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Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak | Arabische Welt | bpb.de

Arabische Welt Editorial Die Säkularisierung des arabischen Denkens: Zur Trennung von Vernunft und Religion Die Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und menschlicher Entwicklung in der arabischen Welt Autoritäre Herrschaft in der arabischen Welt Partizipation von Islamisten in der arabischen Politik Gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Wandel des Frauen- und Familienrechts in Marokko Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak Waffenproliferation, Kleinwaffenkontrolle und "Waffenkultur" im Jemen

Partikularismus statt Pluralismus: Identitätspolitik und Presse im Irak

Andrea Fischer-Tahir

/ 15 Minuten zu lesen

Seit 2003 erlebt der Irak eine politische und gesellschaftliche Neuordnung. Medien reflektieren diesen Prozess und wirken auf ihn ein, unter anderem dadurch, dass sie Vorstellungen von Identität und Ordnungsmodelle vermitteln.

Einleitung

Am 7. März 2010 waren die Irakerinnen und Iraker aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Einen klaren Sieg gab es für keine der angetretenen Listen. Aus Enttäuschung behauptete dann auch fast jede der ins Parlament gewählten Parteien, betrogen worden zu sein und erhob gegen die anderen Vorwürfe der Behinderung während des Wahlgangs und der Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenauszählung. Verschiedene Spitzenpolitiker beschworen das Wiederaufleben der Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten sowie Arabern und Kurden, falls nicht - zu ihren Gunsten - Nachauszählungen vorgenommen und die Regeln der Regierungsbildung verhandelt werden würden.

Was symbolisch für eine Neuordnung im Irak stehen sollte, bestätigte die ethno-konfessionelle Spaltung der Politik. Dabei setzt die Politik die Medien ein - nicht nur, um dem Volk tagespolitische Entscheidungen zu erklären, sondern auch, um die Bildung kollektiver Identitäten zu unterstützen.

Politische Neuordnung und Schwierigkeiten mit der Vielfalt

Als die "Koalition der Willigen" im März 2003 gegen den Irak in den Krieg zog, tat sie das bekanntermaßen mit der Begründung, das Land besitze Massenvernichtungswaffen und sei in die Anschläge vom 11. September 2001 verwickelt gewesen. Mit der symbolischen Handlung des Niederreißens einer riesigen Statue von Saddam Hussein am 9. April 2003 in Bagdad wurden die Irakerinnen und Iraker für befreit erklärt - befreit von einem Regime, das zwischen den Jahren 1968 und 2003 innere Gegner durch Angst und Terror unterdrückt oder (wie in Kurdistan in den Jahren 1983 und 1988) in genozidalen Verfolgungsmaßnahmen vernichtet hatte, und das blutige Kriege mit dem Iran (1980-1988) und gegen Kuwait (1990) geführt hatte. Nun versprachen die neuen Befreier den Irakerinnen und Irakern viele Dinge: die Reintegration in die internationale Gemeinschaft nach 13 Jahren des Leidens und der Isolation durch das Embargo, den ehemals Unterdrückten Hilfe bei der Aufklärung der Verbrechen des Baath-Regimes, Demokratie und Pluralismus sowie Meinungs- und Pressefreiheit.

Aber das Sterben im Irak ging weiter. So spricht der Iraq Body Count von circa 25000 zivilen Opfern in den Jahren 2003 bis 2005 und von 51500 in den Jahren 2006 und 2007. Im Jahre 2008 sank diese Zahl auf etwa 9200 und 2009 nochmals auf 4650. Der dramatische Anstieg der Opferzahlen 2006 und 2007 war eine Folge der politischen Neuordnung des Irak. Vor April 2003 hatte eine Elite aus der Bevölkerungsgruppe der sunnitischen Araber (die etwa 20 Prozent der irakischen Bevölkerung ausmachen) regiert. Diese hatte versucht, den schiitischen Arabern (etwa 55 Prozent), den mehrheitlich sunnitischen Kurden (etwa 20 Prozent) sowie den kleineren Minderheiten wie Turkmenen, Christen, Yeziden, Mandäer und andere (zusammen etwa 5 Prozent) ihre Vorstellung von einem Irak als Teil der großen sunnitisch-arabischen Gemeinschaft aufzuoktroyieren. Gleichzeitig ließ der Staat, vermittelt durch Wohlfahrtspolitik, die Bevölkerung an der Erdölrente partizipieren.

