauptstädten der Provinzen unterliegt dem Besitz einer Lizenz (Art. 10), für welche man mindestens 18 Jahre alt sein muss und die das Tragen von nur einer Waffe auf einmal erlaubt (Art. 14). Das Handeln mit Waffen ist jeder Person oder Seite untersagt, die nicht über eine entsprechende Lizenz verfügt (Art. 11). In den vergangenen zwei Jahrzehnten fand dieses Gesetz nur beschränkt und mit großen regionalen Unterschieden Anwendung.

1999 brachte die Regierung ein neues, verschärftes Kleinwaffenkontrollgesetz in das Parlament ein. Dieser Gesetzentwurf, wonach u.a. das Tragen von Waffen auch jenseits der Städte eingeschränkt und nur noch ausgewählten Würdenträgern vorbehalten sein soll, wurde seitdem zwar wiederholt im Parlament diskutiert, allerdings nicht verabschiedet. Einer der bekanntesten Gegner des Gesetzes war der im Dezember 2007 verstorbene Parlamentspräsident und oberster Stammesführer der Hashid-Stammeskonföderation, Scheich Abdallah al-Ahmar. Die Regierung nutzte die Auseinandersetzung mit den im Parlament vertretenen Stammesrepräsentanten um das verschärfte Waffengesetz dazu, sich selbst als Vorreiterin eines modernen Staatskonzepts zu profilieren, indem sie die Schuld an dem Nichtzustandekommen dieser Gesetzgebung den im Parlament sitzenden Stammesvertretern und dem "rückständigen" politischen System, das diese repräsentierten und das den Aufbau eines modernen demokratischen Staates verhindere, zuschob. Scheich Abdallah al-Ahmar setzte dieser Argumentation entgegen, dass sich die Regierung bislang nicht einmal darum bemüht habe, das weit weniger strikte Gesetz von 1992 richtig durchzusetzen. Es sei nicht einzusehen, warum das Parlament eine striktere Waffengesetzgebung verabschieden solle, wenn die Regierung sich nicht darum bemühe, überhaupt irgendeine Form von Kleinwaffenkontrolle zu implementieren.

Eine staatlich implementierte Kleinwaffenkontrolle geht daher nur schleppend voran: Im Rahmen eines unter großem Medienecho durchgeführten Kleinwaffenkontrollprogramms gilt seit dem 23. August 2007 in Sanaa und in den Hauptstädten aller Gouvernements ein nur wenige Würdenträger ausnehmendes, mit Erfolg implementiertes Verbot, Waffen zu tragen. Darüber hinaus haben die Sicherheitskräfte mehrfach öffentlichkeitswirksam die Waffenmärkte geschlossen, was allerdings lediglich eine Verlagerung des Handels in die Privathäuser der Händler mit sich brachte. Nach einiger Zeit kehrten diese auf die Märkte zurück, wo sie ihre Geschäfte fortsetzten, bis die Regierung eine neue Schließung der Märkte für politisch notwendig erachtete. Außerdem sollte ein mit Geldern aus Saudi-Arabien und den USA finanziertes Rückkaufprogramm die Anzahl von Waffen in der Zivilbevölkerung verringern. Die aufgekauften Waffen jedoch wurden nicht professionell registriert und gelagert und tauchten daher oftmals erneut auf den Märkten auf.

Debatte über Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur"

Vor dem Hintergrund der zunehmend instabilen Lage im Lande und dem nur mäßigen Erfolg des Kleinwaffenkontrollprogramms wird die Frage des Waffenbesitzes im Jemen immer wieder debattiert. Eine im vergangenen Jahr vom jemenitischen Meinungsforschungsinstitut Yemen Polling Center durchgeführte Studie unter 400 Frauen und Männern in sieben Gouvernements ergab, dass die weite Verbreitung von Waffen bei über 74 Prozent der Befragten Besorgnis hervorruft. 97 Prozent begrüßen die gesetzliche Regulierung des Tragens von Waffen im Jemen, allerdings glauben nur 40 Prozent der Befragten, dass die Regierung dazu in der Lage sei, ein solches Gesetz landesweit durchzusetzen. Ebenfalls nur knapp über 43 Prozent glauben, dass die Regierung die Regulierung des Tragens und Besitzens von Kleinwaffen tatsächlich ernst nimmt.