Teilweise gab sich das Baath-Regime säkular, aber insbesondere nach dem Kuwait-Krieg 1990 wurde aus innen- und außenpolitischen Gründen der Islam als Element der irakischen Identität aufgewertet. Der Sturz des Baath-Regimes im Jahr 2003 bot Akteuren aus bislang marginalisierten Gruppen die Gelegenheit der Übernahme von Regierungsgeschäften, legitimiert durch die Wahlen im Januar 2005, das Verfassungsreferendum im Oktober 2005 und die Wahlen im Dezember desselben Jahres. Siegerin der Wahlen war eine Koalition aus (mehrheitlich arabischen) schiitischen Parteien mit religiös-konservativen Einstellungen. Gemeinsam mit den seit 1991 in Kurdistan herrschenden Parteien sowie einigen sunnitisch-arabischen "Alibi-Politikern" wurde eine Konsens-Regierung gebildet und führende Positionen nach ethnisch-konfessioneller Herkunft quotiert: Ministerpräsident wurde ein Schiit, seine Stellvertreter ein Kurde und ein Sunnit, Staatspräsident wurde ein Kurde, seine Stellvertreter ein Schiit und Sunnit.

Das Amt des Ministerpräsidenten erhielt Nuri al-Maliki von der schiitischen Islamischen Daawa Partei. Hoschyar Zebari, ein Spitzenpolitiker der Demokratischen Partei Kurdistans (DPK), wurde Außenminister und Jalal Talabani, der Chef der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), wurde Staatspräsident. Dies symbolisierte auch den Bruch mit der arabisch-sunnitischen Dominanz auf der Ebene höchster politischer Vertretung und Entscheidung.

Auf der Verfassungsebene erfolgte der Bruch unter anderem mit Begriffen wie "föderales System" (Präambel und Artikel 1), "pluralistisches System" (Präambel) und der Beschreibung des Irak als ein Staat mit "zahlreichen Nationalitäten, Religionen und Konfessionen" (Artikel 3). Allerdings ist der Verfassungstext als ein Kompromiss zwischen den an seiner Entstehung beteiligten partikularistischen Akteuren zu verstehen und enthält viele Artikel, die Raum für Interpretation eröffnen. So garantiert Artikel 38 Meinungs- und Pressefreiheit, aber nur sofern der Gebrauch dieser Rechte "nicht die öffentliche Ordnung und Moral verletzt".

Der überwiegende Teil der Sunniten hatte die Wahlen und das Referendum boykottiert. Ihnen war klar gewesen, dass nur die zahlenmäßig überlegenen Schiiten und Kurden gewinnen konnten. Denn aufgrund der Schwäche sunnitischer Akteure in den Übergangsregierungen und anderen Gremien waren sie von der Festlegung der Spielregeln so gut wie ausgeschlossen gewesen. Außerdem hatten sie durch den Umsturz und die Besatzungspolitik an Privilegien verloren und waren am meisten von den Entlassungen und Degradierungen im Rahmen der Entbaathifizierung in Militär, Polizei und zivilen staatlichen Einrichtungen betroffen.

Schließlich war der Boykott aber auch Ausdruck extremer Unsicherheit von Menschen, deren Identität plötzlich abgewertet wurde. Sie sollten akzeptieren, zu einer Minderheit zu gehören und bisher als negativ geltende Differenzen im ethnisch und religiös vielfältigen Irak als positiv anerkennen.

Infolge der Wahlen nahm die Gewalt vor allem zwischen Schiiten und Sunniten zu, und der von al-Qaida nahestehenden sunnitischen Extremisten im Februar 2006 verübte Anschlag auf eines der schiitischen Heiligtümer, die al-Askari Moschee in Samarra, markierte den Beginn schrankenloser, konfessionell begründeter Gewalt im Irak. Diese konnte erst eingedämmt werden, als die Besatzungsmacht und die Regierung Nuri al-Malikis sunnitischen Stammesführern finanzielle Angebote machte und sie in die Sicherheitsstrategien integrierte.

Nuri al-Maliki profitierte zunächst von dem Rückgang der Gewalt: Aus den Provinzratswahlen Anfang 2009 ging seine Allianz für den Rechtsstaat, die sich von ehemaligen Alliierten wie den Anhängern Muqtada al-Sadrs und dem Hohen Islamischen Rat im Irak getrennt und stattdessen mit weniger religiös-radikalen Kräften verbündet hatte, als Gewinnerin hervor. Als es jedoch bei den Parlamentswahlen im März 2010 keinen sunnitischen Boykott gab und regionale Akteure auf landesweite Repräsentanz setzten, verlor al-Maliki knapp gegen das vom arabisch-schiitischen Säkularisten Iyad al-Allawi geführte Bündnis al-Iraqiyya, in dem Vertreter diverser Konfessionen und politischer Einstellungen antraten. Trotz rhetorischer Bekenntnisse zu "Pluralismus" (ta'addudiyya) und "Konsens" (tawâfuqiyya) offenbaren auch politische Vertreter ehemals marginalisierter Gruppen Schwierigkeiten mit der ethnischen und religiösen Pluralität im Irak - und zwar immer dann, wenn es um materiellen Ressourcen, Revenuen und Macht geht.

Symbolisch stehen dafür die Provinz und die gleichnamige Stadt Kirkuk. In Kirkuk lebte nach den Volkszählungen von 1957 und 1977 neben einer arabischen, turkmenischen und christlichen Minderheit eine Mehrheit von Kurden. Da hier jedoch das zweitgrößte Erdölfeld des Irak liegt, betrieb das Baath-Regime ab Mitte der 1970er Jahre eine massive Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik gegenüber den Kurden und forcierte die Ansiedlung von Arabern. Laut aktuell geltender Verfassung des Irak sollte die Arabisierung durch Wiederansiedlung der vertriebenen Kurden rückgängig gemacht und durch Volkszählung und Referendum der Bewohner geklärt werden, ob die Provinz formal an die eigenständige Region Kurdistan angegliedert wird. Faktisch ist sie es bereits.

Allerdings blieben Volkszählung und Referendum bislang aus, und die Streitigkeiten gehen weiter. Vermittlungen externer Akteure wie der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) scheiterten an der wenig kompromissbereiten Haltung der kurdischen Regionalregierung in Erbil einerseits und Nuri al-Maliki in Bagdad sowie einer Reihe arabischer und turkmenischer Interessensgruppen andererseits.

Geht es um das Verhältnis von Regierung zu Provinzen und Regionen und die Zukunft eines Iraks im Geiste des Föderalismus, um den Abzug der Besatzungskräfte, das Verhältnis von Staat und Religion, oder die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, so verlaufen Konfliktlinien längst nicht einfach zwischen "den" Sunniten, Schiiten und Kurden. Vielmehr gibt es eine Reihe von Akteuren, die miteinander um politische Macht, die Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen oder die Einnahmen aus Ölgeschäften und ausländischen Investitionen ringen. Dazu gehören Parteien nationalistischer, säkularer, liberaler, kommunistischer, religiöser oder ethnisch-basierter Couleur, ferner religiöse Akteure mit politischem Gewicht wie Großajatollah Ali al-Sistani und die schiitischen Autoritäten (marja'iyya), außerdem tribale Führer und schließlich Interessenvertreter städtischer Eliten, die sich auf vormoderne wie moderne Formen sozialer Beziehungen stützen.