Bei den Debatten über Waffenproliferation und Kleinwaffenkontrolle steht weniger die Bewaffnung der Zivilbevölkerung in vergangenen und gegenwärtigen Konflikten als vielmehr die politische Kultur des Landes im Mittelpunkt, die vielen Befürwortern stärkerer Kleinwaffenkontrollen als zu tribal geprägt erscheint. Die jemenitische Regierung selbst nennt in ihrem Bericht zur UN Disarmament Conference 2006 neben den bewaffneten Konflikten der vergangenen Jahrzehnte folgende Gründe für die weite Verbreitung von Kleinwaffen: "Yemen's geographic position, its proximity to hotbeds of tension and armed struggles in the Horn of Africa region, the length of the Yemeni coastline, the ruggedness of its topography, in addition to its social structure founded on tribal bases that glorify values of manhood and consider a weapon to be one of the basic components of a man's character - all these factors combined have encouraged and facilitated extensive proliferation of small arms and light weapons throughout Yemeni society."

Der Verweis auf eine Kultur der Stämme, die Waffen als zentralen Bestandteil von Männlichkeit betrachten, findet sich auch in vielen anderen Publikationen. Werden in diesem Zusammenhang nicht die vorherrschenden Männlichkeitskonzepte bemüht, so sind es Phänomene wie Blutrache, das Entführen von Ausländern oder das Schießen in die Luft bei Hochzeiten, welche nach dieser Ansicht eine "Gewaltkultur" (thaqafat al-'unf) in den Stämmen belegen und als Erklärungsmuster für die Verbreitung von Schusswaffen im Jemen herangezogen werden müssen. Diese "Waffenkultur" der Stämme gilt es nach Meinung einer ganzen Bandbreite höchst diverser gesellschaftlicher und politischer Akteure zu überwinden. Zu diesen Akteuren zählen die meisten Intellektuellen des Landes, die Aktivisten der hauptsächlich in Sanaa angesiedelten Zivilgesellschaft, viele Anhänger der Südlichen Bewegung, die sich gegen eine "Tribalisierung" ihrer Region wenden, aber auch prominente Islamisten, die sich von al-Qaida abgrenzen wollen. Auch die Tatsache, dass die Verabschiedung des verschärften Kleinwaffenkontrollgesetzes seit Jahren im Parlament blockiert wird, ist nach Meinung vieler dieser genannten Akteure allein denjenigen Abgeordneten zur Last zu legen, welche lediglich die direkten Interessen ihres Stammes im Parlament verträten, anstatt die Zukunft des gesamten Landes im Blick zu haben.

Von Seiten der Stämme und anderer Gegner strengerer Kleinwaffenkontrollen wird hingegen argumentiert, dass man sich gerne anderer Mittel zur Kommunikation und Durchsetzung der eigenen Interessen bedienen würde, das politische System dies jedoch nicht zulasse. Solange politische Einflussnahme und der Zugang zu ökonomischen Ressourcen nur einer kleinen Machtelite vorbehalten sei, sei eine notfalls auch gewaltsame Interessenvertretung der Bevölkerung gegenüber der Regierung bisweilen alternativlos. Außerdem sei es allein der Fähigkeit der Stämme zu bewaffnetem Widerstand zu verdanken, dass der Jemen noch keine Diktatur geworden sei. Ihr Vermögen, Druck auf die jemenitische Regierung auszuüben und dieser gegebenenfalls auch die Unterstützung zu verweigern, sei der einzige Garant für die Aufrechterhaltung politischer Einflussnahme durch die Bevölkerung auf die Politik im Jemen.