Partikularismus ist das herrschende Prinzip politischen Handelns, und die Akteure bedienen sich klassischer und neuer Medien, um ihre Politik zu bewerben und zu legitimieren. Die Identitätsangebote zielen darauf, den durch die Unsicherheit Gelenkten mehr Sinn und "Halt" zu verleihen.

Medienland Irak

Nach dem Jahr 2003 erlebte der Irak auch eine enorme Transformation der Medienlandschaft. Hatte es zuvor nur regimekonforme und Medien der Baath-Partei gegeben, schossen nun insbesondere Zeitungen wie Pilze aus dem Boden. Anders als in Kurdistan, wo seit 1991 die Parteien die Medien fest im Griff halten, trat in den anderen Teilen des Irak auch eine Reihe von Akteuren ohne Parteibindung in Erscheinung. Gab es in den ersten Monaten nach dem formalen Ende des Krieges nur fünf Tageszeitungen, wuchs die Zahl der Tages- und Wochenblätter auf 180 im Jahre 2006.

Jenes Jahr war zugleich aber auch, wie es der Chefredakteur der unabhängigen irakischen Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq Zuhair al-Jezairy ausdrückt, eine "Tragödie für die gesamten Medien und die Journalisten im Irak". Insgesamt 86 Reporter, Redakteure, Kameraleute, Techniker und andere Mitarbeiter starben durch gezielte Attentate, bei Anschlägen und nach Entführungen. Im folgenden Jahr starben weitere 79 Medienmitarbeiter. Selbst Zeitungsverteiler auf den Basaren gerieten in die Schusslinie. So erzählt der Chefredakteur der privaten Tageszeitung al-Sabah al-Jadid Ismail Zayer: "Bis Ende 2006 verloren wir durch die Gewalt der Schiiten und Sunniten zwölf junge Verteiler in Bagdad. Am Ende wollte keiner mehr mit uns arbeiten." Der Zeitungsmarkt brach in einigen Teilen des Landes vorübergehend ein, was vor allem die privaten Zeitungen und diejenigen kleinerer Gruppen traf. Zeitungen einflussreicher Parteien wurden ohnehin eher in den eigenen Strukturen und den (umgestalteten) Einrichtungen des Staates verteilt.

Die Gründung einer Zeitung erwies sich als ein beliebtes Projekt nicht nur von etablierten Parteien, sondern auch von politischen Führungskräften, die sich ein Privatblatt leisten und über dieses eigene politische Positionen verbreiten wollten, ohne von Beschlüssen der Führungsgremien abhängig zu sein. Hinzu kamen neue Zeitungsgründungen durch eine Reihe von Kulturschaffenden und Akademikern mit und ohne Exilhintergrund. Auch zivilgesellschaftliche Gruppen organisierten private Spenden und Zuwendungen von ausländischen Organisationen, um durch Zeitungen ihre Ideen zu verbreiten und ihre eigenen Aktivisten in der Medienarbeit zu trainieren. Neben Neugründungen kam es in der Vergangenheit aber auch zu vielen Schließungen aus politischen und finanziellen Gründen: durch die US-amerikanische Besatzung, die irakische und kurdische Regierung, örtliche Milizen oder einfach, weil den Betreibern das Geld ausging.

Reichweite von Presse

Dabei bleibt die Reichweite von Presse grundsätzlich aus mehreren Gründen beschränkt. Erstens, so regional die politischen Akteure verankert sind, so regional begrenzt ist die Zirkulation ihrer Zeitungen. Dies gilt auch für Blätter der irakischen Regierung wie die Tageszeitung al-Sabah. Diese vom Volumen her umfangreichste und mit etwa 20000 Stück auflagenstärkste Zeitung wurde 2003 vom Iraqi Media Network (IMN) gegründet. Das IMN wurde von der Koalitions-Übergangsverwaltung als eine Art öffentlich-rechtliche Anstalt errichtet - "auf den Trümmern des zerstörten Informationsministeriums".

Hauptzirkulationsgebiet von al-Sabah wie auch für viele andere Zeitungen ist die Hauptstadt Bagdad. In anderen, vor allem der kurdischen Region, wird sie jedoch wenig gelesen. So verkaufen lokale Händler im kurdischen Sulaimaniya täglich weniger als zehn Stück. Das mangelnde Interesse liegt weniger an der arabischen Sprache, die für Kurden eine Zweit- oder gar Fremdsprache ist. Vielmehr wird sich der Zeitung verweigert, weil sie ein Regierungsblatt ist. Die international vertriebene arabische Tageszeitung al-Sharq al-Awsat hingegen erfreut sich größerer Beliebtheit.

Zweitens ist die Reichweite von Zeitungen durch die Logik des Krieges eingeschränkt; wo geschossen wird, kann sich Presse kaum entwickeln. Drittens behindert lokal und regional durchgesetzte hegemoniale Gewalt einzelner politischer Akteursgruppen die Pressefreiheit; anders lautende Meinungen werden unterdrückt. Ein vierter Grund für die eingeschränkte Reichweite ist, dass statistisch gesehen 17,5 Prozent der irakischen Männer und Frauen über 15 Jahre Analphabeten sind. Zeitungen werden von der Mittelschicht für die Mittelschicht gemacht. Allerdings trägt die intensive Kommunikation von Menschen auf dem Basar, am Arbeitsplatz, der Universität sowie in Familie und Nachbarschaft zur (interpretativen) Verbreitung von gedruckten Nachrichten bei.

Geht es um aktuelle Informationen aus Politik und Gesellschaft, ist neben den etwa 80 lokalen und überregionalen Radiostationen das Fernsehen die Hauptquelle. Zusätzlich zu den lokalen TV-Sendern betreiben Parteien, mit Parteien verbundene oder unabhängige Privatleute sowie der irakische Staat insgesamt mehr als drei Dutzend Satelliten-Fernsehstationen. Die am meisten gesehenen irakischen Sender in Bagdad scheinen die privaten Sender al-Sharqiyya und al-Sumaria, der Regierungssender al-Iraqiyya sowie der US-amerikanisch finanzierte Sender al-Hurra zu sein. Ein Grund dafür mag die ausgewogene Verbindung von Information mit Unterhaltung sein. Geht es um Nachrichten ist für viele Iraker auch al-Jazeera eine wichtige Quelle.

In Kurdistan dominieren die Satellitensender der DPK und PUK, Kurdistan TV beziehungsweise Kurd Sat. Beide begannen mit der Ausstrahlung bereits Ende der 1990er Jahre. Außerdem sehen die Leute seit einigen Jahren auch den Satellitensender KNN, der zum Medienimperium ehemaliger PUK-Politiker und ihrer neu gegründeten Wahlplattform Goran (Wechsel bzw. Veränderung) gehört. Zur Unterhaltung schalten Araber wie Kurden allerdings oft lieber auf internationale und arabische Musik- und Filmsender.

Wie auch anderenorts nahm in den vergangenen Jahren das Internet an Bedeutung zu. Die Iraker holten schnell nach, was ihnen - mit Ausnahme Kurdistans - vor 2003 verwehrt war. Wie viele von Irakern betriebene Webseiten und Blogs existieren, lässt sich schwer erfassen. Das Internet als Informationsquelle und Kommunikationsort nützt jedoch eher den Lese- und Schreibkundigen und vor allem den jungen Leuten. Durch die unzureichende Stromversorgung und noch unterentwickelte Infrastruktur von Providern ist der Zugang zum Netz im gesamten Land eingeschränkt.