Ferner sei das Tragen von Waffen angesichts der Unfähigkeit der Regierung, Sicherheit herzustellen, eine unerlässliche Notwendigkeit. Man sei unverzüglich bereit, seine Waffen aufzugeben, wenn der Jemen ein sicheres Land sei, in welchem das Rechtsstaatsprinzip gelte und die gerechte Verteilung von Ressourcen sowie ein demokratischer Zugang zur Macht garantiert würden. Im Hinblick auf die Kultur der Stämme seien Waffen vor allem als Schmuck zu betrachten, in welchem Männlichkeit und tribale Tugenden wie Ehre und die Bereitschaft zum Schutz von Schwächeren ihren symbolischen Ausdruck fänden. Sie seien jedoch keinesfalls Ausdruck einer gewalttätigen Grundhaltung. Ganz im Gegenteil unterliege die Anwendung von Gewalt nach lokalem Recht ('urf) eindeutigen Regeln und Normen. Das Waffengesetz im Parlament werde daher aus zwei Gründen blockiert: Erstens sei die Verabschiedung eines neuen Gesetzes nicht einzusehen, solange die Regierung selbst das bestehende nicht umsetze. Zweitens würde eine verstärkte Kleinwaffenkontrolle zur Eindämmung von Kriminalität und zur Erhöhung der Sicherheit der Bevölkerung zwar begrüßt, aber nicht solange durch eine Entwaffnung der Stämme die Gefahr bestehe, dass eine unbewaffnete Bevölkerung einem gewaltbereiten Regime hilflos ausgeliefert sei.

Waffen, Nation, Staatlichkeit

Waffen sind Instrumente zur Herstellung von Macht, zur Ausübung von Gewalt und zur Selbstverteidigung. Die Waffengesetzgebung eines Staates regelt daher, wer über einen legalen Zugang zu solchen Instrumenten verfügen sollte. Debatten über Waffengesetzgebung betreffen daher stets Vorstellungen über die politische Ordnung einer Gesellschaft, die wiederum nur im historischen, politischen und gesellschaftlichen Kontext verstanden werden können. In Ländern fragiler Staatlichkeit, in denen oftmals eine große Lücke zwischen gesetzlichem Anspruch und den realpolitischen Gegebenheiten klafft und das Gewaltmonopol des Staates qua Definition in Frage gestellt wird, richtet sich die Debatte über Kleinwaffenkontrolle weniger auf gesetzliche Regelungen als solche, sondern auf das politische und soziokulturelle Gefüge, welches von den Akteursgruppen im Kampf um die politische Macht in Stellung gebracht wird.

Die Stämme im Jemen, die sowohl über die Befähigung zu bewaffnetem Widerstand als auch zur militärischen Unterstützung des Regimes verfügen, spielen nicht nur eine einflussreiche Rolle in machtpolitischen Aushandlungsprozessen und somit im jemenitischen Staatsbildungsprozess, sondern treten darüber hinaus als zentrale Akteure in der Debatte über Kleinwaffenproliferation auf. Sie sehen sich als Garanten für Sicherheit und Ordnung in einem politischen Kontext, der von Instabilität, Korruption sowie politischer und gesellschaftlicher Exklusion gekennzeichnet ist. Die andere Seite sieht im Stamm vor allem eine mit modernen Staatskonzepten konfligierende Form gesellschaftlicher und politischer Organisation. Seine "Waffenkultur" wird als primordiale und unveränderliche Basis seiner Identität wahrgenommen. Allein eine Überwindung dieser Lebensform könne nach dieser Lesart den Aufbau eines modernen Staates garantieren.

Diese kulturelle Essentialisierung einer gesellschaftlichen Gruppe wird auch als "Kulturalismus" oder zugespitzt als "kultureller Rassismus" bezeichnet und verweist auf die Konstruktion sozialer Unterschiede anhand vermeintlicher kultureller Merkmale. Kulturalistische Argumentationsweisen sind im politischen Kontext des Jemen auf beiden Seiten der Kleinwaffenkontrolldebatte zu beobachten, wobei die "Waffenkultur" der Stämme je nach Perspektive sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein kann. In beiden Fällen dient sie der Überhöhung und Abgrenzung eigener Vorstellungen von gesellschaftlicher Organisation und Zivilisation gegenüber einem politischer Konkurrenten.