Das Klima von Gewalt und Krieg machte insbesondere die News-Ticker zu einem wichtigen Teil von Strategien des Überlebens. Denn, so Zuhair al-Jezairy, "der Nachrichten entsprechend muss ich entscheiden, ob ich meine Kinder zur Schule schicke oder nicht, ob ich einkaufen gehe oder nicht, oder ob ich von einer Minute zur nächsten in einen anderen Raum meines Hauses gehen soll. Zeitungen hingegen sind eine Art Geschichte".

Identitätspolitische Strategien in den Medien

Ethno-konfessionell basierte Parteien machen ethno-konfessionelle Medien und nutzen diese für die Verbreitung von spezifischen Ordnungsvorstellungen. Das hat Ibrahim al-Marashi für den Irak anhand des Satellitenfernsehens bereits festgestellt.

Sprachregelungen:

Al-Marashi zeigt, wie politische Einstellungen Sprachregelungen diktieren. So weist er darauf hin, dass im Fernsehen von Akteuren, die den Krieg im Jahr 2003 befürworteten beziehungsweise sich mit der Besatzung arrangierten, US-Soldaten und ihre Verbündeten neutral als "Koalition" oder "multinationale Kräfte" bezeichnet werden, während sie bei ihren Gegnern "Besatzer" heißen. Aufständische gegen die multinationalen Kräfte erhalten das Label "Terroristen", sterben jedoch Angehörige der neuen irakischen Sicherheitskräfte, sind sie "Märtyrer". Mit der Politik der Integration der Stämme und ehemaliger Aufständischer übernahmen Regierungs- und andere Medien allerdings die Bezeichnung "Outlaws" statt "Terroristen".

Sprachregelungen kennen aber auch diejenigen Akteure, die den ethno-konfessionell begründeten Konflikten und dem Nicht-Wissen der einen über die anderen entgegenwirken. So die Online-Nachrichtenagentur Aswat al-Iraq, die Seiten auf Arabisch, Kurdisch und Englisch betreibt: Politiker und andere Prominente werden in ihrer Funktion, jedoch ohne die für die jeweilige Bezugsgruppe wichtigen Ehrentitel wie "Exzellenz" genannt, "Märtyrer" und "Terroristen" gibt es nur in direkten Zitaten. Um den im fragmentierten Irak lebenden Menschen das Land näherzubringen, erhält der Leser als Nachtrag zu lokalen Nachrichten und Berichten geographische Informationen. Zahlreiche Medien nutzen Aswat al-Iraq als Quelle, aber die Mission der Verständigung kommt kaum an.

Symbole und Bilder:

Irakische Medienproduzenten tendieren dazu, Begriffe, Symbole und Bilder einzusetzen, um an Gruppenidentitäten zu erinnern und diese zu bestätigen. Das beginnt beim Namen und Logo und setzt sich fort über präferierte Archivfotos, Perspektiveneinstellungen und das Datum. Auf Zeitungen beispielsweise finden sich oft mehrere Datumsangaben: arabischsprachig nach Gregorianischem Kalender, kombiniert mit einer entsprechenden englischsprachigen Übersetzung oder dem Datum nach dem islamischen Kalender. Die DPK-Tageszeitung Xebat präsentiert außer dem "westlichen" und "islamischen" Datum noch ein drittes nach dem kurdischen Kalender, das im Jahre 700 v.u.Z. beginnt.

Sprache:

Auch wird auf die feine Sprache von Wort und Bild geachtet. So ist es kein Zufall, dass die DPK-Medien stets von "föderaler Regierung" sprechen, während Parteien arabischer Interessengruppen "irakische Regierung" und "Zentralregierung" bevorzugen. Vielmehr wird durch die Wortwahl die Präferenz zu einer bestimmten Staatsform unterstrichen. Während Föderalismus für die meisten arabischen Akteure eher uninteressant oder bedrohlich ist, sind die kurdischen Parteien unter anderem aus Gründen erlebter Verfolgung ganz besonders daran interessiert, es nie wieder mit einem Zentralstaat Irak zu tun zu haben.

Differenzierung:

Nimmt man die Zeitungen genauer in den Blick, treten drei identitätspolitsche Strategien besonders hervor: Erstens üben sich die Medienmacher in etwas, das in den Geistes- und Sozialwissenschaften Othering genannt wird; das heißt eine Differenzierung der vorgestellten eigenen Gruppe von einer anderen, um die eigene Gruppe positiv abzusetzen. So geistern beispielsweise in kurdischen Zeitungen Stereotype vom "Araber" herum, und ein "guter Araber" ist eigentlich nur, wer die kurdische Sache unterstützt. Obwohl es sich in der arabischen Presse vielerorts durchgesetzt hat, von "Region Kurdistan" statt "Norden des Irak" zu schreiben und damit eben auch die arabischen Leser an die neue Realität gewöhnt werden sollen, ist der "beste Kurde" immer noch derjenige, der für die "irakische Nation" eintritt.

Mythologie:

Zweitens erinnern insbesondere Parteizeitungen immer wieder an die Vergangenheit beziehungsweise an jene Ereignisse und Personen, die in der eigenen Mythologie einen besonders hohen Stellenwert einnehmen. "Geflossenes Blut" ist dabei ein zentrales Motiv. Zum Beispiel ist in der DPK-Zeitung Xebat jeden Tag auf einer der Seiten für "Innenpolitische Nachrichten" (auf denen ausschließlich Nachrichten aus Kurdistan verbreitet werden) der farblich abgesetzte Mahnspruch zu lesen: "Jetzt, da du unter dem Schutz der Freiheit Kurdistans arbeitest, sollst du an das Blut und die Mühen der Märtyrer denken". Diese Zeile stammt von Chefredakteur Nazhad Surme, der überzeugt ist, dass trotz modernerer Kommunikationsmittel das Medium Zeitung nicht überholt sei, denn "Zeitungen sind Dokumente".

In der Regierungszeitung al-Sabah erfolgen Bez Rechtsstaat (dawlat al-qanûn) war gleichzeitig auch der Name der von Nuri al-Maliki geführten Allianz.

Legitimation durch Wissenschaft:

Eine weitere identitätspolitische Strategie besteht schließlich darin, mittels Wissenschaft neue und alte Bedeutung zu legitimieren. So erklären oder bezeugen irakische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die kulturelle, wirtschaftliche oder politische Überlegenheit beispielsweise der Kurden gegenüber den Arabern und umgekehrt, oder sie unterstützen Argumentationen um historische Ansprüche auf Territorium und Güter. Außerdem erfreuen sich Umfragen zu politischen Themen, präsentiert in bunten Diagrammen, immer größerer Beliebtheit. Wissenschaft kommt aber auch ins Spiel, wenn es um Identitätsangebote geht, die nicht ganz oben auf der Agenda ethno-konfessioneller und religiöser Parteien stehen, wie zum Beispiel Ungerechtigkeiten auf der Basis von Geschlecht und Klasse oder aber Konzepte von Bürger- und Zivilgesellschaft. Hier sind es vor allem "westliche" Wissenschaftler und Philosophen, derer sich in den Argumentationen bedient wird.

Zeitungen und Identität

Dass es Dank des Fernsehens weniger Bedarf gibt an gedruckten Pressemeldungen, die Fragen beantworten wie "wer traf wen", "was sagte wer" oder "wo wurde geschossen", heißt nicht, dass sich das Zeitungsgeschäft erledigt hat. Im Gegenteil: So hat sich die im Januar 2006 erstmals erschienene unabhängige kurdische Wochenzeitung Awêne auf Korruption und Misswirtschaft in der Region Kurdistan spezialisiert. Der Chefredakteur Shiwan Mihemmed, ein ehemaliger Kommunist, stand bislang mehrmals vor Gericht, weil sich die herrschende Elite ungern kritisieren lässt. In der Zeitung bilden außerdem Nachrichten über "Ehrenmorde" und Selbstverbrennungen von Frauen quasi eine eigene kleine Rubrik.