Die Debatte über Kleinwaffenproliferation, -kontrolle und "-kultur" ist demnach auch im Jemen eine Debatte über Nation, Staatlichkeit und Moderne. Die Fokussierung auf kulturelle Aspekte des Kleinwaffenbesitzes scheint dabei an den harten Fakten (Konflikt, Kriminalität und Waffenhandel) vorbeizugehen, trifft jedoch in vielerlei Hinsicht den Kern der Auseinandersetzung: Welche Ordnung wollen wir uns geben?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich danke Bekim Agai, Gabriele vom Bruck, Jean-Raphaël Giuliani und Jeanette Prochnow für ihre Kommentare zu früheren Versionen dieses Beitrags.

  2. Vgl. Annexe 5 (civilian firearms, by ownership rate), in: Small Arms Survey 2007, online: www.smallarmssurvey.org/files/sas/publications/yearb2007.html (21.4.2010).

  3. Ausführlicheres zur modernen Geschichte des Jemen findet sich unter anderem bei Paul Dresch, A history of modern Yemen, Cambridge 2000; Brian Whitaker, The birth of modern Yemen, 2009, online: www.al-bab.com/yemen/birthofmodernyemen/default.htm (13.5.2010).

  4. Vgl. Derek B. Miller, Demand, stockpiles, and social controls. Small arms in Yemen, Genf 2003, S. 9, online: www.smallarmssurvey.org/files/sas/publications/o_papers_pdf/2003-op09-yemen.pdf (21.4.2010).

  5. Vgl. Clive Jones, Among ministers, mavericks and mandarins. Britain, covert action and the Yemen civil war, 1962-1964, in: Middle Eastern Studies, 40 (2004) 1, S. 101f.

  6. Interviews der Autorin im Jemen (2009/2010).

  7. Dies sind die sich über religiöse Kriterien definierenden sada und fuqaha sowie eine heterogene Gruppe niederer Berufsstände (bani al-khums).

  8. Vgl. Paul Dresch, Tribes, government and history in Yemen, Oxford 1989, S. 75ff.

  9. Vgl. ausführlicher Marie-Christine Heinze, Den Jemen stabilisieren. Hintergründe und Handlungsoptionen im Hinblick auf die aktuellen Konflikte des Landes, in: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) et al., Friedensgutachten 2010, Münster 2010, S. 169-180.

  10. Vgl. Gavin Hales, Fault lines. Tracking armed violence in Yemen, Small arms survey - Yemen armed violence assessment, Issue Brief, (2010) 1, S. 6.

  11. Vgl. Yemen Polling Center, The draft law of arms bearing and possession, Sanaa 2010, online: www.yemenpolling.org/english/Projects-en/Law_of_Arms_Survey_Result_March10,2010.pdf (25.4.2010).

  12. Die im Folgenden dargestellten Argumente auf beiden Seiten der Debatte sind - soweit nicht anders erwähnt - eine Zusammenfassung aus zahlreichen Zeitungsartikeln und anderen Publikationen zum Thema sowie aus von der Autorin im Jemen geführten Interviews.

  13. National report submitted by the government of the Republic of Yemen to the United Nations Conference to Review Progress Made in the Implementation of the Programme of Action to Prevent, Combat and Eradicate the Illicit Trade in Small Arms and Light Weapons in All Its Aspects held in New York, 9.-20. Januar 2006, S. 1, online: http://disarmament2.un.org/cab/nationalreports/2006/Yemen.pdf (7.7.2008).

M.A./M.P.S.; Doktorandin an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld, Postfach 100131, 33501 Bielefeld. E-Mail Link: marie.heinze@uni-bielefeld.de