All das wirkt ebenfalls auf Vorstellungen davon ein, wer wir sind, was wir sein wollen und wie wir uns von anderen abgrenzen. Allerdings heißt das nicht, dass Awêne weniger kurdisch-nationalistisch ist als die DPK- und PUK-Zeitungen. Nicht von ungefähr hat die Zeitung eine ständige Themenseite "Kirkuk". Diese ist nicht nur Ausdruck von kurdischem Patriotismus. Vielmehr herrscht in der Region Kurdistan das konsensuale Gesetz, dass, wer gehört oder gewählt werden will, in der Kirkuk-Frage Engagement demonstrieren muss. Ein Ausbruch aus alten Mustern ist noch nicht in Sicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Jahresberichte auf der Webseite des Iraq Body Count, online: www.iraqbodycount.org (13.4.2010).

  2. Zu Unklarheiten hinsichtlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit vgl. Article 19 - Global Campaign for Free Expression, Free Speech in Iraq: Recent Developments, London 2007.

  3. Vgl. Nuri Talabani, Die Region Kirkuk und Versuche der Veränderung seiner nationalen Realität, o.O. 1999, S. 81 (arabisch).

  4. Vgl. International Crisis Group, Iraq and the Kurds: Trouble along the Trigger Line, Middle East Report Nr. 88 vom 8.7.2009, online: www.crisisgroup.org/~/media/Files/Middle%20East%20North%20Africa/Iraq%20Syria%20Lebanon/Iraq/88_iraq_and_the_kurds___trouble_along_the_trigger_line.ashx (13.4.2010).

  5. Vgl. Zuhair al-Jezairy, The Iraqi Press: The Heritage of the Past and the Challenges of the Future, International Media Support, Oktober 2006, online: http://portal.unesco.org/ci/en/files/23828/116870779611099_Iraqi_report.pdf/1099%2BIraqi_report.pdf (13.4.2010).

  6. Interview der Autorin mit Zuhair al-Jezairy in Sulaimaniya/Irak am 7.10.2009.

  7. Interview der Autorin mit Ismail Zayer in Erbil/Irak am 11.10.2009.

  8. Vgl. Interview mit Z. al-Jezairy (Anm. 6).

  9. Anja Wollenberger, Die Meinungsmacher und ihre Widersacher. Entwicklung und Status der Medienproduktion im Irak nach 2003, online: www.mict-international.org/pdf/Wollenberg_MedienentwicklungIRQ.pdf (13.4.2010).

  10. Vgl. United Nations World Food Programme et al. (eds.), Comprehensive Food Security & Vulnerability Analysis (CFSVA), Bagdad 2008, S. 30.

  11. Vgl. A. Wollenberger (Anm. 9).

  12. Vgl. Media in Cooperation and Transition, Media on the Move: A Reader on Iraqi Media and Media Law, Friedrich Ebert Stiftung, Amman 2007.

  13. Vgl. Anna Zayer, What do Iraqis watch on TV? The Story of 600 Diary Keepers, in: ebd., S. 6ff.

  14. Vgl. Interview mit Z. al-Jezairy (Anm. 6).

  15. Vgl. Ibrahim al-Marashi, The Dynamics of Iraq's Media: Ethno-Sectarian Violence, Political Islam, Public Advocacy and Globalization, Budapest 2007, online: www.policy.hu/document/200808/al_marashi.pdf&letoltes=1 (13.4.2010).

  16. So in einem Interview der Autorin mit Nazhad Surme in Erbil/Irak am 12.10.2009.

  17. Falah al-Mashaal in: al-Sabah vom 24.2.2009.

Dr. phil., geb. 1971; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich "Repräsentationen sozialer Ordnung im Wandel" an der Humboldt Universität zu Berlin, Mohrenstraße 40-41, 10117 Berlin. E-Mail Link: fischeta@cms.hu-berlin.de